Rat der EU

Rat der EU
Logo des Rates der Europäischen Union
Ratsgebäude (Justus-Lipsius-Gebäude) in Brüssel

Der Rat der Europäischen Union, umgangssprachlich auch als (EU-) Ministerrat bezeichnet, ist das wichtigste Entscheidungsorgan der Europäischen Union. Der Rat ist Teil des politischen Systems der EU. Er setzt sich aus den Vertretern jedes Mitgliedstaats auf Ministerebene zusammen.[1] Je nach behandeltem Thema kommen die Vertreter unterschiedlicher Ressorts zusammen. Sitz des Rats ist das Consilium, das Justus-Lipsius-Gebäude in Brüssel; in den Monaten April, Juni und Oktober tagt dieser in Luxemburg.

Der Rat nimmt zusammen mit dem Europäischen Parlament Rechtsetzungsbefugnisse im Rahmen der EU wahr (Sekundärrecht), ist also Teil der Legislative. Seine Mitglieder sind in ihren Mitgliedstaaten jedoch Teil der nationalen Regierungen, also der Exekutive. Dies ist ein Beispiel für Exekutivföderalismus. Kritiker sehen darin jedoch einen Widerspruch zum Prinzip der Gewaltenteilung und einen Grund für das Demokratiedefizit der EU.

Die Funktionsweise des Rats ist im EG-Vertrag geregelt.[2] Formal ist er damit ein Organ der Europäischen Gemeinschaft (1. Säule). Im Wege der Organleihe wird er jedoch auch für die Politikbereiche Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik und Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen tätig, die im EU-Vertrag geregelt sind. In den Verträgen selbst wird der Rat nur als Rat bezeichnet. Um ihn jedoch von anderen Institutionen mit ähnlichem Namen zu unterscheiden, hatte sich der Name Rat der Europäischen Gemeinschaften eingebürgert. Seit der Gründung der Europäischen Union mit dem Vertrag von Maastricht 1992 ist die Bezeichnung Rat der Europäischen Union gebräuchlich.

Inhaltsverzeichnis

Organisation

Der Rat ist ein einheitliches Organ, tagt aber aufgrund der unterschiedlichen Politikbereiche in unterschiedlichen Zusammensetzungen - den sogenannten Ratsformationen, bei denen jeweils die Minister unterschiedlicher Ressorts zusammentreffen. Bis Juni 2000 tagte der Rat zeitweise in 20 Zusammensetzungen. Danach wurde die Zahl zunächst auf 16, im Juni 2002 weiter auf neun reduziert. Jede Formation setzt sich aus je einem Vertreter jedes Mitgliedstaats auf Ministerebene zusammen. Diese Vertreter sind nach Art. 203 EG-Vertrag befugt, jeweils für ihre Regierung verbindlich zu handeln. Deshalb können föderal verfasste Mitgliedstaaten auch Minister der subnationalen Ebene in die Ratssitzungen entsenden.

Auf Botschafterebene werden die verschiedenen Formationen vom Ausschuss der Ständigen Vertreter (AStV) vorbereitet, einem Gremium der ständigen Vertreter der Mitgliedstaaten bei der EU. Der AStV gilt als eine zentrale Koordinationsinstanz zwischen den Mitgliedsstaaten im Rat. Er ist aufgeteilt in AStV I (in der Regel binnenmarktrelevante Themen) und AStV II (vertragsrelevante, außenpolitische und finanzpolitische Themen). Daneben hat der Rat für Landwirtschaft und Fischerei ein eigenes vorbereitendes Komitee, den Sonderausschuss Landwirtschaft (SAL).

Im Einzelnen handelt es sich bei den neun Ratsformationen um die folgenden:

Bezeichnung Abkürzung Vorbereitet von
Rat für Allgemeine Angelegenheiten und Außenbeziehungen RAA/AB (engl. GAERC) AStV II
Rat für Wirtschaft und Finanzen ECOFIN AStV II
Rat Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres JHA AStV II
Rat Beschäftigung, Sozialpolitik, Gesundheit und Verbraucherschutz BeSoGeKo (engl. EPSCO) AStV I
Rat für Wettbewerbsfähigkeit WBF AStV I
Rat Umwelt AStV I
Rat Bildung, Jugend und Kultur EYC AStV I
Rat Verkehr, Telekommunikation und Energie TTE AStV I
Rat für Landwirtschaft und Fischerei SAL

Für bestimmte, im EG-Vertrag genannte Entscheidungen (etwa die Wahl des Kommissionspräsidenten) tagt der Rat auch in der Zusammensetzung der Staats- und Regierungschefs; er entspricht dann in der Zusammensetzung dem Europäischen Rat. Während allerdings der Europäische Rat grundsätzlich im Konsens, also einstimmig, entscheidet, gelten für den Rat die jeweils im EG- oder EU-Vertrag vorgesehenen Abstimmungsregeln (siehe unten).

