Religionsfreiheit in der Türkei

Religionsfreiheit in der Türkei
Die Hagia Sophia: Bis 1453 Kirche, dann Moschee, seit 1932 als Hagia-Sophia-Moschee-Museum ein Wahrzeichen Istanbuls

Die Türkei versteht sich als ein laizistischer Staat, dessen Bevölkerung sich ganz überwiegend zum Islam bekennt. Anders als etwa der französische Laizismus impliziert der türkische jedoch nicht eine absolute Trennung von Religion und Staat, sondern vielmehr eine staatliche Kontrolle der Religion. Eigenständige politische Einmischung der Religionsgemeinschaften ist unerwünscht. Daher steht die Hauptreligion, der sunnitische Islam, unter staatlicher Aufsicht.

Aus politisch-soziologischer Perspektive tritt der sunnitische Islam in drei Varianten auf: als Staatsislam, Volksislam sowie als politischer Islam (Islamismus).[1]

Der größte Teil der Muslime sind Sunniten, gefolgt von Aleviten, die jedoch in offiziellen Statistiken nicht eigens gezählt, sondern nominell als Muslime verzeichnet werden und deren Anteil unterschiedlich geschätzt wird (siehe unten). Zu den religiösen Minderheiten zählen weiterhin Christen verschiedener Konfessionen, Juden, Bahai, Jesiden u. a. Die Minderheitenpolitik der Türkei ist – gerade auch im Zusammenhang der Beitrittsverhandlungen der Türkei mit der Europäischen Union – politisch sehr umstritten.

Inhaltsverzeichnis

Geschichte

Die Region der heutigen Türkei blickt auf ca. 7000 Jahre Kultur- und Religionsgeschichte zurück. Als strategisch und wirtschaftlich bedeutsames Gebiet war sie vielfach Schauplatz von Völkerwanderungen, Eroberungen, politischen, wirtschaftlichen und religiösen Auseinandersetzungen, aber auch ein Zentrum von Philosophie, Theologie, Kunst und Kulturentwicklung.

Für das Christentum spielt sie historisch eine zentrale Rolle

Für den Islam spielt sie historisch eine zentrale Rolle

Frühe Hochkulturen

In unmittelbarer Nachbarschaft des Zweistromlandes, jedoch durch die Barriere des Antitaurusgebirges und seiner Ausläufer abgegrenzt, entwickelten sich in Kleinasien seit etwa 30.000 v. Chr. verschiedene eigenständige stein- und frühbronzezeitliche Kulturen, "die dann später von den um 2000 v. Chr. eingewanderten Hethitern zumindest in Zentral-Anatolien zu einer Einheit zusammengefasst worden sind."[3] Der ausgeprägte Götterkult der Hethiter, der sich in den zahlreichen Tempelbezirken ihrer ausgegrabenen Hauptstadt Hattuša spiegelt, greift in seiner Ikonographie lokale Kulte des 3. Jahrtausends, unter anderem der Hattier, wieder auf. In Schreinen wurden Götter verehrt, dargestellt durch Symbole oder Stelen.[4][5]

Die beiden wichtigsten Mythen hattischer Herkunft sind die kultischen Legenden von dem Fruchtbarkeitsgott Telipinu, der sich im Ärger in die Unterwelt zurückzieht und so das Land verdorren lässt, bis die Göttin Kamrušepa ihn besänftigt und wieder hervorholt; sowie von dem Kampf des Wettergottes mit dem Drachen Illuyanka, in dem dieser unterliegt und von anderen Göttern gerettet werden muss. Es gibt Hinweise darauf, dass diese Göttermythen in kultischen Riten schauspielerisch dargestellt wurden, indem die Menschen die Rolle der helfenden Gottheiten übernahmen.[4]

Frühes Christentum

Nach der Apostelgeschichte (Apg), einem Buch des Neuen Testaments, wurden die ersten christlichen Gemeinden auf dem Gebiet der heutigen Türkei von Gläubigen gegründet, die vor der Verfolgung durch Saulus bzw. Paulus aus Judäa flohen. Die Stadt Antiochia am Orontes (heute Antakya) wird ausdrücklich genannt[6]. Dort hin wurde Paulus gerufen, nachdem er sich nach seiner Bekehrung eine Zeitlang in seiner Geburtsstadt Tarsus aufgehalten hatte, die ebenfalls in der heutigen Türkei liegt.[7]

