Staatsableitung

Staatsableitung

Unter Staatsableitung versteht man seit den 1970er Jahren Versuche innerhalb des Marxismus bzw. Neomarxismus, die Entstehung, Existenz, Notwendigkeit und Ausprägung von Staat und Recht der bürgerlichen Gesellschaft aus dem ökonomischen System heraus zu erklären. Daher die Beziehung zwischen Ökonomie und Politik aus der Struktur der kapitalistischen Produktion abzuleiten (vgl. Basis und Überbau).

Ein Vorläufer der Staatsableitung war der Rechtswissenschaftler Jewgeni Bronislawowitsch Paschukanis, welcher bereits in den 1920er Jahren die Rechtsform aus der Warenform abgeleitet hatte. Als wichtige Autoren seit 1970 gelten Rudolf Wolfgang Müller, Christel Neusüß, Bernhard Blanke und Joachim Hirsch.

Inhaltsverzeichnis

Staatsableitungsdebatte

Die Debatte wurde als ein Zweig der Neuen Marx-Lektüre vor allem im akademischen Raum geführt, war aber auch durch die damalige politische Situation geprägt. Teile der politischen Linken hatten, nachdem 1969 in der Bundesrepublik Deutschland die sozial-liberalen Koalition die Regierung übernommen hatte, Hoffnungen auf gesellschaftliche Reformen und strebten einen Marsch durch die Institutionen sowie die Reformierung der Gesellschaft durch den Staat an.

In der Staatsableitungsdebatte wird der Staat dagegen weder als ein Subjekt aufgefasst, noch als ein Instrument, das sich eine bestimmte Gruppe oder Klasse aneignen könnte. Stattdessen wird der Staat verstanden als „ein struktureller Bestandteil des kapitalistischen Produktionsverhältnisses selbst, seine besondere politische Form. Die kapitalistischen Klassen- und Ausbeutungsbeziehungen sind so gestaltet, dass die ökonomisch herrschende Klasse nicht unmittelbar politisch herrschen kann, sondern ihre Herrschaft sich erst mittels einer von den Klassen relativ getrennten Instanz, des Staates, realisieren kann. Gleichzeitig bleibt der Staat der Struktur- und Funktionslogik der kapitalistischen Gesellschaft unterworfen. Er ist keine Instanz, die außerhalb des Kapitals steht. Der bürgerliche Staat ist also Klassenstaat, ohne das unmittelbare Instrument einer Klasse zu sein. Und eben diese ‚Besonderung‘ oder ‚relative Autonomie‘ des Staates ist die Basis der Staatsillusion.“ (Joachim Hirsch)[1]

Kritik

Von Rainer-Olaf Schultze wurde eingewandt, dass sich die Ableitungsversuche „zumeist im begriffslogischen Streit um die Auslegung der marxistischen Klassiker“ bewegten und nicht vermochten, „die notwendige Vermittlung von der allgemeinen Ebene der Formbestimmung zur konkreten Analyse der Realität kapitalistischer Staaten zu liefern.“[2] Ähnlich Frank Deppe: Die Staatsableitungsdebatte „war ein typisches Beispiel für einen - von der Praxis weitgehend abgelösten und schließlich nur noch selbstreflexiven - „akademischen Marxismus“, zumal die Konzentration auf den Staat - angesichts der Bedeutung der „Zivilgesellschaft“ im Sinne Gramscis – eine Verengung des Politikbegriffes beinhaltet.“[3] Auch der damals an der Debatte maßgeblich beteiligte Joachim Hirsch konzedierte später, „dass die Staatsableitungsdebatte auf einem hoch abstrakten Niveau geführt wurde und bisweilen die Züge theoretischer Glasperlenspiele annahm“. Andererseits ist laut Hirsch jedoch vielfach der Status der Debatte verkannt worden, bei der es nicht um eine fertige Staatstheorie gegangen sei, sondern um die Formbestimmung der bürgerlichen Gesellschaft als Bestandteil einer umfassenderen historischen Theorie.[1]

Einzelnachweis

  1. a b Tote Hunde wecken? Interview mit Joachim Hirsch zur Staatstheorie und Staatsableitung, Arranca!, Nr. 24, 2002
  2. „Ableitung“ von Schultze, Rainer-Olaf; in: Nohlen, Dieter; Schultze, Rainer-Olaf; Lexikon der Politikwissenschaft. Theorien, Methoden, Begriffe, 2. Aufl. (2004)
  3. Oder auch: Vor allem in der sog. „Staatsableitungsdebatte“ der 70er Jahre stand das Bemühen um die „richtige Ableitung“ des Staates aus dem [Anm.: marxschen] „Kapitalim Zentrum. Diese Debatte verlief sich bald in hoch abstrakte Elaborate, deren Bezug zur wirklichen Bewegung und zu den Kämpfen der Zeit kaum noch nachzuvollziehen war. Deppe, Frank: Krise und Erneuerung marxistischer Theorie. Anmerkungen eines Politikwissenschaftlers. Geringfügig bearbeiteter und gekürzter Text seiner Abschiedsvorlesung vom 14. Juli 2006; eine erste Fassung des Textes erschien in: „Sozialismus“ Hamburg: VSA-Verlag Nr. 3 / 2007.

Literatur

  • Wolfgang Müller, Christel Neusüß (1970): Die Sozialstaatsillusion und der Widerspruch von Lohnarbeit und Kapital. In: Sozialistische Politik Nr. 6/7
  • Bernhard Blanke, Ulrich Jürgens, Hans Kastendiek (1974): Zur neueren marxistischen Diskussion über die Analyse von Form und Funktion des bürgerlichen Staates., In: PROKLA 14/15
  • Projekt Klassenanalyse (1974): Oberfläche und Staat: Kritik neuerer Staatsableitungen (Altvater, Braunmühl u.a., Flatow/Huisken, Läpple, Marxistische Gruppe Erlangen). VSA, Westberlin.
  • Norbert Kostede (1976): Die neuere marxistische Diskussion über den bürgerlichen Staat. Einführung – Kritik - Resultate. In: Gesellschaft. Beiträge zur Marxschen Theorie 8/9, S. 150-196
  • Gerd Rudel (1981): Die Entwicklung der marxistischen Staatstheorie in der Bundesrepublik. Frankfurt a.M., New York
  • Ingo Elbe (2008): Marx im Westen. Die neue Marx-Lektüre in der Bundesrepublik seit 1965. Berlin, ISBN 978-3-05-004470-5

Weblinks


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