Sprachfähigkeit

Sprachfähigkeit

Die Psycholinguistik ist die Wissenschaft von der menschlichen Sprachfähigkeit. Traditionell wird die Psycholinguistik in drei Bereiche unterteilt, die Sprachwissensforschung, die Spracherwerbsforschung und die Sprachprozessforschung.

  • Die Sprachwissensforschung fragt nach dem Wissen, über das ein kompetenter Sprecher einer Sprache verfügen muss. So müssen etwa nicht nur die Bedeutungen einzelner Wörter bekannt sein, ein Sprecher muss auch wissen, nach welchen Prinzipien diese Wörter zu Sätzen zusammengefügt werden können.
  • Die Spracherwerbsforschung untersucht, wie heranwachsende Kinder sprachliches Wissen erwerben und anwenden.
  • Von einem kompetenten Sprecher wird nicht nur gefordert, dass er über abstraktes Wissen verfügt, vielmehr muss dieses Wissen erfolgreich zur Anwendung gebracht werden. Die Sprachprozessforschung untersucht daher, welche Aufgaben gemeistert werden müssen, wenn man eine sprachliche Äußerung verstehen oder produzieren will.

Psycholinguistische Theorien werden anhand verschiedener Typen von Daten entwickelt. Zum einen sind viele Eigentümlichkeiten der menschlichen Sprachentwicklung bekannt, die durch eine erfolgreiche Theorie erklärt werden sollten. So beginnen Kinder noch vor der Äußerung des ersten Wortes mit dem Brabbeln. Beim Brabbeln werden Laute geäußert, die bereits einige Charakteristika normaler Worte haben, jedoch noch keine festgelegte Bedeutung aufweisen. Auch die Sprachfähigkeiten erwachsener Menschen besitzen Charakteristika, die in der Theorieentwicklung zu berücksichtigen sind. Von besonderem Interesse sind etwa Fehler beim Sprachverstehen. So verstehen die meisten Menschen den folgenden grammatisch korrekten Satz nur nach längerer Analyse: Peter versprach, Maria keine Zigaretten mehr anzuvertrauen. Schließlich wird von erfolgreichen psycholinguistischen Theorien auch gefordert, dass sie mit den neurowissenschaftlichen und insbesondere neuropsychologischen Erkenntnissen übereinstimmen. So gibt es etwa Patienten, die nach einer Hirnschädigung keine Pseudowörter (also etwa schümrup oder tamlarp) lesen können, während das Lesen normaler Wörter weiterhin möglich ist.

Inhaltsverzeichnis

Die Psycholinguistik und ihre Nachbardisziplinen

Die Psycholinguistik unterscheidet sich von der allgemeinen Linguistik, da sie explizit nach den psychologischen Mechanismen fragt, die die Sprachverarbeitung möglich machen. Die allgemeine Linguistik untersucht hingegen die Strukturen von natürlichen Sprachen, ohne nach den psychologischen Mechanismen zu fragen, die das Erschaffen und Beherrschen dieser Strukturen möglich machen.

Die Neurolinguistik begann im 19. Jahrhundert mit der Entdeckung von zwei Gehirnregionen, deren Schädigung zu Sprachstörungen führt.

Die Psycholinguistik ist zudem von der Neurolinguistik zu unterscheiden, mit der sie jedoch viele Berührungspunkte hat. Die Neurolinguistik sucht nach neuronalen Korrelaten, also nach den Gehirnaktivitäten, die mit einzelnen sprachlichen Prozessen einhergehen. Zudem untersucht sie, unter anderem mit der Dissoziationsmethode, die Auswirkungen von einzelnen Gehirnschädigungen auf die Sprachverarbeitung. Die Psycholinguistik bezieht diese Daten zwar mit ein, ihr Ziel ist jedoch nicht die Lokalisierung von Gehirnregionen. Psycholinguisten schließen etwa aus verschiedenen Daten über Sprachstörungen, Reaktionszeiten, Sprachentwicklung und Sprachproduktionsfehlern, dass es verschiedene Systeme zur Worterkennung und zur Syntaxanalyse gibt. Eine solche abstrakt-psychologische Behauptung setzt jedoch nicht unbedingt voraus, dass sich auch zwei verschiedene Gehirnregionen finden lassen, die jeweils für Worterkennung oder Syntaxanalyse zuständig sind. Vielmehr wird das Verhältnis von psychologischen und neurowissenschaftlichen Daten sehr kontrovers diskutiert, so wie es auch umstritten ist, ob die Psycholinguistik im Grunde auf die Neurolinguistik reduziert werden kann.