Mission des Apostels Paulus

Über den Apostel Paulus und seine Tätigkeit als Wanderprediger bzw. "Missionar" sind wir ausschließlich durch das Neue Testament (NT) unterrichtet, und zwar einerseits durch die Apostelgeschichte (Apg), deren zweite Hälfte sich fast ausschließlich mit Paulus beschäftigt, und durch die Briefe des Paulus, die im NT enthalten sind.

In der sogenannten „ersten Missionsreise“ besuchte Paulus zunächst Zypern, die Heimat seines Begleiters Barnabas.[8] Nach der Bekehrung das Statthalters der Insel, Sergius Paullus, reiste er in dessen Heimatstadt[9], Antiochia bei.[10] Pisidien (heute Yalvaç). Die Predigt des Paulus führte (wie oft in der Apg) zur Polarisierung und zur Verfolgung der Christen, weshalb Barnabas und Paulus nach Ikonium (heute Konya, Lystra und schließlich Derbe flohen und dort ebenfalls Gemeinden gründeten, bevor sie (über Antiochia bei Pisidien) nach Antiochia am Orontes zurückkehrten.

Im weiteren Verlauf der Apg wird das Wirken von Paulus im Inneren der Türkei nur summarisch geschildert.[11] Umstritten ist, wie der dabei benutzte Ausdruck „Galatien“ zu verstehen ist: während die meisten Theologen im deutschsprachigen Raum dies auf die Landschaft Galatien beziehen, macht Breytenbach[12] darauf aufmerksam, dass im angelsächsischen Raum die meisten Forscher davon ausgehen, dass damit die auf der „ersten Missionsreise“ besuchten Gebiete gemeint sind, die in der Provinz Galatien lagen.

Ein Argument für die „Provinzhypothese“ ist, dass sich nach ihr ergibt, dass Paulus in Apg 16,6-11 von Gott auf dem kürzesten Weg vom phrygischehn Teil Galatiens (d.h. Antiochia bei Pisidien) nach Makedonien (Philippi) geführt wird, während sich nach der „Landschaftshypothese“ ein merkwürdiger Zickzackkurs ergibt. – Auf jeden Fall kommt Paulus dabei auch nach Troas (Troja)[13], wo später[14] eine christliche Gemeinde erwähnt wird.

Nach der Apostelgeschichte hat Paulus – was das Gebiet der heutigen Türkei betrifft – vor allem in Ephesus gewirkt[15], insgesamt „drei Jahre“ (was nach der damaligen Zählmethode 1-3 Jahren entspricht). Nach dem (unvermeidlichen) Konflikt mit den Juden predigte er in einem angemieteten Saal, und war so erfolgreich, dass er auch heidnische Reaktionen hervorrief: die Silberschmiede, die vor allem silberne Abbilder des Tempels der Artemis verkauften, organisierten eine „Demonstration“, die in tumultartigen Ausschreitungen und einer chaotischen „Volksversammlung“ endete.

Das Wirken des Paulus in Ephesus (bzw. in der Provinz „Asia“, deren Hauptstadt Ephesus war,) ist auch in seinen Briefen bezeugt: es wird mehrmals erwähnt[16], außerdem gibt es einen Brief an die Epheser und einen Brief nach Kolossä, der an eine Gemeinde gerichtet ist, die wohl von Ephesus aus gegründet wurde.

Byzantinisches Reich

Im Byzantinischen Reich hatte das Christentum des Byzantinischen Ritus auf heutigem türkischen Territorium seinen Höhepunkt.

Osmanisches Reich

Staatsreligion war im Osmanischen Reich der Islam. Im Verhältnis zwischen offiziellem Islam und dem im Volk verbreiteten Glaubensformen des Sufismus kam es gelegentlich zu Spannungen. Der Sufismus in der Türkei verbreitete sich etwa ab dem 10. Jahrhundert, bis zum 15. Jahrhundert waren mystische Praktiken von Sufi-Orden im gesamten Reichsgebiet verbreitet. Am bekanntesten wurde der Mevlevi-Orden von Konya.

