Republik Freies Wendland

Republik Freies Wendland
Wappen der Republik Freies Wendland

Die Republik Freies Wendland (auch Freie Republik Wendland) wurde am 3. Mai 1980 durch eine Initiative der Anti-Atomkraft-Bewegung auf dem Gelände der Tiefbohrstelle 1004 in der Nähe von Gorleben im Wendland (in Niedersachsen) ausgerufen. Sie bestand einen Monat und wurde am 4. Juni 1980 von Polizei und Bundesgrenzschutz geräumt.

Inhaltsverzeichnis

Beschreibung

Vorgeschichte

Die Physikalisch-Technische Bundesanstalt ließ bei Gorleben ab 1979 Bohrungen durchführen, um den Salzstock auf seine Eignung zur Einlagerung von radioaktivem Abfall zu untersuchen. Dagegen führten örtliche Atomkraftgegner kleinere, aber erfolglose Besetzungsaktionen an den Tiefbohrstellen 1002 und 1003 durch. In der Folge legten sie sich einen Plan für eine größere Besetzung unter Beteiligung von auswärtigen Atomkraftgegnern zurecht. Daher wurde zu einer Demonstration am 3. Mai 1980 unter dem Motto Kampftag der Wenden aufgerufen.

Besetzung

Die an der Demonstration rund 5000 beteiligten Atomkraftgegner zogen zum Gelände der geplanten Tiefbohrstelle 1004 zwischen den Dörfern Gorleben und Trebel. Dort besetzten sie das Gelände, um gegen weitere Tiefbohrungen für den Bau des Atommülllager Gorleben zu protestieren. Mit der Besetzung rief das sogenannte „Untergrundamt Gorleben-Soll-leben“ aus den Kreisen von Atomkraftgegner die Republik Freies Wendland als eigenen Staat aus. Der niedersächsische Innenminister Egbert Möcklinghoff sprach im Zusammenhang mit der Ausrufung von Hochverrat.

Wendenpass, ausgestellt am 3. Mai 1980

Das Gelände war eine durch den Brand in der Lüneburger Heide 1975 entstandene Lichtung, die aus sandigem Boden und verbrannten Baumresten bestand. Darauf errichten die Besetzter innerhalb der folgenden Tage ein provisorisches Hüttendorf mit insgesamt 110 Hütten aus Holz und Lehm. Unter den Bauten fanden sich zahlreiche Gemeinschaftseinrichtungen, wie das 100 Personen fassende achteckige Freundschaftshaus, Gewächshäuser, Krankenstation, Frisiersalon und Mülldeponie. An Sanitäreinrichtungen gab es eine Sauna und Badehütten. Wasser wurde durch einen Windrad-betriebenen Tiefbrunnen gefördert und mit einer Solar-Warmwasseranlage erwärmt.

Am Zufahrtsweg zur sogenannten Republik wurde ein Grenzübergang mit Schlagbaum angelegt, über dem Flaggen mit dem Wendenwappen und der Anti-AKW-Sonne angebracht waren.[1] Gegen eine Gebühr von 10 DM wurde im nebengelegenen Informationshaus ein sogenannter Wendenpass ausgestellt und mit einem Einreisestempel versehen. Der Pass war nach eigenen Worten der Besetzer gültig „für das gesamte Universum [...] so lange sein Inhaber noch lachen kann.“[2]

Gemeinschaftsleben

Die etwa 1000 ständigen Besetzer organisierten während der 33tägigen Besetzungsdauer ihr Gemeinschaftsleben auf basisdemokratischer Grundlage. Sie bildeten einen Sprecherrat und trafen Entscheidungen in regelmäßig stattfindenden Plena. Bezüglich einer möglichen Räumung durch die Polizei bestand weitgehend Konsens über passiven Widerstand. Allerdings widersprachen dem einige militantere Besetzer. An den Wochenenden kamen jeweils mehrere Tausend Sympathisanten und Schaulustige auf das besetzte Gelände. Darunter waren auch Prominente, wie der damalige Vorsitzende der Jusos Gerhard Schröder. Andere bekannte Besucher und Bewohner waren der Widerstandskämpfer Heinz Brandt, die Liedermacher Walter Mossmann und Wolf Biermann, der Fotograf Günter Zint und der SPD-Politiker Jo Leinen sowie der Schriftsteller Klaus Schlesinger. Begleitet war die Besetzung von zahlreichen Veranstaltungen. Sie fanden in dem großen Freundschaftshaus oder auf dafür eingerichteten Bühnen statt. Es wurden Vorträge, Diskussionsrunden, Lesungen, Rockkonzerte oder auch Puppentheatervorstellungen angeboten. Von Anwohnern aus der Region erhielten die Besetzer tatkräftige Unterstützung und wurden mit Bauholz sowie Lebensmitteln versorgt.[3] Am 18. Mai 1980 ging auf einem Turm des besetzten Geländes der Piratensender Radio Freies Wendland auf Sendung.

