Sammellager Drancy

Sammellager Drancy
Internierungslager Drancy im August 1941, Aufnahme der Propagandakompanie

Das Sammel- und Durchgangslager Drancy war zeitweilig ein berüchtigtes Gefangenenlager in der Stadt Drancy 20 km nordöstlich von Paris, der Ort der Shoa in Frankreich, von wo ca. 65.000 hauptsächlich französische Juden mit der Eisenbahn in die deutschen Vernichtungslager überwiegend im heutigen Polen (Auschwitz-Birkenau und andere) transportiert wurden. Ca. 63.000 von ihnen wurden dort ermordet oder starben zuvor an den katastrophalen Umständen des Transports, der Unterbringung und Behandlung. Unter ihnen befanden sich ca. 6.000 Kinder. Nur noch 1.467 Überlebende konnten durch einen schwedischen Gesandten und Repräsentanten des Roten Kreuzes gemeinsam mit den Alliierten Streitkräften am 18. August 1944 befreit werden. Neun von zehn deportierten französischen Juden wurden über Drancy in den Osten verschleppt. Von den ca. 200.000 Deportierten hatten die Nationalsozialisten ca. 76.000 Juden entführen lassen. Anfangs unter französischer Leitung übernahm Alois Brunner am 2. Juli 1943 das Kommando des Lagers, assistiert von vier SS-Offizieren. Das französische Personal wurde entlassen. Sie setzten Gefangene als Lagerpolizei ein ("Membres du Service d’Ordre"). Die übrigen großen französischen Sammellager für Juden befanden sich in Compiègne (Royallieu) (Oise), Pithiviers (Loiret) und Beaune-la-Rolande (Loiret).

Inhaltsverzeichnis

Entstehung

Nach der deutschen Besetzung Frankreichs im Mai und Juni 1940 wurde ein großer Gebäudekomplex, die Cité la Muette, die ursprünglich als öffentliche Wohnanlage geplant, später jedoch als Polizeikaserne genutzt worden war, von der deutschen Wehrmacht beschlagnahmt und in das wichtigste Haftlager für Juden, aber auch für Angehörige anderer ethnischer oder sozialer Minderheiten umgewandelt.

Ansichtskarete der Cité de la Muette aus der Nachkriegszeit. In der Legende wird das Konzentrationslager erwähnt.
Registrierungsbogen im Durchgangslager Drancy. Der Gefangene Ferdinand Glaser traf am 24. November 1943 ein und wurde am 7. Dezember 1943 nach Auschwitz deportiert.
Deportationsliste Drancy-Auschwitz vom 7. Dezember 1943 (Auszug).

Wie andere Haftanstalten in Frankreich war das Sammellager Drancy auf Befehl der Besatzungsmacht unter der Federführung des Höheren SS- und Polizeiführers in Frankreich, des späteren SD, eingerichtet worden und hatte der Kontrolle der SS bis Juli 1942 unter SS-Hauptsturmführer Theodor Dannecker, bis Juni 1943 SS-Obersturmführer Heinz Röthke und ab 3. Juli 1943 unter den von SS-Hauptsturmführer Alois Brunner unterstanden. Es war wegen seiner Nähe zu dem großen Verschiebebahnhof ausgewählt worden. Das Lager wurde nach einer Menschenjagd gegen Pariser Juden im August 1941 eröffnet, als 4.000 Menschen verhaftet wurden. Weitere Verhaftungswellen gegen Juden wurden durch die französische Polizei auf Beschluss des Vichy-Regimes von Marschall Philippe Pétain ab 1941 bis 1944 nicht nur in der besetzten Zone, sondern auch in der „unbesetzten“ Südzone durchgeführt. Diese richteten sich auch gegen die aus Deutschland und Österreich nach Südfrankreich geflüchteten Juden, die in Internierungslagern auf ihr Visum, ihre Schiffspassage oder ihre Ausreise in ein Land ohne Verfolgung (meist die Vereinigten Staaten oder auch Mexiko, Kuba, China oder auf das Transitvisum für Spanien oder Portugal) warteten.