Im Osmanischen Reich war die Religionsfreiheit für Christen und Juden anfangs gewährleistet. Dem Millet-System nach durften sie ihre Angelegenheiten selber regeln. Doch Ende des 19. Jahrhunderts und Anfang des 20. Jahrhundertser kam es zu dem Völkermord an den Armeniern und an den Völkermord an den Aramäern, welche christlich waren. Auch Juden waren davon nebenbei betroffen.

Die Republik

Das Verhältnis des Staates zur islamischen Religion hat sich grundlegend geändert. Es erfolgte eine strikte Trennung von Religion und Staat und der Laizismus wurde eingeführt. Allerdings kontrollierten die Kemalisten unter Mustafa Kemal Atatürk den Islam.

Durch den Vertrag von Lausanne von 1923 erhielten die Christen und Juden in der Türkischen Republik ihre Kollektivrechte.

Religiöse Zusammensetzung der Bevölkerung

Rund 99 Prozent der türkischen Bevölkerung sind – zumindest nominell – Muslime, darunter ein Anteil Aleviten, über den es unterschiedliche Schätzungen gibt. Diese reichen von 15 % bis zu einem Drittel der türkischen Muslime, meist zwischen 15 und 25 %.[17] Außerdem leben in der Türkei ca. 0,2 % Christen (125.000) (neue Studie von 2006) und etwa 0,04 % Juden (23.000). Die größte Gruppe unter den Christen bilden die etwa 65.000 Angehörigen der Armenischen Apostolischen Kirche und der Armenisch-Katholischen Kirche. Dazu kommen ungefähr 2000 griechisch-orthodoxe Christen (die überwiegend in İstanbul leben) und schätzungsweise 2000 syrisch-orthodoxe, syrisch-katholische und chaldäisch-katholische Christen (siehe auch: Aramäer in der Türkei). Zu Beginn des 20. Jahrhunderts lebten noch etwa 20% Christen auf dem Gebiet der heutigen Türkei.

Istanbul ist Sitz des ökumenischen Patriarchats von Konstantinopel, das den ersten Ehrenrang innerhalb der orthodoxen Kirche einnimmt, von der türkischen Regierung in dieser Position aber nicht anerkannt wird. Ferner residiert in İstanbul der Patriarch von Konstantinopel der armenisch-apostolischen Kirche.

Eine weitere religiöse Minderheit sind die Yezidi, eine synkretistischen Religionsgemeinschaft mit Elementen aus allen orientalischen Religionen wie dem Mithraismus,Zoroastrismus, Manichäismus, Judentum und dem Christentum. Ethnisch sind die Yezidi den Kurden zuzurechnen. Sie bewohnen noch einige Dörfer in Südostanatolien. Bedingt durch ihre Religionszugehörigkeit waren die Yezidi in ihrer Geschichte vielfach Verfolgungen durch ihre muslimische Nachbarn ausgesetzt. In der heutigen Türkei nehmen sie durch ihre ethnische und religiöse Zugehörigkeit eine doppelte Außenseiterposition ein und hatten und haben mit Diskriminierungen zu kämpfen. Vielfach werden die Yeziden irrtümlich auch als „Teufelsanbeter“ (Şeytana tapan) bezeichnet. Eine staatlich gelenkte Verfolgung findet nicht mehr statt. Die meisten Yezidi sind jedoch in den letzten Jahrzehnten nach Europa ausgewandert.

Jeder Einwohner der Türkei gilt automatisch als Muslim, sofern er nicht explizit einer anderen Religion zugeordnet wird. Einen formalen Austritt aus der muslimischen Gemeinde gibt es nicht, so dass auch Konfessionslose offiziell als Muslime geführt werden. Die Zahl der Atheisten und Agnostiker in der Türkei ist daher nicht bekannt.

