Staatssicherheitsgericht (Türkei)

Staatssicherheitsgericht (Türkei)

Staatssicherheitsgerichte (tr.: Devlet Güvenlik Mahkemeleri, DGM) waren türkische „Fachgerichte“[1], die für strafbare Handlungen, die gegen den Bestand von Staatsgebiet und Staatsvolk, gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung oder gegen die republikanische Staatsform begangen wurden und die Sicherheit des Staates betrafen[2] zuständig waren.

Revisionsinstanz war gemäß Art. 143 IV a.F. der türkischen Verfassung der Kassationshof.

Inhaltsverzeichnis

Gründung

Erstmals eingeleitet wurde die Einrichtung von Staatssicherheitsgerichten, die am Beispiel der französischen Cour de sûreté de l'État gegründet werden sollten, durch eine Änderung der damaligen Verfassung per Gesetz Nr. 1699 vom 15. März 1973. In diesem Zusammenhang trat am 26. Juni 1973 das Gesetz Nr. 1773 zur Einrichtung der Staatssicherheitsgerichte in Kraft. Am 6. Mai 1975 erklärte das Verfassungsgericht jedoch, dass das Gesetz Nr. 1773 verfassungswidrig sei.[3] Folglich wurde die Einrichtung der Gerichte im Jahr 1976 aufgegeben.

Das Vorhaben zur Gründung solcher Gerichte wurde nach dem Militärputsch von 1980 erneut aufgegriffen. Dementsprechend verankerte man die Staatssicherheitsgerichte vorsorglich in der neuen Verfassung von 1982.

Artikel 143 I der Verfassung lautete folgendermaßen:

Devletin ülkesi ve milletiyle bölünmez bütünlüğü, hür demokratik düzen ve nitelikleri Anayasada belirtilen Cumhuriyet aleyhine işlenen ve doğrudan doğruya Devletin iç ve dış güvenliğini ilgilendiren suçlara bakmakla görevli Devlet Güvenlik Mahkemeleri kurulur.

„Es werden Staatssicherheitsgerichte mit der Aufgabe gegründet, Straftaten zu verhandeln, welche gegen die unteilbare Einheit von Staatsgebiet und Staatsvolk, die freiheitliche demokratische Ordnung und die Republik, deren Eigenschaften durch die Verfassung bestimmt sind, begangen werden und die innere und äußere Sicherheit des Staates betreffen.[4]

Am 16. Juni 1983 trat das Gesetz Nr. 2845 über die Einrichtung und Rechtsprechungsverfahren der Staatssicherheitsgerichte in Kraft.[5] Diesmal konnte die Verfassungskonformität des Gesetzes nicht überprüft werden, da die neue Verfassung einer derartigen Überprüfung entgegenstand. Diesem Gesetz zufolge wurden in Ankara, Diyarbakır, Erzincan, Istanbul, İzmir, Kayseri, Konya und Malatya Staatssicherheitsgerichte eingerichtet. Die Gerichte nahmen ab dem 1. April 1984 ihre Aufgaben wahr. Mit Art. 1 des Gesetzes Nr. 4210 vom 13. November 1996 wurden die DGM in Erzincan, Kayseri und Konya aufgelöst und an deren Stelle DGM in Adana, Erzurum und Van eingerichtet.

Im Falle eines großen Arbeitsaufwands, war das Justizministerium befugt am gleichen Ort mehrere Gerichte einzurichten. Dabei erhielten DGM am selben Ort eigene Nummerierungen.

Bezirke

Die Gerichtsbezirke waren in Art. 2 des Gesetzes Nr. 2845 über die Einrichtung und Rechtsprechungsverfahren der Staatssicherheitsgerichte geregelt.