Das Lager in Drancy war ein viergeschossiger Gebäudekomplex in U-Form um einen ca. 400 m langen, ca. 40 m breiten Innenhof der Architekten Marcel Lods und Eugène Beaudoin, ursprünglich für 700 Menschen entworfen, in dem jedoch auf seinem Höhepunkt mehr als 7.000 Menschen eingesperrt waren. Hatte es noch im Oktober 1939 der französischen Polizei zu Internierung von militanten Kommunisten gedient, so wurden zu Beginn des Krieges französische Kriegsgefangene, später gefangene jugoslawische und griechische Zivilisten hier eingesperrt. Das hufeisenförmige Lager war mit Stacheldraht und an allen vier Ecken von Wachttürmen umgeben und wurde von französischen Gendarmen bewacht. Aufgrund von Dokumentenbeweisen und Zeugenaussagen sind die unmenschlichen Bedingungen und die Brutalität der französischen Wachen in Drancy bewiesen, zu denen die sofortige Trennung kleiner Kinder von ihren Eltern bei der Ankunft gehörte.

Klaus Barbie, der berüchtigte Schlächter von Lyon, entführte alle jüdischen Kinder, deren er bei Durchsuchungen französischer Kinderheime habhaft werden konnte, nach Drancy, von wo sie alle zur Ermordung nach Auschwitz geschafft wurden (siehe auch: Kinder von Izieu).

Noch im November 1941 waren ca. 800 internierte Kranke unter 18 Jahren freigelassen worden. Im Dezember 1941 wurden 40 Häftlinge aus Drancy zur Vergeltung eines französischen Angriffs auf einen deutschen Polizeioffizier exekutiert. Der Militärbefehlshaber in Frankreich, Otto von Stülpnagel, erhielt vom Oberkommando der Wehrmacht in Berlin wiederholt Forderungen nach Geiselerschießungen zur Vergeltung von Anschlägen der Résistance auf deutsche Soldaten und Polizisten. Daraufhin forderte Stülpnagel seinerseits Ende 1941 die Deportation „größerer Massen von Juden und Kommunisten nach dem Osten“, weil die „viel abschreckender auf die französische Bevölkerung wirkt als die von ihr nicht verstandenen Massenerschießungen“.

Im gleichen Monat erhielt Major Walter Bargatzky, ein Jurist, der zur Kommandantur der deutschen Militärverwaltung im Hotel Majestic gehörte, erstmals einen detaillierten Augenzeugenbericht über die Massentötungen nördlich von Kiew in Babi Jar. Diese Schilderung kursierte schnell im deutschen Stab. Anfangs wurde noch die Ansicht vertreten, dass es sich möglicherweise um Massentötungen aus lokalen Anlässen und an lokalen Schauplätzen ereignet haben möge. Als Reinhard Heydrich jedoch nach der Wannseekonferenz einen Exklusivvortrag vor den höheren Rängen des Hotel Majestic am 7. Mai 1942 hielt, in dem er von Versuchen zur Tötung von Juden durch speziell präparierte LKW sprach, deren Abgase die Deportierten töten sollten und in diesem Zusammenhang das Wort „Vergasung“ erstmals verwendet wurde, bestand über das Schicksal der Juden von Drancy für die Anwesenden kein Zweifel mehr. Bei dieser Gelegenheit führte Heydrich den neuen Polizei- und SS-Führer von Paris, Carl Oberg, ein, der nicht mehr, wie seine Vorgänger auf die Amtshilfe des Militärbefehlshabers der französischen Behörden angewiesen war, sondern nun unmittelbare Befugnisse zur Deportation erhielt. Er war berüchtigt für sein schikanöses Verhalten, sei es durch Verbot von Musik, Kartenspiel oder Tanz oder durch die Ablehnung von Hilfspaketen von Verwandten und Hilfsorganisationen an die Lagerinsassen.

Da alliierte Luftangriffe auf Pariser Verschiebebahnhöfe stattfanden, durch die die Deportationszüge Tag und Nacht rollten, kam es vor, dass plombierte Waggons infolge der Bombardements aufsprangen und Häftlinge flüchteten. Um diese schneller von anderen unterscheiden zu können, kamen die Verantwortlichen auf die perfide Idee, Juden nur noch nackt zu transportieren. Aus diesem Grunde erhielten diese Transporte die Bezeichnung „Nackttransporte“. Bargatzky, der dem deutschen Widerstand vom 20. Juli 1944 angehörte und bei Gelingen des Attentats zum Anklagevertreter gegen die Verantwortlichen der Besatzungsverbrechen ausersehen war, hatte diese Details gesammelt, um sie zur Grundlage einer Anklage wegen „Wehrkraftzersetzung“ gegen die SD-Führer zu machen.