Verhältnis von Staat und Religion in der Türkei

Das Prinzip des Laizismus in der Türkei schreibt eine strenge Trennung von Religion und Staat vor, faktisch jedoch eine strikte Unterordnung der Religion unter den Staat. Artikel 24 der Verfassung von 1982 beschränkt die Glaubensfreiheit auf das Individuum. Religionsgemeinschaften können aus diesem Abschnitt der Verfassung keine Rechte geltend machen.

Präsidium für Religionsangelegenheiten

Hauptartikel: Diyanet İşleri Başkanlığı

Die privilegierte Religion der Türkei ist der sunnitische Staatsislam. Die sunnitischen Einrichtungen werden vom staatlichen Diyanet İşleri Başkanlığı, dem Präsidium für Religionsangelegenheiten, verwaltet. Es beschäftigt ca. 88.000 Angestellte – Vorbeter, Prediger, Gebetsrufer und islamische Rechtsgelehrte und regelt deren Ausbildung, bezahlt und erhält über 70.000 Moscheen, überwacht die religiöse Literatur und gibt landesweit den Inhalt der zu haltenden Predigten vor.[1] Ebenso ist es zuständig für die knapp 900 sogenannten Religionsbeauftragten (Imame) an den DITIB-Moscheen in Deutschland. Das "Diyanet" kümmert sich jedoch nur um die Entsendung von Vorbetern und Religionsbeauftragten an die Moscheen. Es errichtet keine Moscheen, ebenso wenig wie alevitische Cem-Gebetshäuser. Letztere sind nicht gleichgestellt mit den herkömmlichen Moscheen, sondern entsprechen den christlichen Ordenshäusern, die ihre Leitungsstrukturen selbst organisieren.

Der politische Islam

Der politische Islam in der Türkei bildet eine Gegenbewegung zum kemalistischen Staatsislam und ist historisch mit den Namen Mehmet Zahid Kotku und Necmettin Erbakan verbunden. Er hat verschiedene politische Parteien hervorgebracht, die den Laizismus in Frage stellten und daher z. T. verboten wurden. Zunächst war er eher eine religiös-traditionalistische Bewegung, die einen stärkeren Einfluss des Islam auf Politik und Gesellschaft forderte. In jüngerer Zeit besetzte ein Reformflügel zunehmend soziale und wirtschaftliche Themen und konnte so große Teile der Bevölkerung für sich gewinnen.[1] Ein gemäßigte Variante des politischen Islam vertritt der derzeit regierende Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan.

Noch immer findet jedoch ein gesellschaftlicher Machtkampf zwischen Kemalismus und politischem Islam statt, der sich u. a. in Symboldiskussionen äußert: "Ihren sichtbaren Ausdruck findet die Auseinandersetzung um die Rolle des Islam in der türkischen Gesellschaft heutzutage in der Diskussion um das Tragen des Kopftuchs."[1] Weitere Konfliktlinien in Sachen Laizismus zeigen sich zwischen der Armeeführung und der Regierung unter Ministerpräsident Erdoğan.

Rechte der religiösen Minderheiten

Die Auseinandersetzung zwischen Staatsislam und politischem Islam beeinflusst auch die Situation der religiösen Minderheiten in der Türkei. Aus Angst vor islamistischem Machtzuwachs zögert der Staat, den nichtmuslimischen Religionsgemeinschaften institutionelle Rechte zuzugestehen.[18]

Den Juden sowie den orthodoxen und den armenischen Christen wird nach dem Vertrag von Lausanne Minderheitenschutz gewährt. Christlichen Gemeinden ist es erlaubt, eigene Schulen zu betreiben. Sie dürfen jedoch keinen Priesternachwuchs für die Betreuung und Seelsorge der christlichen Türken ausbilden. Zudem bleiben die vor über 35 Jahren durch den türkischen Staat geschlossenen christlichen Seminare weiterhin geschlossen.

Nicht unter die Bestimmungen des Lausanner Vertrags fallen allerdings die syrisch-orthodoxen Christen Südostanatoliens (Tur Abdin). Die fast ausschließlich aus Ausländern bestehenden protestantischen und katholischen Gemeinschaften dürfen kein Eigentum erwerben, wurden in den letzten Jahren zunehmend enteignet und dürfen genau wie Sekten und verschiedene islamische Gruppierungen keine offiziellen Gemeinden bilden.

