Sensualismus

Sensualismus

Der Sensualismus ist eine besonders in England, davon ausgehend aber auch in Frankreich, heimische philosophische Richtung, die Erfahrung auf individuelle Sinneseindrücke (d.h. aus neurophysiologischen Reizen) bzw. Wahrnehmungen bezieht. Der Sensualismus ist damit eine spezifische Form des Empirismus.

Der Begriff „Sensualismus“ war zum ersten Mal 1804 von dem Franzosen Joseph Marie Degérando in seiner Geschichte der Philosophie verwendet worden. Er bezeichnete damit neuzeitliche Erkenntnistheorien, die physisches Empfinden als Ursprung allen Denkens und Handelns auffassten. In der Folge wurde die Bezeichnung „Sensualismus“ als philosophiehistorische Kategorie genutzt und auch auf vergleichbare Sichtweisen antiker Philosophen angewendet.[1]

Inhaltsverzeichnis

Antiker Sensualismus

Hauptartikel Philosophie der Antike

Es werden Vertreter der Kyniker, Sophisten, Skeptiker und Stoiker zu den Sensualisten gezählt. Antisthenes, Protagoras, Gorgias, Epikur, Zenon, Pyrrhon, Sextus Empiricus gehörten zu den bekanntesten. Ihre sensualistischen Auffassungen waren sehr unterschiedlich ausgeprägt.

Im Wesentlichen meinten diese Philosophen, dass Wahrnehmen den sinnlichen Empfindungen entspräche. Empfinden wurde daher mit Wahrnehmen gleich gesetzt. Was sich beim Wahrnehmen zeigte, nannte man „Phänomene“ (altgr.: „phainomena“). Mit diesem Wort hatte man davor nur die auf- und untergehenden Gestirne bezeichnet, nach deren Konstellationen die seefahrenden Griechen ihren Kurs nahmen. Philosophisch hieß das nun: Jeder gehe von dem aus, was sich ihm jeweils zeige und messe daran seine Entscheidungen. „Die Dinge sind für mich so, wie sie mir erscheinen und für Dich so, wie sie Dir erscheinen.“ meinte Protagoras. In diesem Sinne wurde jeder Mensch zum „Maß aller Dinge“. Daraus ergab sich auch: Wahr sei das, was jeder für wahr halte, bzw. alles sei falsch, meinte der Sophist Gorgias. Die Konsequentesten unter ihnen entschieden sich für Zurückhaltung: Für Wahrheit habe der Mensch kein Maß, bzw. kein Kriterium und darum solle man von Wahrheit gar nicht erst reden.

Wissen, war das Ergebnis eigener Erfahrungen und wurde daher als veränderlich und individuell bestimmt betrachtet. Es musste sich immer wieder neu bewähren. Sensualisten schlussfolgerten daraus: Ein Wissen, das immer und für jeden gleich gültig, d.h. allgemeingültig sei, gäbe es nicht. Das geflügelte Wort: „Ich weiß, dass ich nichts weiß!“, knüpfte an diese Einsicht an.

Zwei weitere gemeinsame Merkmale ihrer Auffassungen waren die Ablehnung mythischer Auffassungen und die Akzeptanz der Grenzen menschlicher Wahrnehmung. Antike Sensualisten verneinten die Möglichkeit, Kenntnisse über Götter zu erhalten. Glauben könne man darüber hinaus, was man wolle. Sie stellten aber aus Angst vor Verfolgung selten ausdrücklich die Existenz der Götter in Frage. Grenzen menschlichen Wissens anzuerkennen und Zurückhaltung im Urteilen charakterisierte deshalb sensualistische Philosophen. Dies brachte ihnen die Bezeichnung „skeptikoi“ ein. Als „skeptikos“ galt unter den Griechen jemand, der gern und gründlich forschte.

Sinnliches Wahrnehmen war nicht nur Basis menschlichen Wissens, sondern auch Basis des Handelns und Verhaltens. Orientierungen dafür zu lieferen, hielten sie für die zentrale Aufgabe von Philosophen. Sie rieten, sich in allem Menschlichen an natürlichen Abläufen und Gegebenheiten, anstatt an traditionellen mythischen Auffassungen auszurichten. Jeder solle sich so verhalten, wie es ihm nach gründlichen Nachdenken selber Freude und Vergnügen mache. Dieser Ansatz wurde von neuzeitlichen Philosophiehistorikern als Hedonismus bezeichnet. Prinzipiell achteten Sensualisten die hellenische Moral und religiösen Bräuche. An die Stelle eines absoluten Guten setzten sie dasjenige, was allen gemeinsam nützt.[2]

Für die erfolgreiche, gemeinschaftliche Gestaltung des Lebens in den griechischen Stadtstaaten kam es auch darauf an, sich untereinander über Wissen auszutauschen. In den Volksversammlungen warben Einzelne für ihre Auffassungen zum Wohle der Stadt. Es war daher wichtig, sich klar und mitreißend ausdrücken zu können. Sensualistische Philosophen befassten sich mit Sprachforschung. Sie stellten ihre Kenntnisse jungen und erwachsenen Bürgern zu Verfügung und lehrten sie Reden zu halten, die andere überzeugen konnten. Diese Dienste nahmen politisch ambitionierte Athener gern in Anspruch. Da sensualistische Philosophen damit Geld verdienten, wurden sie von Philosophen der platonischen Akademie moralisierend kritisiert. Letztere hielten solche gesellschaftlichen Dienste für eine pflichtgemäße und kostenfreie Leistung.