Nach Recherchen von Serge Klarsfeld verließen 42 Konvois mit 40.450 Verschleppten Drancy über den Bahnhof Bourget-Drancy zwischen dem 27. März 1942 und dem 23. Juni 1943. 21 Konvois mit 22.450 Deportierten wurden über den Bahnhof Bobigny im Norden in den Tod transportiert. 58 dieser Transporte erreichten Auschwitz-Birkenau, je zwei Todeszüge gingen nach Majdanek und Sobibor und einer nach Kaunas und Reval. Bis Juli 1943 wurden die Züge von Wachmannschaften der SS und französischen Gendarmen begleitet. Danach kam auch die Polizei aus Deutschland.

Viele französische jüdische Intellektuelle und Künstler wurden in Drancy gefangengehalten, darunter Max Jacob (der 1944 im Lager starb), der Philosoph Tristan Bernard und der Choreograph René Blum.

Eine prominente internierte Person war Fania Fénelon, eine Sängerin aus Paris. Ihr Vater Jules Goldblum war Jude. Sie wurde bei der Unterstützung kommunistischer Aktionen gefasst, von der Gestapo verhaftet und in das Durchgangslager Drancy geschickt. Von dort wurde sie weiter nach Auschwitz geschickt, wo sie Mitglied des von Alma Rosé geleiteten Mädchenorchester von Auschwitz war. Sie überlebte das Konzentrationslager und den Todesmarsch und wurde von den Briten befreit. Alma Rosé war bis zu ihrer Deportation am 18. Juli 1943 ebenfalls für sechs Monate in diesem Lager interniert.

Das Lager heute

Der Zeugen-Waggon in La Muette als Zeugnis der Deportation

1976 schuf der Bildhauer Shlomo Selinger in Erinnerung an die hier eingesperrten französischen Juden das Mahnmal der Deportation, das sich im Viertel La Muette befindet. Teil des Denkmals ist der 1988 eröffnete Zeugen-Waggon (Wagon-Témoin).

Offiziell wurde in Frankreich bis vor kurzem das Vichy-Regime als illegale Regierungsstelle der französischen Republik bezeichnet. Obwohl das kriminelle Verhalten des Vichy-Regimes und die Kollaboration von zehn französischen Gendarmen angeklagt wurde, sogar einige Vertreter des Vichy-Regimes verurteilt wurden (z. B. Pétain, Pierre Laval, Paul Touvier, Maurice Papon) wurde die Mitverantwortung der französischen Republik lange geleugnet. Am 16. Juli 1995 erkannte jedoch Präsident Jacques Chirac in einer Rede die Mitverantwortung des französischen Staates zur Beihilfe beim „kriminellen Wahnsinn des Besatzers“ an.

Am 20. Januar 2005 legten Brandstifter Feuer an einige Viehwaggons im früheren Sammellager. Es wurde ein mit „Bin Laden“ unterzeichnetes Flugblatt mit einem umgedrehten Hakenkreuz vor Ort gefunden.

Literatur

  • Ahlrich Meyer: Täter im Verhör. Die »Endlösung der Judenfrage« in Frankreich 1940–1944. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2005; 471 S.
  • Maurice Rajsfus: Drancy, un camp de concentration très ordinaire, 1941-1944. Le Cherche-midi, 2005 ISBN 2862744352
  • Antoine Sabbagh & Collectif; Denis Peschanski (Vorwort): Lettres de Drancy (Sammlung von 130 Briefen vom September 1941 bis August 1944). Le Seuil, 2004 ISBN 202058249X
  • Axel Sowa, Paris: Das Symbolische, das Politische und das Reale. Ein Besuch in Drancy, Bauwelt Heft 27-28.04, 23. Juli 2004, Seite 44
  • Serge Klarsfeld Le Calendrier de la persécution des juifs en France, 1940-1944, Hg. Les Fils et filles des déportés juifs de France, 1993
  • Michel Alexandre: Der Judenmord. Deutsche und Österreicher berichten, Köln 1998 ISBN 3-8025-2610-4
  • Michel R. Lang Die Treppen zur Hölle. Im KZ Drancy, letzte Station vor der Vernichtung. Piper, München 1991 ISBN 3492113729 (zuerst: Berlin 1982)
  • Georges Wellers: Von Drancy nach Auschwitz. in H. G. Adler, Hermann Langbein & Ella Lingens-Reiner Hgg.: Auschwitz. Zeugnisse und Berichte. 2. rev. Aufl. EVA, Köln 1979 (Erstaufl.: 1962) ISBN 3434004114 S. 54 - 58 (Zeitzeugenbericht)

Lyrik

Nicolas Grenier, Cité de la Muette (Gedicht), zu Ehren von Max Jacob, der im Lager Drancy starb, 2011.

Weblinks

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