Die psycholinguistische Forschung hat weit in die Kognitionswissenschaft und auch in die Philosophie des Geistes gewirkt. Die Sprachfähigkeit spielt in diesen Disziplinen eine zentrale Rolle, da sie zum einen zahlreiche kognitive Fähigkeiten wie das Denken oder das Gedächtnis voraussetzt, zum anderen selbst wiederum konstitutiv für verschiedene kognitive Fähigkeiten ist, die zumindest in Teilen sprachlich strukturiert zu sein scheinen. Umfassende psycholinguistische Theorien enthalten daher oft auch Hypothesen etwa über das menschliche Denken oder Gedächtnis, Jerry Fodors Idee der Sprache des Geistes ist hierfür eine gutes Beispiel. Zudem besteht bei vielen Forschern die Hoffnung, dass eine umfassende psycholinguistische Theorie ein Kernstück einer allgemeinen Theorie der menschlichen Kognition werden könnte.

Sprachliches Wissen

Überblick

Die menschliche Sprachfähigkeit basiert auf Wissen, das bei jedem kompetenten Mitglied einer Sprachgemeinschaft vorhanden sein muss. Ein Beispiel: Um den Satz „Jana liebt ihren Kollegen bereits seit vielen Jahren.“ verstehen zu können, muss man über verschiedene Informationen verfügen: Zum einen muss man die Bedeutung der Wörter kennen. Allein die Wortbedeutung reicht jedoch nicht aus, um zu verstehen, dass Jana das Subjekt (die Liebende) ist und der Kollege das Objekt (der Geliebte) ist. Man muss daher zudem über grammatisches Wissen (Syntax) verfügen. In der Psycholinguistik wird dies durch die Unterscheidung zwischen einem mentalen Lexikon und der mentalen Grammatik reflektiert. Im mentalen Lexikon sind Informationen über die einzelnen Einheiten gespeichert, die mentale Grammatik gibt darüber Auskunft, wie diese Einheiten kombiniert werden können.

Doch auch im mentalen Lexikon kann man wiederum zwischen verschiedenen Ebenen unterscheiden. Ein kompetenter Sprecher muss verschiedene Dinge über ein Wort wie „Sonne“ wissen. Zunächst ist es natürlich notwendig, dass der Sprecher die Bedeutung (Semantik) des entsprechenden Wortes kennt. Es ist jedoch auch notwendig, dass die syntaktischen Eigenschaften des Wortes bekannt sind, etwa, dass „Sonne“ ein Nomen und vom Genus feminin ist. Die syntaktischen und semantischen Informationen über eine Einheit im mentalen Lexikon werden in der Psycholinguistik als „Lemma“ bezeichnet. Schließlich muss auch die Ausdrucksform bekannt sein, also die Tatsache, wie man ein Wort ausspricht (Lautwissen) oder aufschreibt (graphematisches Wissen). Diese Informationen werden im Jargon der Psycholinguisten als „Lexem“ bezeichnet.

Diese grobe Gliederung des sprachlichen Wissens ist plausibel, allerdings muss man sich fragen, ob den dargestellten Verarbeitungsschritten auch tatsächlich verschiedene psychische Prozesse entsprechen. Die Psycholinguistik kann sich bei der Beantwortung dieser Frage auf verschiedene Quellen stützen. Hier stehen verschiedene Experimente und Beobachtungen zur Verfügung: So kann in der Neuropsychologie etwa herausgefunden werden, dass Patienten mit gewissen Störungen auch nur Fehler bei bestimmten Verarbeitungsschritten machen, was eine getrennte Verarbeitung im Gehirn vermuten lässt. Hilfreich ist auch oft der Blick auf Versprecher, die in bestimmten Kontexten nur Vertauschungen auf einer bestimmten Ebene aufweisen. Des Weiteren kann man versuchen, in Experimenten gewisse Aspekte des sprachlichen Wissens selektiv zu beeinflussen. Ein typisches Beispiel ist das „Tip of the tongue“ – Phänomen, das experimentell erzeugt werden kann. Ein solches Phänomen tritt auf, wenn einem ein Wort „auf der Zunge liegt“, man also auf die semantischen (bedeutungsgeladenen) und syntaktischen Informationen Zugriff hat, allerdings nicht über das lautliche Wissen verfügt. Dieses Phänomen spricht dafür, dass das lautliche Wissen tatsächlich anders verarbeitet wird, als das syntaktische und semantische Wissen.