In der Türkei ist zumindest die freie Religionswahl erlaubt. Christen werden allerdings trotzdem weiterhin diskriminiert. In den EU-Beitrittsgesprächen ist dieses Problem gegenüber Ankara wiederholt angesprochen worden. Eine Lösung aber ist nicht in Sicht. So besitzen Kirchen in der Türkei keinen Rechtsstatus, können also keine Rechtsgeschäfte tätigen. Kirchen dürfen ihr Personal nicht selbst ausbilden, und immer wieder wird ihr Eigentum entschädigungslos enteignet. [19]

Die im Zitat geschilderte desolate Lage der Christen und Juden wird von Menschrechtsorganisationen wie Amnesty International und der Gesellschaft für bedrohte Völker bestätigt. Die EU drängt die Türkei auf rasche Verbesserungen.[20][21][22]

In Alanya ist jedoch vor kurzem die Einrichtung offizieller katholischer und evangelischer Seelsorge gestattet worden, um dem Bedarf der Urlauber entgegenzukommen. Vor allem seit sich europäische Rentner teilweise dort dauerhaft oder doch für mehrere Monate im Jahr niederlassen, entstand hier ein Bedarf, der sich mit den bisher üblichen rechtlichen Konstrukten (Seelsorger sind offiziell Botschaftsangehörige, Firmenteilhaber etc.) nicht mehr decken ließ.

Im Personalausweis gibt es eine Rubrik für die Religionszugehörigkeit, die Eintragung darin ist jedoch freiwillig, frei wählbar und jederzeit änderbar, falls der Inhaber dies möchte.

Schwierigkeiten der religiösen Minderheiten

Historische Verbrechen

Völkermord an ethnischen Minderheiten

Hauptartikel: Völkermord an den Armeniern/Aramäern

Während des Zerfallprozesses des Osmanischen Reiches im Ersten Weltkrieg kam es im Zuge nationalistischer Auseinandersetzungen zum Völkermord an den (christlichen) Armeniern/Aramäern. Diese belastende Vergangenheit ist bis heute in der öffentlichen Wahrnehmung nur unzureichend aufgearbeitet und erschwert das Zusammenleben der ethnischen und religiösen Gruppen in der Türkei (vgl. die Ermordung des armenischen Journalisten Hrant Dink im Januar 2007).

Das Pogrom von Istanbul

Hauptartikel: Pogrom von Istanbul

Ein bekanntes Beispiel für Pogrome gegen nichtmuslimische Minderheiten in der Türkei fand 1955 statt. In der Nacht vom 6. auf den 7. September 1955 wurde das Pogrom von Istanbul entfacht, in deren Folge nahezu 100.000 Christen das Land verließen [23] und denen wie in der Vergangenheit auch Juden, Armenier und Aramäer zum Opfer fielen. Ein fanatisierter Mob setzte allein in Istanbul 72 orthodoxe Kirchen und mehr als 30 christliche Schulen in Brand. Danach schändete er christliche Friedhöfe und verwüstete rund 3.500 Wohnhäuser und mehr als 4.000 Geschäfte. Mord, Vergewaltigung und schwerste Menschenrechtsverletzungen kamen hinzu. Die Polizei sah tatenlos zu. [24] [25]

Defizite bei der Gewährung der Religionsfreiheit

Im Oktober 1997 erließ der Gouverneur der Provinz Mardin ein Verbot gegen die christlichen Klöster Zafaran und Mor Gabriel, ausländische Gäste zu beherbergen und Religions- sowie muttersprachlichen Unterricht zu erteilen. Internationale Proteste bewirkten, dass zumindest das Beherbergungsverbot wieder aufgehoben wurde. Sprachunterricht in Aramäisch ist aber weiterhin untersagt.[26] Bereits 1979 war das Internat des Klosters bei Mardin aufgrund staatlicher Verfügung geschlossen worden.[27]

Für die EU-Kommissionen und europäischen Regierungen ist die alarmierende Situation der christlichen Minderheiten vorrangig, da diese durch die „Jungtürken" (1914/15) sowie während der Zypern-Krise 1955 von 25 % auf etwa zwischen 0,1 und 0,15 % der türkischen Bevölkerung reduziert worden waren. Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) geht von „etwa 150.000 Christen armenischer, syrisch-orthodoxer und griechisch-orthodoxer Herkunft" aus, während Missio, das Katholische Missionswerk, die Zahl der Christen mit rund 100.000 angibt. Die Gesellschaft für bedrohte Völker wiederum geht davon aus, dass die Zahl etwa zwischen den beiden liegt.