Sensualismus im Mittelalter

Hauptartikel Philosophie des Mittelalters

Die Auffassung, dass sinnliche Wahrnehmung Ursprung von Wissen sei, blieb auch in den Erkenntnistheorien des Mittelalters erhalten. Im Mittelalter herrschte aber die christliche Weltanschauung, die sich deutlich von der antiken griechischen unterschied. Sensualistische Aspekte des Philosophierens waren nur bedingt akzeptabel.

In der antiken Weltanschauung bestimmten unberechenbare Götter auf willkürliche Weise das Leben der Menschen. Unberechenbare philosophische Auffassungen wie die sensualistische entsprachen diesem Lebensgefühl. Im Zentrum der christlichen Weltanschauung des Mittelalters dagegen stand ein Gottesbild, das einem rechtgläubigen Christen einen Rahmen gab, in dem alles in ganz bestimmter Weise geordnet war. Dieser Rahmen erforderte es, dass auch Wissen einen allgemeingültigen und verlässlichen Charakter brauchte. Protagoräische, individuelle Sichten als Ursprung des Wissens kamen deshalb nicht in Frage. Letztere wurden als ketzerisch empfunden und von nun an galten Skeptiker als Zweifler, die sich dem Heil der Wahrheit verweigerten.[3]

Bis ins Hochmittelalter war die augustinsche Erkenntnistheorie vorherrschend. Sie garantierte die Verlässlichkeit sinnlicher Erfahrung durch den Glauben daran, dass die Geist-Seele jedes Menschen unmittelbar mit Gott verbunden sei. Die Wahrnehmung habe lediglich die Funktion die Geist-Seele zu innerer Erkenntnis anzuregen. Die menschliche Tätigkeit des Erkennens werde von göttlicher Bewegung geführt, die Augustinus Vernunft nannte. Der jeweils eigene Glaube an die das eigene Leben umfassende Führung Gottes war der Garant dafür, dass man die wahre Ordnung und das wahre Wesen der Dinge und Ereignisse im „Licht der inneren Wahrheit“, bzw. mit Hilfe der „Vernunft Gottes“ erkennen konnte. Diese Erkenntnistheorie wurde als „Illuminationslehre“ bezeichnet. Sie wird auch heute noch von christlichen Philosophen zur Lösung erkenntnistheoretischer Probleme verwendet. Wissen, wie es kirchliche Autoritäten lehrten, wurde so auch für Philosophen zum objektiven Wissen. [4]

Mit der Verbreitung der aristotelischen Schriften durch arabisch-muslimische Gelehrte wurden sensualistische Aspekte der Wahrnehmung wieder stärker in die Aufmerksamkeit der mittelalterlichen Philosophen gerückt. Thomas von Aquin ging davon aus, dass nichts vom Menschen erkannt werde, dass er nicht sinnlich empfunden habe: „Nichts ist im Geiste, was nicht vorher in den Sinnen war!“ Er schränkte die alles umfassende Illuminationslehre Augustins auf Glaubensaussagen ein. Für Aussagen über die Welt, über Dinge und Ereignisse, die wissenschaftlich erforscht werden konnten, verneinte er eine direkte Erleuchtung. Die Verlässlichkeit des Wissens garantierte Thomas mit seiner Variante der aristotelischen Abstraktionslehre , die er mit dem Rahmen der christlich-göttlichen Weltordnung verband. Er ging davon aus, dass natürliche Gesetzmäßigkeiten und das was ein jedes Ding eigentlich ausmacht, d.h. sein Wesen ausschließlich über die Sinne erkannt werden kann. Der Geist des Menschen sei in der Lage aus dem konkreten Einzelnen, die jeweils allgemeingültigen wirklichen Zusammenhänge und Wesensmerkmale herauszufiltern, wörtlich „abzuziehen“, um sie zu erkennen.[5]

Im 11. und 12. Jahrhundert wurde von den philosophierenden, franziskanischen Klerikern Roscelin von Compiègne und Peter Abälard diese Möglichkeit der Gewissheit in Frage gestellt. Sie bestritten nicht die Abstraktionslehre. Doch sie hielten Abstrahiertes nicht für wirklicher als das konkrete Einzelne, das Menschen wahrnehmen. Sie behaupteten sogar, dass das Einzelne die einzige Realität sei, auf das sich Erkenntnis beziehen könne. Dieser sensualistische Unterschied kennzeichnete das Problem der sich durch das gesamte Mittelalter ziehenden Meinungsverschiedenheiten im Universalienstreit, der weit aus radikaler schon in der platonischen Akadamie begonnen hatte.[6]

Mit Roscelin und Abälard hatte eine philosophische Entwicklung begonnen, die den Empirismus der Neuzeit und eine Wiederaufnahme sensualistischer Auffassungen einleitete. Roger Bacon wurde von dieser Entwicklung dazu angeregt, sich im 13. Jahrhundert entschieden für empirische Methoden in den Naturwissenschaften einzusetzen.