Die Ratsformationen treten in der Regel zweimal pro Ratspräsidentschaft, also alle drei Monate, zusammen. Der Allgemeine Rat, der Rat für Landwirtschaft und Fischerei und der Rat für Wirtschaft und Finanzen tagen häufiger, teilweise monatlich.

Für Verwaltungs- und Übersetzungstätigkeiten verfügt der Rat über ein Generalsekretariat mit ca. 2.500 Mitarbeitern. Der Generalsekretär des Rats nimmt dabei laut EU-Vertrag zugleich auch das Amt des Hohen Vertreters für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik ein. Seit 1999 ist dies der Spanier Javier Solana.

Nähere Regelungen zur Organisation enthält die Geschäftsordnung des Rates der Europäischen Union.

Stimmenverteilung

Je nachdem, in welchen Politikbereich die Vorlagen fallen, über die der Rat entscheidet, sieht der EG-Vertrag verschiedene Abstimmungsverfahren vor. In reinen Verfahrensfragen beschließt der Rat meist mit einfacher Mehrheit seiner Mitglieder. Bei Fragen, denen die Mitgliedstaaten eine hohe strategische Bedeutung zumessen – etwa in der Außen- und Sicherheitspolitik und der Zusammenarbeit in Strafsachen – beschließt der Rat einstimmig. Für die meisten Politikbereiche jedoch gilt seit Inkrafttreten des Vertrages von Nizza ein Verfahren der qualifizierten Mehrheit.

Für dieses qualifizierte Mehrheitsverfahren werden jedem Mitgliedstaat durch den EG-Vertrag eine bestimmte Anzahl an Stimmen zugewiesen, die von 3 (Malta) bis 29 (Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien) reichen. Für die Verabschiedung eines Rechtsakts sind dann sowohl eine einfache Mehrheit der Mitgliedstaaten als auch eine Mehrheit von 255 der 345 Stimmen notwendig. Auf Antrag eines Mitgliedstaates muss darüber hinaus festgestellt werden, ob die zustimmenden Mitgliedstaaten mindestens 62 Prozent der EU-Bevölkerung umfassen.

Die Stimmenverteilung richtet sich grob nach der Bevölkerungszahl der Mitgliedstaaten, wobei jedoch die kleinen Staaten proportional bevorzugt sind (sog. degressive Proportionalität).

Stimmen Länder
3 Malta
4 Luxemburg, Zypern, Estland, Slowenien, Lettland
7 Litauen, Irland, Finnland, Dänemark, Slowakei
10 Österreich, Schweden, Bulgarien
12 Portugal, Ungarn, Belgien, Tschechien, Griechenland
13 Niederlande
14 Rumänien
27 Polen, Spanien
29 Italien, Frankreich, Großbritannien, Deutschland

Durch den Vertrag von Lissabon, der noch nicht von allen Mitgliedstaaten ratifiziert wurde, soll das derzeitige System der qualifizierten Mehrheit ab 2014 durch ein Verfahren der doppelten Mehrheit ersetzt werden. Dabei entfällt die Gewichtung der Mitglieder nach Stimmen. Stattdessen sollen für eine Entscheidung grundsätzlich 55 Prozent der Mitgliedstaaten notwendig sein, die zugleich mindestens 65 Prozent der EU-Bevölkerung repräsentieren müssen.

Ratspräsidentschaft

Siehe Hauptartikel: Präsident des Rats der Europäischen Union

Die Ratspräsidentschaft wird von einem Mitgliedstaat der EG wahrgenommen und wechselt halbjährlich. Am 12. Dezember 2005 hat der Rat der Europäischen Union die Reihenfolge für die Wahrnehmung des Vorsitzes im Rat bis 2018 festgelegt.[3] Den Vorsitz in den einzelnen Ratssitzungen führen die Fachminister oder andere, besonders ernannte Vertreter aus dem Mitgliedstaat, der die jeweilige Ratspräsidentschaft ausübt.

Seit 2007 wird der Vorsitz im Rat in Form einer sogenannten Triopräsidentschaft jeweils für einen Zeitraum von 18 Monaten von einer Gruppe von jeweils drei Mitgliedsländern ausgeübt. Dabei nimmt weiterhin jeweils ein Staat für sechs Monate den Vorsitz ein, die drei Staaten präsentieren aber ein gemeinsames Programm und können einander auch beim Vorsitz einzelner Ratssitzungen vertreten. Im – noch nicht ratifizierten – Vertrag von Lissabon soll dieses Modell der Triopräsidentschaft auch vertraglich festgeschrieben werden.

Kritikpunkte

Transparenz

Wesentliche Merkmale im Mittelpunkt der Diskussionen um die Transparenz des Rats sind die Öffentlichkeit oder Geheimhaltung der Sitzungen sowie der Zugang zu den Sitzungsprotokollen.

