Spinnstube

Spinnstube

Spinnstube (auch Lichtstube, Rockenstube, Kunkelkammer oder Brechelstube), der ehemals auf dem flachen Land und namentlich in den Gebirgsgegenden weitverbreitete Gebrauch, die langen Winterabende gemeinsam in geselliger Handarbeit hinzubringen.

Die Spinnstuben waren in den Wintermonaten Treffpunkte der unverheirateten Frauen in einem Dorf. Üblicherweise traf sich ein Mädchenjahrgang, um für seine Aussteuer zu spinnen und andere Handarbeiten zu verrichten. Die gemeinsame Arbeit diente nicht nur der Geselligkeit, sondern auf diese Weise konnte man Licht und Feuer sparen.

Junge Männer besuchten die Spinnstuben normalerweise nicht. So lange sie noch zu jung waren, um eine Wirtschaft zu besuchen, trafen sie sich in ihren Altersjahrgängen getrennt von den Mädchen. Allerdings war es vielfach üblich, dass die Burschen die Mädchen am Ende des Abends besuchten und nach Hause begleiteten. Das war eine der wenigen Gelegenheiten wo es möglich war, halbwegs unbeobachtet eine Beziehung anzubahnen. Trotzdem galten die Spinnstuben bei den Ortspfarrern und bei der Obrigkeit als Orte sexueller Ausschweifung.

Das spiegelt noch der Artikel in Meyers Konversationslexikon von 1888-1890 wieder:

Licht- oder Spinnstuben sind Orte einer sehr lebendigen dörflichen Kultur, die darauf abzielte, Arbeit und Leben miteinander zu versöhnen. Die Spinnstube wird abwechselnd auf dem einen oder anderen Hof abgehalten, die Frauen und Mädchen spinnen, die Burschen machen Musik, oder es werden Volkslieder gesungen, Hexen- und Gespenstergeschichten erzählt und allerlei Kurzweil dabei getrieben. Die Spinnstuben dienten nämlich nicht nur dem Broterwerb, sondern waren Nachrichtenbörsen und kritisches Forum sowie Ort für jugendliche Sexualkultur und feuchtfröhliche Ausgelassenheit. Wegen der dabei vorkommenden Ausschreitungen in sittlicher Beziehung mussten in verschiedenen Ländern ‚Spinnstubenordnungen‘, d. h. polizeiliche Regelungen bezüglich der Zeit und Dauer des Beisammenseins, erlassen werden, im Bereich des ehemaligen Kurhessen wurden sie bereits 1726 gänzlich verboten. Von diesen Geselligkeiten sind weit über Mitteleuropa hinaus zahlreiche Volkserzählungen, historische Abbildungen und Spinnstubenlieder überliefert.

Ernest Borneman nennt insbesondere folgende obszöne Begriffe aus dem Spinnstubenjargon:

  • Brechelbraut, Flachskönigin, Handelsbraut, Raufbraut. Das hübscheste Mädchen wurde zur Zeit des Flachsbrechens zur Brechelbraut gewählt.
  • Brechelbusch. Die Brechelbraut besaß als Szepter einen mit Bändern verzierten Tannenwipfel, den sie unter die Burschen warf, damit sie sich darum rauften. Wer ihn eroberte gewann die Gunst der Brechelbraut.
  • Farkel. An der Rückseite ihres Kittel trug die Brechelbraut einen Flachskranz, den die Burschen mit einem Eimer Wasser zu „tränken“ versuchten, um das Mädchen dazu zu bringen, Röcke und Unterröcke zum Trocknen aufzuhängen.
  • Agenschoppen. Der Flachsabfall (Agen wurde den Burschen von den Mädchen in die Hosenbünde gestopft, was als spielerischer Vorwand zu einem schnellen Griff an das „beste Stück“ diente.
  • Fleischhaufen. Nach dem Tanz ließen sich alle Teilnehmer auf den Boden fallen, wobei ein möglichst hoher Menschenhaufen entstehen sollte, in dem Gelegenheit zur gegenseitigen Berührung gegeben war. Besonders diese Sitte erregte den Anstoß und wurden in zahlreichen Predigten verurteilt.
  • flachsbrecheln, flachsen. „Unsinn erzählen“, „dumme Scherze machen“
  • haardörren. „Flachs trocknen“ oder „koitieren“
  • Brechelkinder. Im geborene Kinder, die angeblich während des Flachsbrechelns in den Wintermonaten in den Spinnstuben gezeugt wurden.

In Nachahmung dieser alten Dorfsitte wurden im Palast Emanuels d. Gr. zu Évora, wo die glänzendste Periode des portugiesischen Hoflebens sich abspielte, die von mehreren Dichtern geschilderten „portugiesischen Spinnstuben“ (Seroëns de Portugal) abgehalten.

Weblinks

Literatur

  • Henkhaus, Uwe: Das Treibhaus der Unsittlichkeit. Lieder, Bilder und Geschichte(n) aus der hessischen Spinnstube, 1991
  • Bornemann, Ernst: Der obszöne Wortschatz der Deutschen, Neuauflage Köln 2003, 2. Teil, Wörterbuch nach Sachgruppen, Abschnitt 52 „Sitten und Gebräuche“
Meyers Konversationslexikons logo.svg Dieser Artikel basiert auf einem gemeinfreien Text aus Meyers Konversations-Lexikon, 4. Auflage von 1888–1890. Bitte entferne diesen Hinweis nur, wenn du den Artikel so weit überarbeitet oder neu geschrieben hast, dass der Text den aktuellen Wissensstand zu diesem Thema widerspiegelt und dies mit Quellen belegt ist, wenn der Artikel heutigen sprachlichen Anforderungen genügt und wenn er keine Wertungen enthält, die den Wikipedia-Grundsatz des neutralen Standpunkts verletzen.

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  • Spinnstube — (auch Lichtstube), der ehemals in Ackerbaubezirken und im Gebirge weitverbreitete Brauch, die langen Winterabende gemeinsam in geselliger Handarbeit hinzubringen. Die S. wanderte von dem einen zum andern Hofe, die Frauen und Mädchen spannen, die… …   Meyers Großes Konversations-Lexikon

  • Spinnstube — Spịnn|stu|be 〈f. 19〉 Bauernstube, in der früher die Mädchen u. Frauen an Winterabenden zum Spinnen, Singen u. Geschichtenerzählen zusammenkamen * * * Spịnn|stu|be, die (früher): (in den Dörfern) Raum, in dem an Winterabenden Frauen u. Mädchen… …   Universal-Lexikon

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  • Spinnstube — Spịnn|stu|be …   Die deutsche Rechtschreibung

  • Lichtstube — Spinnstube (auch Lichtstube, Rockenstube oder Brechelstube), der ehemals auf dem flachen Land und namentlich in den Gebirgsgegenden weitverbreitete Gebrauch, die langen Winterabende gemeinsam in geselliger Handarbeit hinzubringen. Die Spinnstuben …   Deutsch Wikipedia

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