Schwalmstadt-Trutzhain

Schwalmstadt-Trutzhain

Das hessische Dorf Trutzhain gehört zur Stadt Schwalmstadt (Schwalm-Eder-Kreis). 1948 wurde aus dem ehemaligen Kriegsgefangenenlager Stammlager Ziegenhain die Flüchtlingssiedlung Trutzhain. 1951 wurde Trutzhain die damals jüngste hessische Gemeinde.

Inhaltsverzeichnis

Ursprung als Gefangenenlager

Während des 2. Weltkrieges errichtete das NS-Regime auf dem Gebiet des heutigen Trutzhain das Stammlager StaLag IX A (September 1939 - März 1945); der prominenteste Kriegsgefangene im Lager war von 1940 bis 1941 der spätere französische Staatspräsident François Mitterrand.

Die russischen Kriegsgefangenen im StaLag IX A hatten geringe Überlebenschancen. Die meisten starben an Unterernährung und Infektionen. Die Leichen wurden zum Teil im naheliegenden Wald verscharrt. Auf dem später angelegten Waldfriedhof befindet sich ein Denkmal für die Toten des Lagers.

Nach der Befreiung des Lagers am 30. März 1945 diente das ehemalige StaLag der US-Army zunächst als Civil Internment Camp 95 (CIC 95) zur Unterbringung von Mitgliedern der Waffen-SS, der NSDAP, SA und SS, Wehrmachtssoldaten sowie Frauen. Das Lager bestand bis zum Sommer 1946.

Anfang August 1946 richtete die US-Army in den leerstehenden Baracken das DP-Lager 95-443 Ziegenhain ein. Für die Displaced Persons (DP) wurde es zur Durchgangsstation für die ersehnte Ausreise nach Palästina, Großbritannien, Kanada, Australien, Südamerika oder in die USA. Durchschnittlich belief sich die Belegzahl des DP-Lagers, das Ende November 1947 aufgelöst wurde, auf 2000 Personen. Dem Lager angeschlossen war ein TBC-Sanatorium in Steinatal (1946-1947).

Gründung des Orts Trutzhain

Flüchtlinge und Heimatvertriebene aus Schlesien, Ostpreußen, Westpreußen, Pommern, dem Sudetenland und anderen Gebieten im Osten fanden ab 1948 in dem ehemaligen Lager eine neue Heimat. Sie machten aus dem Lager ein Dorf. Die Siedlung wurde das erste Gewerbegebiet im Altkreis Ziegenhain. Der Ort erhielt den Beinamen "Ruhrpott der Schwalm", weil die rd. 500 Flüchtlinge und Vertriebenen in kürzester Zeit Betriebe gründeten und über 200 Arbeitsplätze schufen.

Die Hauptstraße der Ortschaft ist noch heute von den ehemaligen Lager-Baracken gesäumt, die heute objektsaniert als Wohnhäuser dienen. Durch die Privatisierung der Baracken an die Heimatvertriebenen wurden die Bauwerke bis heute erhalten. Inzwischen gibt es in Trutzhain eine Gedenkstätte und Museum, die die Vergangenheit des Ortes dokumentiert. Sie wird von einer Historikerin und einem Stab Freiwilliger betreut.

Kirchliches Leben und Brauchtum

Seit 1949/1950 wird an jedem ersten Sonntag im Juli die Quinauer Wallfahrt in Trutzhain begangen. Heimatvertriebene aus Komotau (Tschechien) hatten diese Wallfahrt bereits zur Zeit der Flüchtlingssiedlung, noch vor der Gemeindewerdung, mit nach Trutzhain gebracht. In der Wallfahrtskirche „Maria-Hilf“ ist das Gnadenbild der schwangeren Madonna zu sehen. Die Wallfahrt ist die einzige in Nordhessen und die zentrale Veranstaltung der Schwälmer Katholiken. 2008 entwarfen Studenten der Kasseler Werkakademie für Gestaltung sechs einzigartige Messgewänder für die Quinauer Wallfahrt, die auch in der Ausstellung und im Katalog zum 11. Hessischen Gestaltungspreis gezeigt wurden.