Nachdem der Rat am 6. Dezember 1993 seine Geschäftsordnung geändert hat, gilt: In der Regel berät der Rat unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Nur bestimmte Beratungen sind öffentlich (z.B. zum Halbjahresprogramm des Vorsitzes oder Abstimmungen über Rechtsakte). Die Tagungen des Rates unter Ausschluss der Öffentlichkeit haben jedoch den Vorteil, dass man leichter Kompromisse erzielen kann, als dies bei öffentlichen Beratungen der Fall wäre. Es ist für einen Mitgliedstaat insofern leichter nachzugeben, ohne dabei das Gesicht zu verlieren.

Für die Veröffentlichung der Abstimmungsergebnisse und der Abstimmungserklärungen der Mitgliedstaaten hat der Rat am 2. Oktober 1995 einen Verhaltenskodex angenommen, der eine Veröffentlichung dann vorsieht, wenn der Rat als Gesetzgeber tätig geworden ist. Die Modalitäten der Veröffentlichung wurden vom Ausschuss der ständigen Vertreter in einem Bericht vom 8. November 1995 festgelegt; hierbei erlauben die aktuellen Bestimmungen der Geschäftsordnung ein Zurückhalten von Sitzungsprotokollen mit der Begründung, dass sich das auf laufende Entscheidungsprozesse auswirken kann. Der – noch nicht ratifizierte – Vertrag von Lissabon sieht dagegen vor, dass der Rat grundsätzlich öffentlich tagt, wenn er als Gesetzgeber tätig wird.

Abstimmungsverfahren

Sitz des EG-Ministerrats in Brüssel 1975.

Ein anderer Kritikpunkt ist das Abstimmungsverfahren nach dem Vertrag von Nizza, das als wenig transparent und kompliziert gerügt wird. So wird im Rat nicht nach dem Prinzip „ein Staat, eine Stimme“ abgestimmt, sondern eine Gewichtung nach Einwohnerzahl der Staaten durchgeführt. Diese Gewichtung ist jedoch nicht proportional: Beispielsweise haben die sechs bevölkerungsstärksten Staaten zwar 74 % der Einwohner, aber nur etwas mehr als 50 % der Stimmen im Rat. Sollte etwa eine Parität erreicht werden, die sich an der Einwohnerzahl ausrichtet, so müsste beispielsweise die Bundesrepublik Deutschland im Vergleich mit der Slowakei viermal mehr Stimmen besitzen als jetzt. Der Vertrag von Lissabon sieht daher als neuen Abstimmungsmodus die „doppelte Mehrheit“ vor, wonach für jede Entscheidung sowohl eine Mehrheit der Staaten als auch der Einwohner notwendig ist.

Literatur

  • Rat der Europäischen Union (Hrsg.): Einführung in den Rat der Europäischen Union. Brüssel 2008. ISBN 978-92-824-2278-6.
  • Sven von Alemann: Der Rat der Europäischen Union: Seine Stellung im institutionellen Gefüge des europäischen Mehrebenensystems und sein Beitrag zur demokratischen Legitimation der Europäischen Union. Köln, München: Carl Heymanns, 2009. ISBN 978-3-452-26973-7.
  • Martin Bauer: Politikberatung im Rat der Europäischen Union. In: Steffen Dagger, Michael Kambeck (Hrsg.): Politikberatung und Lobbying in Brüssel. Wiesbaden: VS-Verlag, 2007. S. 90–102. ISBN 978-3-531-15388-9.
  • Francis Cheneval: Legitimationsgrundlagen der Europäischen Union. Münster: LIT, 2005. ISBN 3-8258-8011-7.
  • Jan-Peter Hix: Das institutionelle System im Entwurf eines Vertrags über eine Verfassung für Europa. In: Jürgen Schwarze (Hrsg.): Der Verfassungsentwurf des Europäischen Konvents: Verfassungsrechtliche Grundstrukturen und wirtschaftsverfassungsrechtliches Konzept. Baden-Baden: Nomos, 2004. S. 75–100. ISBN 3-8329-0685-1.
  • Jakob Lempp: Macht „im“ Rat und Macht „des“ Rates: Eine Analyse des Machtgefüges im Rat und um den Rat der Europäischen Union. In: Werner J. Patzelt (Hrsg.): Parlamente und ihre Macht: Kategorien und Fallbeispiele institutioneller Analyse. Baden-Baden: Nomos, 2005. S. 115–144. ISBN 3-8329-1588-5.
  • Jakob Lempp: Die Evolution des Rats der Europäischen Union. Baden-Baden: Nomos, 2009. ISBN 978-3-8329-4277-9.

Einzelnachweise

  1. Art. 203, EG-Vertrag
  2. EG-Vertrag, Art. 7, Abs. 1 und Art. 202-210
  3. Beschluss des Rates vom 12. Dezember 2005 zur Festlegung der Reihenfolge für die Wahrnehmung des Vorsitzes im Rat (2005/902/EG, Euratom)

Weblinks


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