Shanghaier Ghetto

Shanghaier Ghetto

Das Shanghaier Ghetto war ein Areal von ungefähr 2,5 km² im Stadtbezirk Hongkou der chinesischen Stadt Shanghai, in dem etwa 20.000 jüdische Flüchtlinge, hauptsächlich aus dem Deutschen Reich, den Holocaust in der von Japan besetzten Stadt überlebten.

Inhaltsverzeichnis

Hintergrund

Nach 1933 sahen sich die Juden in Deutschland, nach der „Machtergreifung“ durch die Nationalsozialisten, sich immer weiter verschärfenden Repressalien ausgesetzt (vgl. Nürnberger Rassengesetze). Mit den Novemberpogromen von 1938 schließlich mussten die Juden erkennen, dass ein gesichertes und würdiges Leben im Deutschen Reich unmöglich sein würde. Daher begann eine große Zahl Juden um Asyl im benachbarten Ausland zu bitten. Vielfach wurden Juden gar interniert, um ihnen dann ein Ultimatum zur Ausreise zu stellen. Viele Staaten konnten oder wollten jedoch oftmals keine Juden aufnehmen, so dass es sehr schwer wurde, das deutsche Reichsgebiet zu verlassen. Chaim Weizmann schrieb 1936: „Die Welt scheint zweigeteilt – in die Orte, wo Juden nicht leben können, und jene, in die sie nicht einreisen dürfen“.[1] Nach dem Scheitern der Konferenz von Evian verschärfte sich die Lage zusehends.

Shanghai nach 1937

Nach der Schlacht um Shanghai (1937) fiel die Stadt an das Kaiserreich Japan. Die Japaner sahen jedoch kein offizielles Einreiserecht für Shanghai vor, so dass dort eine Einreise ohne Visa möglich wurde. Lediglich zum Verlassen des Deutschen Reichsgebiets waren Visa erforderlich. Viele solcher Visa wurden von 1938 bis 1940 vom chinesischen Generalkonsul in Wien, Ho Feng Shan, entgegen den offiziellen Anweisungen seines Botschafters ausgestellt. Ebenso stellte der japanische Diplomat Sugihara Chiune in Litauen derartige Visa aus. Beide wurden 2001 bzw. 1985 mit dem Titel Gerechter unter den Völkern geehrt.

In Shanghai gab es bereits zwei jüdische Gemeinden: die Baghdadi-Juden, sowie die eine Gemeinde russischer Juden, die nach der Oktoberrevolution aus Russland geflohen waren. Unter jenen, die sich vor dem Holocaust retten konnten, befanden sich auch die letzten Leiter und Schüler europäischer Yeshivot (Mehrzahl von Yeshiva).

Ankunft der deutschen Juden

Einige Flüchtlinge waren in der Lage, Fahrkarten für luxuriöse japanische Dampfschiffe zu erwerben, die Europa von Genua aus verließen. Die Flüchtlinge beschrieben die dreiwöchige Reise mit reichhaltiger Verpflegung und Unterhaltungsprogrammen angesichts der Umstände als „surreal“. Einige Passagiere versuchten, sich in Ägypten in das britische Mandatsgebiet Palästina einzuschmuggeln.

Die japanische Besatzungsmacht in Shanghai ließ jüdisches Eigentum konfiszieren und verhängte eine Ausgangssperre; zum Verlassen des Ghettos war ein Passierschein notwendig. Der größte Teil der Flüchtlinge kam nach 1937, 1939 wurde die Einreisebestimmungen verschärft, und erst mit dem japanischen Angriff auf Pearl Harbor im Dezember 1941 wurde eine Flucht in das Ghetto von Shanghai unmöglich.

Leben im Ghetto

Die große Zahl der Einwanderer traf die japanischen Behörden unvorbereitet. Daher trafen die Ankommenden auf desaströse Lebensbedingungen: 10 Menschen lebten in einem Raum, ständiges Hungerleiden, katastrophale hygienische Verhältnisse, sowie kaum Gelegenheit den eigenen Lebensunterhalt mit Arbeit zu bestreiten. Teilweise traf dies auch auf die einheimischen Chinesen zu.

Die schon länger in Shanghai beheimatete Gruppe von Juden, die sogenannten „Baghdadi“, und später das American Jewish Joint Distribution Committee (JDC) versuchten diese Verhältnisse zu verbessern. Trotz Sprachbarrieren, schlimmer Armut und grassierenden Epidemien waren die Geflüchteten in der Lage, ein eigenes funktionierendes Gemeinwesen aufzubauen: Schulen wurden eingerichtet, Zeitungen verlegt und sogar Theaterspiele, Kabaretts und Sportwettkämpfe veranstaltet.

Nach Pearl Harbor (1941–43)

Nach dem japanischen Angriff auf Pearl Harbor wurden viele der wohlhabenden Baghdadi, da sie oft britische Staatsbürger waren, interniert und amerikanische Spendenfonds beschlagnahmt. Nachdem damit eine Unterstützung durch die amerikanischen Juden unmöglich wurde, verschlechterten sie die Verhältnisse weiter.

Lediglich Laura Margolis schaffte es, von den japanischen Behörden die Erlaubnis zu erhalten, die JDC-Arbeit mit Hilfe der vor 1937 eingewanderten russischen Juden fortzusetzen.

