Said Nursi

Said Nursi

Said Nursi (bis Mitte der 1920er auch Said-i Kürdi; * ca 1876[1] im Dorf Nurs (heute Kepirli) in der Provinz Bitlis; † 23. März 1960 in Şanlıurfa) war ein religiöser Führer kurdischen Ursprungs in der letzten Phase des Osmanischen Reiches und der Republik Türkei. Er ist ferner der Gründer der Nurculuk-Bewegung.

Inhaltsverzeichnis

Leben

Kindheit und Jugend

Er wurde 1876 im Dorf Nurs in der Provinz Bitlis als Kind kurdischer Eltern geboren. Sein Vater gehörte zu einer Familie lokaler Notabeln, obwohl er oft behauptete, dass sein Vater Lastenträger war. Mit neun Jahren erhielt er seine religiöse Ausbildung in verschiedenen Medressen und Tekkes der Provinzen Bitlis und Van, so in Norşin, Müküs und Arvas. Bei einem intensiven dreimonatigen Studium bei Scheich Mehmet Celali in Beyazıt erhielt er den Titel eines Mullahs. Schon im jugendlichen Alter erwarb er sich den Ruf eines großen Gelehrten und wurde mit dem Titel Bediüzzaman („der Einzigartige der Zeit“) bezeichnet. Said Nursi beherrschte Arabisch, Kurdisch, Persisch und Türkisch.

Der „frühe Said“ in der Zeit gesellschaftlicher Umwälzungen

Er verbrachte zwei Jahre bei Ömer Pascha in Bitlis und begab sich 1894 nach Van zum örtlichen Gouverneur der Provinz Van. In der Privatbibliothek des Gouverneurs fand er Zugang zu Werken der modernen Wissenschaften, die im Rahmen der traditionellen Ausbildung eines Alim nicht vermittelt wurden.

Ausgehend von seinem Reformansatz „Wissenschaft für die Theologen“ (wider die Ignoranz und den Fanatismus) - „Religion für die Naturwissenschaftler“ (wider den Materialismus ohne Ethik) verfolgte er das Projekt der Gründung einer Universität in den östlichen Provinzen des Osmanischen Reiches, in der parallel islamisch-theologische Wissenzweige und Naturwissenschaften gelehrt werden sollten. 1907 brach er nach Istanbul auf, um am Hof des Sultan Abdülhamid II. Unterstützung für sein Projekt einzuwerben. Er hatte jedoch keinen Erfolg.

1908 unterstützte er den Staatsstreich der Jungtürken und war Mitglied des Komitees für Einheit und Fortschritt. Said Nursi war 1908 auch in der ersten kurdischen Gesellschaft Kürt Teavün ve Terakki Cemiyeti aktiv, die in Istanbul ins Leben gerufen wurde. Er war ferner führendes Mitglied der „Gesellschaft mohammedanische Einheit“ (Itthihad-i Muhammadi), deren Ziel es war, die Scharia zu schützen. Er wurde der Teilnahme an der Erhebung konservativer Kreise am 31. März 1909 bezichtigt. Das Gerichtsverfahren endete mit einem Freispruch.

1909 nannte er sich selbst gharib („Fremder“), um anzudeuten, dass er sich im Denken von seinen Zeitgenossen unterschied.

1910 veröffentlichte er sein erstes Buch und verließ Istanbul wieder in Richtung Osten. Im Frühjahr 1911 hielt er in der Omajjaden-Moschee von Damaskus eine viel beachtete Rede. Im Sommer jenes Jahres begleitete er als Vertreter östlicher Provinzen Sultan Resat Mehmet V. auf einer Balkanreise. Dabei wurde ihm Unterstützung für seine geplante Hochschule (Medresetü'z-Zehra) in Van zugesagt.

Als der Erste Weltkrieg ausbrach, führte er Miliztruppen im Kampf gegen russische Truppen an der Kaukasus-Front. Beschreibungen zufolge rettete er 1.500 Armeniern das Leben, die zu töten ihm befohlen worden war. Er schickte sie durch die russische Linie in Sicherheit.[2]

1916 wurde er gefangengenommen und in Kostroma nordöstlich von Moskau interniert. In den Wirren nach der Oktoberrevolution konnte er im Frühjahr 1918 fliehen und kehrte über Berlin, Wien, Ungarn und Bulgarien nach Istanbul zurück. Dort wurde er Mitglied der Dar ül-Hikmet al-islamiye, einer bedeutenden islamischen Lehranstalt, und publizierte mehrere Bücher. Nach der Besetzung der Stadt durch britische Truppen gehörte er zu den Religionsgelehrten, die zum Widerstand aufriefen. 1918 wurde er Mitglied der Kürdistan Teali Cemiyeti.

Der „späte Said“ in der Zeit des kemalistischen Einparteiensystems

Said Nursi wurde 1922 wegen seines hohen Ansehens als Gelehrter und aufgrund seiner Verdienste nach Ankara geladen, um bei der Neugründung und Gestaltung der Türkei mitzuwirken. Er hielt eine Rede vor der provisorischen Nationalversammlung, die mit Zustimmung aufgenommen wurde.