Kompositionalität

Gottlob Frege

Die grundlegende Idee der psycholinguistischen Analyse von sprachlichem Wissen ist also, dass im mentalen Lexikon die grundlegenden sprachlichen Einheiten gespeichert sind, die nach Vorgaben der mentalen Grammatik zu einer komplexen sprachlichen Struktur kombiniert werden können. Nun stellt sich natürlich die Frage, wie die grundlegenden Einheiten im mentalen Lexikon aussehen. Sind es Sätze, Satzteile, Wörter, oder die kleinsten bedeutungstragenden Einheiten (Morpheme)?

Es lässt sich leicht einsehen, dass Sätze nicht die grundlegenden Einheiten im mentalen Lexikon sein können. Die Zahl möglicher Sätze ist so gewaltig, dass kein Mensch sie alle schon gespeichert vorliegen haben kann. Bei genauerer Betrachtung erweist sich die Zahl der Sätze sogar als potentiell unendlich. Man kann zu Sätzen immer neue Nebensätze fügen und so immer komplexere Satzstrukturen schaffen. Ein triviales Beispiel ergibt sich aus der Verknüpfung mit dem Wort „und“: „Er ging einen Schritt und noch einen Schritt und noch einen Schritt und noch einen Schritt und noch einen Schritt …“ Da in der Sprache nicht festgelegt ist, dass nur eine gewisse Komplexität erlaubt ist, kann man schon mit solch einfachen Beispielen potentiell unendlich viele, verschiedene Sätze erzeugen. Menschen können diese Sätze verstehen, können sie aber nicht alle bereits gespeichert haben. Vielmehr müssen diese Sätze aus grundlegenderen Einheiten erzeugt werden.

Wenn nicht jeder Satz im mentalen Lexikon gespeichert ist, so müssen kleinere Einheiten vorhanden sein, aus deren Kombination Sätze erzeugt werden können. In der Linguistik wird dieses Phänomen unter dem Stichwort der Kompositionalität diskutiert. Das von dem Logiker und Philosophen Gottlob Frege formulierte Kompositionalitätsprinzip besagt, dass sich die Bedeutung von komplexen sprachlichen Strukturen aus der Bedeutung und Anordnung der Teile ergibt. Ein Beispiel: Die Bedeutung des Satzes „Das Haus ist grün.“ ergibt sich aus der Bedeutung und Anordnung der Begriffe „Das“, „Haus“, „ist“, „grün“ und der Anordnung dieser Wörter. Mit dem Kompositionalitätsprinzip kann man erklären, wie Menschen Sätze verstehen können, ohne sie selbst in dem mentalen Lexikon gespeichert zu haben.

Literatur

  • Fabian Bross: „An der Rede erkennt man den Menschen“ – eine kurze Geschichte der Psycho- und Neurolinguistik. In: Aventinus. Die Historische Internetzeitschrift von Studierenden für Studierende, Ausgabe 06. 2008
  • Ton Dijkstra, Gerard Kempen: Einführung in die Psycholinguistik. ISBN 3-456-82364-9.
  • Rainer Dietrich: Psycholinguistik. Metzler, 2002.
  • Gert Rickheit, Theo Herrmann, Werner Deutsch (Hgg.): Psycholinguistik: Ein internationales Handbuch, Walter de Gruyter, 2003, ISBN 3110114240
  • Hans Hörmann: Einführung in die Psycholinguistik". Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt, 1981.[1] ISBN 3-534-07793-8.
  • Hans Hörmann: Meinen und Verstehen. Grundzüge einer psychologischen Semantik. Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1994, ISBN 3518278304
  • Gert Rickheit, Lorenz Sichelschmidt, Hans Strohner: Psycholinguistik. Die Wissenschaft vom sprachlichen Verhalten und Erleben. Stauffenburg Verlag, Tübingen, 2002
  • Jean Aitchison: Words in the mind. An introduction to the mental lexicon. 3rd edition. Blackwell Publishing, Oxford, 2003, ISBN 0-631-23244-3

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