EU-Beobachter und Menschenrechtsorganisationen berichten von vielen Erleichterungen für aramäische Christen vor allem im Tur Abdin.[28] Glaubensflüchtlingen und Vertriebenen war es möglich, in einige Dörfer zurückkehren und Unterricht in aramäischer Sprache abzuhalten, was bis vor kurzem noch behindert wurde. Dieser Unterricht wird jedoch nicht offiziell anerkannt, was auch für diese Volksgruppe als ganzes gilt. 2007 segnete Erzbischof Samuel Aktaş vom Kloster Mor Gabriel nach einem Gottesdienst in der noch zerstörten Marienkirche die bereits bewohnten Neubau-Häuser im Dorf Kafro im Tur Abdin. Bis Ende September wird die 11. Rückkehrer-Familie in dem seit Mitte der 90er Jahre leer stehenden Ort erwartet. Aus Sicherheitsgründen fand nur eine gemeindeinterne Eröffnungsfeier statt.[29] Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg hat mit einem Urteil die Eigentumsrechte nicht-muslimischer Minderheiten in der Türkei gestärkt, wie die „Wiener Zeitung“ berichtete. Die Türkei wurde unter Androhung einer Entschädigungszahlung zur Rückgabe von zwei Immobilien verurteilt, die der Istanbuler Stiftung einer griechisch-orthodoxen Schule des Ökumenischen Patriarchats in den 1950er-Jahren geschenkt und 1996 vom Staat beschlagnahmt worden waren.[30]

Islamistische und nationalistische Gewalt

Islamistischer und nationalistischer Extremismus führen immer wieder zu Gewalt gegen Christen und andere Minderheiten. Wie Amnesty International betonte, lagen Ende 2001 keine Erkenntnisse vor, dass von staatlicher Seite Christenverfolgungen stattfinden würden. Man wüßte aber um die Behinderung freier Religionsausübung in der Türkei.[31] In den vergangenen Jahren hat die türkische Regierung in Ankara mehrfach die Tätigkeit christlicher Missionswerke kritisiert.[32]

Attentate gegen Christen

Am 11. März 2006 wurde der Kapuziner Hanri Leylek in Mersin von einem jungen Mann mit einem Messer angegriffen, den kurz danach die Polizei in Gewahrsam nehmen konnte. Dies war in Mersin bereits der zweite Angriff auf einen Geistlichen binnen vier Monaten.[33] In Mersin, das von 1993 bis 1999 katholischer Bischofssitz war, leben laut verschiedener Pressemeldungen rund 700 Christen, darunter rund 360 Gläubige aus verschiedenen katholischen Riten: Lateiner, Maroniten, griechische Katholiken, armenische Katholiken, syrische Katholiken und Chaldäer.[34]

2006 wurde der italienische Priester Andrea Santoro während des Gebetes in der Kirche von Trabzon von hinten durch einen türkischen Jugendlichen erschossen.[35] Am 19. Januar 2007 traf das gleiche Schicksal den als prominentestes Sprachrohr der Armenier bekannten Journalisten Hrant Dink in Istanbul.[36] Polizisten ließen sich zusammen mit dem Mörder des Journalisten und einer türkischen Fahne fotografieren und filmen. Die Beamten wurden vom Dienst suspendiert und strafrechtlich verfolgt. Diese Bilder lösten in der Türkei und weltweit Proteste aus. Der Täter, Ogün Samast, brüstete sich damit, einen Ungläubigen getötet zu haben[37], der die Türkei beleidigt hätte.[38] Da er aus derselben Stadt stammte, in der auch Don Santoro ermordet worden ist, sucht die türkische Polizei dort nach eventuellen Zusammenhängen.