2006 wurde der Pfarrverbund Maria Hilf Schwalmstadt errichtet. Ihm gehören vier katholische Pfarrkuratien und drei Seelsorgestellen im Altkreis Ziegenhain an. Die Quinauer Wallfahrt wird in Trutzhain und im tschechischen Blatno-Quinau (Kvetnov) gefeiert, und beide Gemeinden stehen miteinander in Kontakt.

Die Evangelische Kirchengemeinde traf sich zunächst in einer improvisierten Lagerkirche und konnte 1957 ihre neu errichtete Kirche einweihen. Das von der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck (EKKW) errichtete "Evangelische Pfarramt Steinatal in Trutzhain" war auch für das Schwälmer Dorf Steina und für die Melanchthonschule Steinatal der EKKW zuständig.

Trutzhain ist Sitz des Zweigvereins Hessen des Mährisch-Schlesischen Sudetengebirgsvereins. Zu ihm gehört auch das Wanderheim Hergertsmühle im Knüllgebirge bei Neukirchen-Seigertshausen.

Frieden und Aussöhnung

Im Rahmen eines ökumenischen Festgottesdienstes reichten sich 1970 in der Wallfahrtskirche Maria Hilf ehemalige Kriegsgegner die Hände. Auf Einladung der Kyffhäuserkameradschaft Trutzhain besuchten ehemalige französische Kriegsgefangene erstmals Trutzhain. Seitdem entstanden viele Kontakte zwischen heimatvertriebenen Trutzhainern und ehemaligen französischen Kriegsgefangenen. Durch die Zusammenarbeit entstand 1983 das "Museum für den Frieden".

Durch die heimatvertriebenen Pilger entstanden auch schon früh Kontakte zwischen der Trutzhainer Kirchengemeinde und denen in Görkau und Komotau (Tschechien). Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs 1990 pilgerten Heimatvertriebene auch wieder nach Quinau zur Wallfahrt. 2005 besuchte erstmals eine Jugendgruppe aus dem Kreis Komotau Trutzhain. 2008 nahm erstmals auch ein Quinauer Pfarrer an der Wallfahrt in Trutzhain teil.

Entsprechende Versöhnungsarbeit und Kontakte zu den Familien der im Lager umgekommenen Bürger der UdSSR fielen schwerer. Erst spät begann man mit Versuchen, die Namen der russischen Lagerinsassen zu ermitteln. Glücklicherweise bauten kirchliche Denkschriften und die Ostpolitik der Bundesregierung in den 1970er Jahren Brücken für Begegnungen.

Persönlichkeiten

  • Martin Grzimek (* 8. April 1950 in Trutzhain), Schriftsteller
  • Horst Munk (†), 2003 Bundesverdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland für die Aussöhnung zwischen ehemaligen Kriegsgegnern
  • Dentin, Pierre, Abbé (* 12. August 1911; † 9. Mai 2000), Kriegsgefangener, Seelsorger und Vertrauensmann der französischen Kriegsgefangenen und Initiator der Aussöhnung zwischen den französischen Kriegsgefangenen und den Heimatvertriebenen Trutzhainern, Mitbegründer des Museums für den Frieden in Trutzhain 1983, ausgezeichnet mit dem Bundesverdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland 1985, Straßenbenennung "Abbé-Pierre-Dentin-Allee" 2001.

Literatur

  • Andreas Kossert: Kalte Heimat Die Geschichte der deutschen Vertriebenen nach 1945. Siedler Verlag, München 2008. 431 Seiten, ISBN 978-3-88680-861-8.
  • Martin Grzimek: Trutzhain, ein Dorf. Carl Hanser Verlag, 1984, ISBN 3-446-14001-8.
  • Filz, Ley, Munk, Scholz, Steidl: Chronik von Trutzhain 1951 - 2001. Herausgeber: Stadt Schwalmstadt 2001.
  • Martha Kent: Eine Porzellanscherbe im Graben - Eine deutsche Flüchtlingskindheit. Fischer Verlag, 2. Auflage Nov. 2004, ISBN 3-596-16442-7
  • Katholische Pfarrkuratie Maria-Hilf: Quinauer Wallfahrt in Trutzhain. Herausgeber: Katholische Pfarrkuratie Maria-Hilf, 2003.

Weblinks

50.9027777777789.27388888888897Koordinaten: 50° 54′ N, 9° 16′ O


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