Folgende Tabelle gibt Aufschluss über die jeweiligen Bezirke:

Gerichtssitz Provinzen
Adana Adana, Aksaray, Gaziantep, Hatay, İçel, Karaman, Kilis, Konya, Niğde, Osmaniye
Ankara Ankara, Afyon, Amasya, Bartın, Bolu, Çankırı, Çorum, Eskişehir, Karabük, Kastamonu, Kayseri, Kırıkkale, Kırşehir, Kütahya, Nevşehir, Samsun, Sinop, Tokat, Yozgat, Zonguldak
Diyarbakır Diyarbakır, Batman, Bingöl, Mardin, Siirt, Şırnak, Şanlıurfa
Erzurum Erzurum, Ağrı, Ardahan, Artvin, Bayburt, Erzincan, Giresun, Gümüşhane, Iğdır, Kars, Ordu, Rize, Sivas, Trabzon
Istanbul Istanbul, Balıkesir, Bilecik, Bursa, Çanakkale, Edirne, Kırklareli, Kocaeli, Sakarya, Tekirdağ, Yalova
İzmir İzmir, Antalya, Aydın, Burdur, Denizli, Isparta, Manisa, Muğla, Uşak
Malatya Malatya, Adıyaman, Elazığ, Kahramanmaraş, Tunceli
Van Van, Bitlis, Hakkari, Muş

Die heutige Provinz Düzce, die am 9. Dezember 1999 als 81. Provinz gegründet wurde, ist nicht in der Aufzählung enthalten. Dies rührt daher, dass Art. 2 des Gesetzes Nr. 2845 zuletzt am 13. November 1996 geändert wurde. Für die heutige Provinz war das Staatssicherheitsgericht in Ankara zuständig.

Organisation

An den Staatssicherheitsgerichten befanden sich gemäß Art. 143 II a.F. der türkischen Verfassung ein Vorsitzender, zwei ordentliche Mitglieder, ein Ersatzmitglied sowie ein Generalstaatsanwalt und ausreichend Staatsanwälte.

Die Ernennung und Amtszeit der Mitglieder war in Art. 143 III der türkischen Verfassung folgendermaßen geregelt:

Başkan, iki asıl ve bir yedek üye ile Cumhuriyet başsavcısı, birinci sınıfa ayrılmış hâkim ve Cumhuriyet savcıları arasından; Cumhuriyet savcıları ise, diğer Cumhuriyet savcıları arasından Hâkimler ve Savcılar Yüksek Kurulunca özel kanununda gösterilen usule göre dört yıl için atanırlar; süresi bitenler yeniden atanabilirler.

„Der Vorsitzende, zwei ordentliche Mitglieder und das Ersatzmitglied sowie der Generalstaatsanwalt werden aus den Richtern und den Staatsanwälten der Republik Erster Klasse; die Staatsanwälte aus den Staatsanwälten der Republik gemäß den in den besonderen Gesetzen vorgesehenen Verfahren durch den Hohen Richter- und Staatsanwälterat auf vier Jahre ernannt; diejenigen, deren Amtszeit beendet ist, können von neuem ernannt werden.[4]

Ursprünglich gehörte einem Staatssicherheitsgericht auch ein Militärrichter an. Nach einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte entfiel dies nach entsprechender Verfassungsänderung mit dem Gesetz Nr. 4388 vom 18. Juni 1999 sowie durch Änderung des Gesetzes Nr. 2845 mit dem Gesetz Nr. 4390 vom 22. Juni 1999.

Zuständigkeit

Die Zuständigkeiten der Gerichte ergaben sich aus Art. 9 des Gesetzes Nr. 2845 über die Einrichtung und Rechtsprechungsverfahren der Staatssicherheitsgerichte.

Demzufolge waren die Gerichte zuständig für Straftaten:

  • nach Art. 125 bis 139, 146 bis 157, 161, 168, 169, 171, 172, 174, 312 II, 499 II des türkischen Strafgesetzbuches,
  • im Sinne des Gesetzes Nr. 6136 über Feuerwaffen, Messer und andere Geräte und nach den in den Art. 264 und 403 des türkischen Strafgesetzbuches beschriebenen gemeinsamen Straftaten und
  • bezüglich der Verursachung des Notstands gemäß Art. 120 der türkischen Verfassung.

Galt der Ausnahmezustand, so nahmen die Staatssicherheitsgerichte die Aufgaben von Militärgerichten wahr.