Im Jahr 2006 startete die Internationale Gesellschaft für Menschenrechte einen internationalen Appell unter dem Motto „Türkei: Erst die Christen vertreiben, dann in die EU?“ Darin fordert die IGFM nochmals den EU-Ministerrat auf „angesichts der negativen Entwicklung in der Türkei eine deutliche Klärung der Vorgänge in der Türkei zu verlangen und konsequent auf der Erfüllung der Kopenhagener Kriterien zu bestehen“. Der Patriarch Bartholomäus I., das Ehrenoberhaupt der rund 250 Millionen orthodoxen Christen, bestätigt, dass sich die Lage der Christen in der Türkei „vom Schlechten zum Schlechteren“ wende.[39]

Am 18. April 2007 ereigneten sich in Malatya die grausamsten Christenmorde der letzten Jahre. Drei Mitarbeitern des kleinen christlichen Zirve-Verlags, darunter ein Deutscher, wurden die Kehlen durchtrennt. Ein weiterer verletzte sich auf der Flucht sehr schwer. Schon in der Vergangenheit war der Verlag bedroht worden.[40][41]

Brandanschlag auf das Madimak-Hotel

Bei einem alevitischen Kulturfestival zu Ehren des Dichters Pir Sultan Abdal im Sommer 1993 in Sivas erklärte der türkische Schriftsteller Aziz Nesin öffentlich, er halte einen Großteil der türkischen Bevölkerung für "feige und dumm," da sie nicht den Mut hätten, für die Demokratie einzutreten. Dies und die Übersetzung und teilweise Veröffentlichung des für Muslime ketzerischen Romans "Die satanischen Verse" von Salman Rushdie führten dazu, dass sich vor allem konservative sunnitische Kreise provoziert fühlten. Am 2. Juli versammelte sich eine aufgebrachte Menschenmasse nach dem Freitagsgebet vor dem Madimak-Hotel, in dem Aziz Nesin, aber auch alevitische Musiker, Schriftsteller, Dichter und Verleger logierten. Mitten aus der wütend protestierenden Menschenmenge wurden schließlich Brandsätze gegen das Hotel geworfen. Da das Hotel aus Holz gebaut war, breitete sich das Feuer schnell aus. Dabei verbrannten 35 Menschen; der Autor Aziz Nesin, dem laut einigen Angaben der Anschlag in erster Linie gegolten hatte, überlebte jedoch leicht verletzt. Wegen der wütenden Menschenmenge draußen vor dem Hotel konnten die Bewohner des Hotels nicht ins Freie, bis sie schließlich vom Feuer eingeschlossen waren. Obwohl Polizei und Feuerwehr frühzeitig alarmiert waren, griffen sie erst nach acht Stunden ein. Das Staatsicherheitsgericht in Ankara kam zu dem Urteil, dass die Menge die Feuerwehr bei den Rettungarbeiten behinderte. Andererseits belegen Zeugenaussagen sowie Videoaufnahmen, wie vereinzelte Polizisten der Menge halfen und eine anrückende Militäreinheit sich wieder zurückzog. Bei diesem Brandanschlag kamen viele berühmte Aleviten ums Leben wie Nesimi Cimen, Edibe Sulari, Hasret Gültekin und Muhlis Akarsu.

Siehe auch

Literatur

  • Cemal Karakaş: Türkei. Islam und Laizismus zwischen Staats-, Politik- und Gesellschaftsinteressen, HSFK-Report Nr. 1/2007: [10]