Mit Kemal Pascha (seit 1934 Atatürk) überwarf er sich jedoch, weil Said Nursis Vorstellungen nicht mit dessen Vision einer Reformierung des türkischen Staates nach westlich nationalistischem Vorbild übereinstimmten. 1923 zog sich Said Nursi nach Van zurück, um sich religiösen Studien zu widmen. 1925 wurde er in Folge der kurdischen Aufstände wie andere Persönlichkeiten und Stammesführer in die Verbannung geschickt. Er wurde nach Burdur verbracht. 1927 wurde er schließlich dazu gezwungen, sich in dem Dorf Barla in der Provinz Isparta niederzulassen. Er lebte dort in einem Holzhaus und zog sich oft tagelang in die Berge zurück, um zu reflektieren. So entstanden seine Schriften zum Koran, die er zum Teil einer Reihe von Schülern diktierte. Die Mitschriften wurden in dem nahe gelegenen Dorf Sava von Hand in arabischer Schrift vervielfältigt und überall in Anatolien verteilt.

1935 wurde er in Eskişehir vor Gericht gestellt und zu elf Monaten Haft verurteilt wegen Förderung der Religion und anderer Vergehen. Nach der Entlassung wurde er nach Kastamonu verbannt. In dieser Provinzhauptstadt stießen seine Lehren über die Vereinbarkeit von Religion und Wissenschaft bei Oberschülern auf Interesse.

1943 wurde ein weiterer Prozess in Denizli anberaumt, der jedoch mit einem Freispruch endete, da Gutachter in seinen Schriften keinen Aufruf zum Aufruhr erkennen konnten. Said Nursi musste sich danach in Emirdag bei Afyonkarahisar niederlassen.

1948 wurde zum letzten Mal ein Prozess gegen Said Nursi angestrengt: in Afyon wurde er wegen der Gründung einer politischen Vereinigung, der Verbreitung regimefeindlicher Gedanken und der Verfolgung politischer Absichten angeklagt. Mit ihm stand eine Anzahl seiner Schüler vor dem Richter. Das Verfahren wurde jedoch ausgesetzt und endete 1956 unter veränderten politischen Rahmenbedingungen mit einem Freispruch.

Das Ende der Verbannung und der „dritte Said“

Said Nursi unterstützte in der Nachkriegsepoche ab 1946 den Übergang zum Mehrparteiensystem. Er rief seine Anhänger zur Unterstützung der Demokratischen Partei von Adnan Menderes auf. Von ihm erhoffte er sich die demokratisch-freiheitliche Entwicklung des Landes und ein Ende der Verfolgungen. Die Partei gewann 1950 die absolute Mehrheit in der Großen Nationalversammlung der Türkei.

1951 wurde seine Verbannung aufgehoben. Said Nursi konnte sich nun frei im Land bewegen und ließ sich in Isparta nieder. Die Politik von Menderes befürwortete er außerdem, weil dieser die Türkei in das westliche Bündnissystem integrierte (NATO, Bagdad-Pakt, Teilnahme am Koreakrieg). Nach seiner Auffassung erforderte die Bedrohung der Religion durch den atheistischen Materialismus und den Marxismus die Zusammenarbeit von Muslimen und Christen. Er korrespondierte daher mit dem Papst und dem griechisch-orthodoxen Patriarchen. Er erlaubte seinen Anhängern, seine Werke in lateinischer Schrift drucken zu lassen. 1956 wurde staatlicherseits die Publikation seiner Schriften erlaubt.

Kurz vor seinem Tod beschloss er nach Urfa aufzubrechen. Dort übernachtete er in einem Hotel, wo er viele hunderte Besucher empfing. In der Nacht verstarb er und wurde in der Moschee aufgebahrt, wo seine Freunde und Schüler bis zum Morgengebet den Koran rezitierten. Gleich nach dem Morgengebet wurde sein Totengebet verrichtet und er wurde beigesetzt. Nachdem im folgenden Mai das Militär Adnan Menderes gestürzt hatte, öffnete im Juli ein Trupp Soldaten Said Nursis Grab. Sein Leichnam wurde an einem unbekannten Ort in der Provinz Isparta beigesetzt.

Zu den Entwicklungen nach Said Nursis Tod siehe den Artikel zur Nurculuk-Bewegung.

Einzelnachweise

  1. Kemal Karpat in Encyclopaedia of Islam s.v. NURSI, Sheykh Badi al-Zaman, Said
  2. Martin van Bruinessen: Agha, Scheich und Staat. Berlin 1989, S. 354

Literatur

  • Islamische Theologie des 21. Jahrhunderts Der Aufgeklärte Islam. Hrg. Stuttgarter Stiftung für Wissenschaft und Religion ISBN 978-3-931290-14-6
  • Ali Demir & Cäcilia Schmitt: Islam und Aufklärung: ein Islamdenker für unsere Zeit: Bediuzzaman Said Nursi, Istanbul 2004 ISBN 975-6401-86-9
  • Necmeddin Şahiner: Bilinmeyen taraflarıyla Bediüzzaman Said Nursi, I.stanbul 2004
  • Şükran Vahide: Bediuzzaman Said Nursi: The Author of the Risale-i Nur, I.stanbul 2004
  • Sahinöz Cemil: Die Nurculuk Bewegung. Entstehung, Organisation und Vernetzung. Die erste soziologische und wissenschaftliche Analyse der Bewegung. Nesil Verlag: Istanbul, 2008 (online)
  • Ralph Ghadban: Die Pseudo-Modernisten Said Nursi und Fethullah Gülen. In: Islam und Islamkritik, Berlin/Tübingen 2011, ISBN 978-3-89930-360-5

Weblinks



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