Abschaffung

Am 7. Mai 2004 wurden die Staatssicherheitsgerichte im Rahmen von Verfassungsänderungen[6] abgeschafft. Am 16. Juni 2004 folgten entsprechende Änderungen an der türkischen Strafprozessordnung (Ceza Muhakemeleri Usulü Kanunu, CMUK) durch das Gesetz Nr. 5190 über die Änderung der Strafprozessordnung und Abschaffung der Staatssicherheitsgerichte. Durch Art. 3 dieses Gesetzes, das am 30. Juni 2004 in Kraft trat, wurde das Gesetz Nr. 2845 über die Einrichtung und Rechtsprechungsverfahren der Staatssicherheitsgerichte aufgehoben. Artikel 1 des Gesetzes bestimmte, dass Richter und Staatsanwälte der Staatssicherheitsgerichte ihre Ämter in den neu benannten Gerichten weiterführen und drei Jahre lang an keinen anderen Posten versetzt werden dürfen, es sei denn es gebe disziplinarische Gründe und legitime Entschuldigungen oder Forderungen.

Die Kammern der in acht der 81 Provinzen der Türkei existierenden aber für die gesamte Türkei zuständigen Staatssicherheitsgerichte wurden numerisch an die am jeweiligen Ort vorhandenen Großen Strafkammern angehängt.[7] Die Gerichtsbezirke entsprechen denen der Staatssicherheitsgerichte.[8] Die Provinz Düzce gehört zum Gerichtsbezirk der 11. Kammer der Großen Strafkammer in Ankara. Für die Provinz Tunceli gilt: prinzipiell ist das Gericht in Malatya zuständig. Lediglich der Kreis Pülümür fällt in die Zuständigkeit des Gerichts in Erzurum. Dies war auch bei den Staatssicherheitsgerichten der Fall. Die umbenannten Gerichte urteilen nach den in den Artikeln 250-252 der neuen Strafprozessordnung vom 1. Juni 2005 (Ceza Muhakemesi Kanunu = CMK) definierten Sonderregeln und werden daher wörtlich die nach Artikel 250 CMK zuständigen Gerichte für schwere Strafen genannt. Neben Artikel 250 CMK bestimmt das Gesetz Nr. 3713 zur Bekämpfung des Terrorismus, welche Straftaten vor diesen Sondergerichten verhandelt werden.[9]

Einige Juristen vertreten die Meinung, dass die Staatssicherheitsgerichte nicht abgeschafft wurden, sondern sich nur der Name (das Schild an der Türkei = tabela) geändert hat.[10] Bei den Diskussionen zur neuen Strafprozessordnung hatten Abgeordnete der CHP dieselben Bedenken geäußert.[11]

Einzelnachweise und Anmerkungen

  1. Christian Rumpf: Das „deutsch-türkische Recht“ und die Sprache S. 8 f.
  2. Vgl. Art. 136 II der türkischen Verfassung von 1961, Art. 143 a.F. der türkischen Verfassung von 1982.
  3. Hauptnummer: 1974/35; Urteilsnummer: 1975/126.
  4. a b Übersetzung von Prof. Dr. Christian Rumpf.
  5. Originaltext des Gesetzes Nr. 2845 über die Einrichtung und Rechtsprechungsverfahren der Staatssicherheitsgerichte (türkisch).
  6. Vgl. Art. 9 des Gesetzes Nr. 5170 vom 7. Mai 2004.
  7. Nachricht in Türkisch vom 1. April 2004 zu den Bezirken sowie den Richtern und Staatsanwälten an den Kammern; aufgerufen am 20. Dezember 2008
  8. So wurde es in dem Beschluss 188 des Hohen Rates für Richter und Staatsanwälte festgelegt. Fundstelle am 19. Dezember 2008: http://www.pgm.adalet.gov.tr/Sorulanlar/ihtisas_soru.htm
  9. Im Gutachten Rechtsstaatlichkeit politischer Verfahren in der Türkei (Januar 2006) findet sich ein ausführliches Kapitel zur formellen Abschaffung der Staatssicherheitsgerichte. Eine Zusammenfassung und Möglichkeit, das gesamte Gutachten herunterzuladen, gibt es hier
  10. Dazu gehört der Rechtsprofessor Köksal Bayraktar; zitiert als einleitende Bemerkung in einem Bericht von amnesty international; das gesamte Interview in Türkisch. Der Anwalt Fikret İlkiz vertritt die gleiche Meinung. Sein Beitrag in der Zeitung Yeni Asya vom 23. Juni 2004 kann bei einer Sammelstelle von Zeitungsmeldungen gefunden werden. Zugriff auf alle Seiten am 26. Dezember 2008
  11. Siehe einen Artikel in der Tageszeitung Sabah vom 30. November 2004; Zugriff am 16. Dezember 2008

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