Neuzeitlicher Sensualismus

Hauptartikel Philosophie der Neuzeit

Der theoretische Sensualismus wurde – nach Vorarbeiten von Thomas Hobbes – begründet durch John Locke, der seinen Ansatz mit einem Satz des Thomas von Aquin rechtfertigte: „Nihil est in intellectu, quod non fuerit in sensu“ (Nichts ist im Verstande, was nicht [zuvor] im Sinne war)[7]. Dem widersprach bereits Leibniz mit dem Zusatz „nisi intellectus ipse“ (ausgenommen der Geist selbst). Locke leitete noch sämtliche einfachen Begriffe von äußeren Eindrücken ab, die zusammengesetzten (Substanzen, Zustände, Beziehungen) dagegen von „innerer Erfahrung“, gleich Reflexion. Diese Theorie wurde von Pierre Gassendi unterstützt, allerdings mit der Modifikation, dass in der Mathematik die deduktive Methode sinnvoll sei. Fortgeführt wurden Lockes Überlegungen durch David Hume, der sämtliche Ideen von sinnlichen Eindrücken ableitete: für ihn war das Bewusstsein nicht mehr als ein Bündel von Sinneswahrnehmungen. Das Übersinnliche könne nicht Wissensgegenstand sein; Kausalität sei kein Naturprinzip, sondern lediglich unser subjektiver Eindruck von der Abfolge verschiedener Phänomene. George Berkeley negierte nicht nur die objektive Basis der Ideen, sondern das materielle Universum insgesamt und postulierte, ein Ding existiere nur dadurch, dass es wahrgenommen werde („esse rei est percipi“). Dieser strenge Empirismus ist die Antwort auf den Rationalismus von Descartes, Leibniz und Spinoza, die sämtliche Sinneseindrücke für zweifelhaft und somit unzuverlässig hielten; im Gegenzug hält der strenge Sensualismus alles für Täuschung, was über die sinnliche Wahrnehmung hinausgeht.

In ethischer Beziehung versteht man unter Sensualismus die im Altertum namentlich von der Epikureischen Schule (Aristippos von Kyrene), in der neuern Zeit von Thomas Hobbes und den französischen Naturalisten vertretene Ansicht, wonach es für die Begriffe Gut und Böse keinen andern Maßstab als die sinnliche Lust und Unlust geben soll. Diese Spielart schlägt die Brücke zum Utilitarismus. Die schottischen Philosophen Francis Hutcheson und Adam Smith dagegen machten anstatt der Sinnenlust den angeborenen Sinn für Moral (moral sense oder common sense) zum Maßstab in sittlichen Dingen. Dieser moralische Sensualismus wurde wiederum in Deutschland fortgeführt von Friedrich Heinrich Jacobi.

Dem Sensualismus wird vorgehalten, er sei geistfeindlich und öffne dem Materialismus Tür und Tor. Étienne Bonnot de Condillac etwa habe im Traité des sensations (1754) sämtliche Funktionen der Seele auf rein mechanische Weise auf die ihnen zugrundeliegenden Empfindungen zurückgeführt und so die Persönlichkeit des Menschen verneint. Auf der anderen Seite legte der Sensualist Berkeley großen Wert auf die Bedeutung des Geistes (durch den Gott die Empfindungen vermittelt), und der Kernpunkt von Jacobis Moralphilosophie ist „die schöne Seele“.[8]

Weblinks

  • Andrea Eckert: Die Imagination der Sensualisten, Aufklärung im Spannungsfeld von Literatur und Philosophie, Universitäts- und Landesbibliothek Bonn, Philosophische Fakultät, 2005

Einzelnachweise

  1. Johannes Hirschberger. Geschichte der Philosophie. Köln (Komet) 2007, S. 9 ff.
  2. Wolfgang Röd (1995): Der Weg der Philosophie. München (Beck) 2. Auflage, 2009.
  3. Johannes Hirschberger: Geschichte der Philosophie. Freiburg (Herder)13./14. Auflage, 1991. S. 345-374; 464-529.
  4. Christoph Horn (1995): Augustinus. München (Beck) S. 61 ff.
  5. Maximilian Forschner (2006): Thomas von Aquin München (Beck), S. 36ff.
  6. Alain de Libera (2005): Der Universalienstreit: von Platon bis zum Ende des Mittelalters. München (Wilhelm Fink).
  7. Thomas von Aquin, Quaestiones disputatae de veritate, q. 2, a. 3, arg. 19 .
  8. Karl Vorländer: Geschichte der Philosophie. Hamburg (rowohlt tb)1990.

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