Verschärfung (1943–45)

Mit Fortschreiten des Zweiten Weltkriegs erhöhten die Nationalsozialisten den Druck auf Japan, ihnen die Juden in Shanghai zu übergeben oder selbst für deren Ermordung zu sorgen. Nach Warren Kozak bestellte der japanische Militärgouverneur einmal die Führer der jüdischen Gemeinden zu sich und fragte neugierig: „Warum hassen euch die Deutschen so sehr?“

Reb Kalish antwortete auf Yiddisch: „Zugim weil mir senen orientalim“ – „Sag ihm, weil wir aus dem Orient stammen.“ Der Gouverneur antwortete mit einem Lächeln. Trotz der Allianz mit dem Deutschen Reich wurden die Juden letztendlich nie ausgeliefert.[2]

Am 15. November 1942 wurde endgültig beschlossen, die Juden zu ghettoisieren. Am 18. Februar 1943 erklärten die Japaner, dass bis zum 15. Mai alle Juden, die nach 1937 eingetroffen waren, fortan ihre Wohnungen und Geschäfte in den „ausgewiesenen Bezirk“ zu verlegen hatten. Obwohl die Japaner vereinzelt das Arbeiten außerhalb des Ghettos erlaubten, verschlechterten sich naturgemäß die Lebensbedingungen weiter.

Die US-Luftangriffe auf Shanghai begannen 1944. Der für die Juden schwerste erfolgte im Juli 1945, als eine Funkanlage im Hongkou-Bezirk zerstört werden sollte: 31 Flüchtlinge wurden getötet, 500 verwundet und 700 obdachlos.

Einige Juden im Ghetto von Shanghai beteiligten sich sogar an Sabotageakten gegen japanische Einrichtungen und halfen abgesprungenen amerikanischen Piloten in das unbesetzte China zu entkommen.

Befreiung

Das Ghetto wurde offiziell am 3. September 1945 befreit – nach einiger Verzögerung, da man der Armee Chiang Kai-sheks bei der Einnahme den Vortritt lassen wollte. Mit der Gründung des Staates Israel 1948 und dem Ende Chiang Kai-sheks 1949 verließen beinahe alle Juden Shanghai. 1957 verblieben nur noch einige 100 Juden.

Siehe auch

Literatur

deutsch
  • Franziska Tausig: Shanghai Passage. Flucht und Exil einer Wienerin Verlag für Gesellschaftskritik: Wien 1987. XII, 154 S. ISBN 3-900351-65-1 (Biografische Texte zur Kultur- und Zeitgeschichte, 5).
  • Hertha Beuthner: Über Moskau nach Shanghai. S. 280–298 (nach dem Manuskript von 1946 im Leo Baeck Institut New York) zuletzt 2002. In: Andreas Lixl-Purcell (Hrsg.): Erinnerungen deutsch-jüdischer Frauen 1900–1990. Reclam: Leipzig 1992. 458 S. u. ö. ISBN 3-379-01423-0.
  • Vivian Jeanette Kaplan: Von Wien nach Shanghai. Die Flucht einer jüdischen Familie. Deutscher Taschenbuch Verlag: München 2006. 297 S. ISBN 3-423-24550-6 (dtv, 24550). Aus dem Englischen von Kurt Neff & Sibylle Hunzinger. Originaltitel: Ten Green Bottles. The True Story of One Family's Journey from War-torn Austria to the Ghettos of Shanghai. St. Martin's Press, 2004. IX, 285 S. ISBN 0-312-33054-5.
  • Gertrud Seehaus, Peter Finkelgruen: Opa und Oma hatten kein Fahrrad. Books on Demand: Norderstedt 2007. 80 S. ISBN 3-8370-1359-6.
  • Ursula Krechel: Shanghai fern von wo. Roman. Jung & Jung: Salzburg, Wien 2008. 500 S. ISBN 978-3-902497-44-4 (eine Mischung aus Zeitzeugen-Erinnerungen und Roman). Rezension: RP 11. September 2008, FAZ 28. September 2008 und 29. Januar 2009.
  • James R. Ross: Juden in Shanghai. Eine jüdische Gemeinde in China. Kitab-Verlag: Klagenfurt 2009. Aus dem Englischen von Hanna Halper. 190 S. ISBN 978-3-902585-34-9.
  • Siegfried Englert, Folker Reichert: Shanghai. Stadt über dem Meer, ISBN 3920431359
  • Izabella Goikhman: Juden in China: Diskurse und ihre Kontextualisierung., Münster, Berlin, Hamburg: LIT, 2007
englisch
  • Rabbi Marvin Tokayer, Mary Swartz: The Fugu Plan. The Untold Story of the Japanes and the Jews During World War II. Paddington Press: New York u. a. 1979. Sowie: Gefen Publ. House: Jerusalem, New York 2004. XXI, 287 S. ISBN 0-448-23036-4 und ISBN 965-229-329-6.
  • Sigmund Tobias: Strange Haven. A Jewish Childhood in Wartime Shanghai. University of Illinois Press: Urbana, Chicago 1999. XXIV, 162, [10] S. ISBN 0-252-02453-2.
  • Samuel Iwry & Leslie J.H. Kelley (Hrsg): To Wear the Dust of War. From Bialystok to Shanghai to the Promised Land. An Oral History. Palgrave Macmillan: New York 2004. XXVI, 214 S. ISBN 1-4039-6576-5 (Palgrave Studies in Oral History).

Weblinks

Quellen

  1. Manchester Guardian, 23. Mai 1936, in: A.J. Sherman: Island Refuge, Britain and the Refugees from the Third Reich, 1933–1939. Elek Books: London 1973. S. 112. Ebenso in The Evian Conference – Hitler's Green Light for Genocide von Annette Shaw.
  2. Warren Kozak: The Rabbi of 84th Street: The Extraordinary Life of Haskel Besser. HarperCollins: New York 2004. ISBN 0-06-051101-X. S. 177.
31.265121.505

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