Räumung

Am Morgen des 4. Juni 1980 wurde das Gelände auf Anordnung der von Helmut Schmidt geführten Bundesregierung durch die niedersächsische Polizei und den Bundesgrenzschutz geräumt. Etwa 3500 Beamte nahmen laut dem niedersächsischen Innenministerium an dem Einsatz teil.[4] Rechtsgrundlage für die Räumung waren Verstöße der Besetzer gegen verschiedene Nebengesetze, wie das Landeswaldgesetz, die Bauordnung, das Feld- und Forstordnungsgesetz und das Meldegesetz. Die zu diesem Zeitpunkt anwesenden etwa 2000 Besetzer hatten sich auf dem Dorfplatz zu einer Sitzblockade versammelt. Die Räumung, bei der viele der Besetzer von Polizeibeamten weggetragen wurden, ging weitgehend friedlich vonstatten.[5] Der Piratensender Radio Freies Wendland berichtete von einem Turm des Geländes den ganzen Tag über die Räumung. Nach deren Abschluss dankte die Polizei den Demonstranten über eine Lautsprecherdurchsage für die Gewaltlosigkeit.[6]

Rezeptionen

Das neun Tage lang bestehende Hüttendorf in Hannover

Auch lange nach der Besetzung verwenden Atomkraftgegner im Wendland den Begriff der Republik Freies Wendland. So wurde 2006 eine fünfseitige Bekanntmachung der Republik Freies Wendland gegen Atomwirtschaft und Polizeiwillkür als Anzeige in einem Lokalblatt veröffentlicht. [7]

Zum 30. Jahrestag der Räumung kam es vom 4. bis 6. Juni 2010 zu einem Gedenk- und Protestwochenende an den Atomanlagen bei Gorleben, an denen sich etwa 800 Menschen beteiligten.[8] Dabei errichteten Angehörige der Bäuerlichen Notgemeinschaft im Wald eine „Schutzhütte“, mit der sie an das Hüttendorf der Republik Freies Wendland erinnerten. [9]

In Anlehnung an den 30. Jahrestag der Räumung initiierte der Regisseur Florian Fiedler mit dem Schauspielhaus Hannover vom 17. bis 26. September 2010 das Theaterprojekt Republik Freies Wendland – Reaktiviert. Dazu bauten etwa 50 Schüler, vor allem der IGS Roderbruch, und 25 Erwachsene auf dem Ballhofplatz ein Hüttendorf nach dem Vorbild von 1980 auf. Vorort fanden Theateraufführungen wie etwa Figurentheater vom Bread and Puppet Theater, Konzerte, Vorträge und Diskussionen zum Thema Atomkraft statt. Den Auftakt machte die Band Ton Steine Scherben, die Abschlussdiskussion führte der Soziologe Oskar Negt.[10] Größere mediale Beachtung bekam dieses Projekt durch einen Tortenwurf auf den Grünen-Politiker Jürgen Trittin während einer Podiumsdiskussion.[11] Nach neun Tagen wurde das Dorf wieder abgebaut. Zwei Holzhütten kamen ins Wendland, um Atomkraftgegnern Unterschlupf zu bieten.[12]

Nach wie vor ist die Flagge mit dem Wappen, vor allem im Wendland, ein Symbol der Anti-Atomkraftbewegung. Sie kann an vielen Orten erworben werden und der Wendenpass mit Stempel wird in einigen Protestcamps gelegentlich angeboten.

Veröffentlichungen

  • Widerstandsbericht Wendland, Teil 1, Januar 1983 - Juni 1985, 1985

Literatur

  • Günter Zint, Caroline Fetscher: Republik Freies Wendland. Eine Dokumentation. Zweitausendeins, Frankfurt am Main 1980.
  • Dieter Halbach, Gerd Panzer: Zwischen Gorleben und Stadtleben. Erfahrungen aus 3 Jahren Widerstand im Wendland und in dezentralen Aktionen. AHDE-Verlag, Berlin 1980, ISBN 3-8136-0021-1.
  • 101 UKW: Radio Freies Wendland, hrsg. Network Medien-Cooperative, Frankfurt/Main, 1983 (Tondokumentation der Räumung des Hüttendorfes am 4. Juni 1980)

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Gorleben-Archiv: Dorfgeschichte Freie Republik Wendland. Hüttendorf auf 1004, abgerufen am 13. April 2011
  2. DER SPIEGEL, zitiert nach Andreas Baum, „Kernkraftgegner rufen im niedersächsischen Gorleben die "Freie Republik Wendland" aus. Vor 25 Jahren“ im „Kalenderblatt“ des Deutschlandradios Kultur vom 3. Mai 2005
  3. NDR-Rückschau: Wir sind die Glücklichen. Die Republik Freies Wendland, abgerufen am 13. April 2011
  4. Venceremos, tschüß in: Der Spiegel vom 14. Juli 1980
  5. Sehr behutsam in: Der Spiegel vom 9. Juni 1980
  6. Institut für Friedenspädagogik Tübingen e. V.: Die Verteidigung der „Republik Freies Wendland“ (1980), abgerufen am 14. April 2011
  7. Bekanntmachung der Republik Freies Wendland vom 21. Oktober 2006
  8. 30 Jahre Freie Republik Wendland bei: Bürgerinitiative Umweltschutz Lüchow-Dannenberg e. V.
  9. 33 Tage Hüttendorf, 33 Jahre Widerstand Gorleben als Kristallisationspunkt der Anti-AKW-Bewegung
  10. Archiv Schauspiel Hannover, Heft 4, 2010, S. 11; Archiv Schauspiel Hannover, Heft 5, 2010, S. 12-15, abgerufen am 14. April 2010
  11. Spiegel-Online vom 23. September 2010: „Trittin verzichtet auf Anzeige“
  12. Hannoversche Allgemeine Zeitung vom 26. September 2010: „Hüttendorf auf dem Ballhofplatz planmäßig geräumt“

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