Quellen

  1. a b c d Vgl. Udo Steinbach: Islam in der Türkei. In: Informationen zur politischen Bildung, Heft 277 (4/2002).
  2. Apg 19 EU
  3. Barthel Hrouda: Handbuch der Archäologie. Vorderasien I: Mesopotamien, Babylonien, Iran und Anatolien, München 1971, 9f.
  4. a b Vgl. Jak Yakar: The later Prehistory of Anatolia. The Late Chalcolithic and Early Bronze Age, Oxford 1985, 417-429.
  5. Ein hethitischer Text beschreibt die Verschönerung eines Heiligtums namens Marash, in dem vier Gottheiten dargestellt wurden: ein Wettergott als Stier, ein Berggott als Keule, ein dritter durch fünf Kupferdolche, ein vierter in Form einer Stele mit der Abbildung einer stillenden Mutter. Der hethitische Großkönig ersetzte die Darstellungen durch einen silbernen Stier, eine Keule, geschmückt mit Darstellungen von Sonnenscheibe und Mondsichel und überragt von einer eisernen Männerfigur, eine silberne Männerstatuette mit goldenen Augen und einem Kupferdolch, sowie eine stillende Frau.
  6. Apg 11,19-26
  7. Apg 11,25-26
  8. Apg 13,4-12
  9. Auf diesen Zusammenhang hat zuerst (?) Ramsay hingewiesen, habe aber keine exakte Quellenangabe zur Verfügung
  10. Die in späteren Handschriften der Apostelgeschichte benutzte Bezeichnung „Antiochia in Pisidien“ trifft auf die Zeit des Paulus nicht zu.
  11. Apg 16,6-8; 19,23
  12. Cilliers Breytenbach: Paulus und Barnabas in der Provinz Galatien. Studien zu Apostelgeschichte 13f.; 16,6; 18,23 und den Adressaten des Galaterbriefes, AGJU 38, Leiden/New York/Köln 1996
  13. Apg 16,8-9
  14. Apg 20,6-12
  15. Apg 18,19-21; 19,1-40
  16. z.B. 1.Kor 15,32; 2.Kor 1,8
  17. Schätzungen zu Aleviten:
  18. So eine mündliche Aussage von Prof. Dr. Ahmet Mumcu, Jurist an der Başkent-Universität Ankara, während des Symposiums "Was ist Humanität?" an der Universität Bamberg (3.3.2007).
  19. http://www.welt.de/politik/article1203671/Hinrichtung_im_Namen_des_Propheten.html
  20. http://aidrupal.aspdienste.de/umleitung/2004/deu06/036?lang=de?mimetype=text/html
  21. http://www.gfbv.de/inhaltsDok.php?id=146&PHPSESSID=9154d915e1ea
  22. http://www.welt.de/politik/article1706413/Vorladung_fuer_Jesus_Christus.html
  23. Human Rights Watch-Dokument 1999, Seite 2, Fußnote
  24. Ökumenischer Rat der Kirchen in Österreich (ÖRKÖ) [1]
  25. Speros Vryonis, The Mechanism of Catastrophe: The Turkish Pogrom of September 6–7, 1955, and the Destruction of the Greek Community of Istanbul, New York: Greekworks.com 2005, ISBN 0-9747660-3-8
  26. Internationale Gesellschaft für Menschenrechte [2]
  27. amnesty international: Die Lage der syrisch-orthodoxe Christen 1997, Absatz a) Tur Abdin: [3]
  28. Amnesty international: Die Lage der syrisch-orthodoxe Christen 1997 [4]
  29. Kath.net: Türkei: Kein ausreichender Schutz für christliche Rückkehrer 7. September 2007
  30. Kath.net: Türkei muss konfiszierte kirchliche Häuser zurückgeben 11. Januar 2007
  31. Amnesty International: [5] 24. Juni 2004
  32. Handelsblatt, 18. April 2007 [6]
  33. Kirche in Not: [7]
  34. Apostolisches Vikariat von Anatolien: [8]
  35. AsiaNews: Fanatics filled Father Andrea's assassin with (wrong) ideas, 9. Februar 2006
  36. Internationale Gesellschaft für Menschenrechte, 18. April 2007, Pressemeldung: Rechtsruck in der Türkei? [9]
  37. Reuters (via Yahoo): Turkish-Armenian editor shot dead in Istanbul, 19. Januar 2007
  38. Die Presse: Jugendlicher gesteht Journalisten-Mord, 21. Januar 2007
  39. [Internationale Gesellschaft für Menschenrechte http://www.igfm.de/index.php?id=597]
  40. Die Welt: Hintergrundinformationen zum Mord an den Christen 27. April 2007
  41. NZZ: Türkei: Ermordet wegen des Glaubens 22. April 2007

Weblinks


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