Stammesgesellschaft

Stammesgesellschaft

Die Stammesgesellschaft ist eine bereits sehr früh und auch noch gegenwärtig auftretende und wirksame Sozialstruktur.

Völker mit jungsteinzeitlicher Kultur bis hin zu den frühen Griechen und Italern und beispielsweise vielen gegenwärtigen indianischen Einwohnern Amerikas waren Stammesgesellschaften (vgl. die Gentilorganisation der Griechen und Römer in Volksstämme).

Zur Stammesgesellschaft gehört oft ein Mythos über den Ursprung des Stammes, eine gentilizische Stammesorganisation, eine Pubertäts- und Stammesinitiation, ein durch die Rechtsprechung ausgebildetes und sich wandelndes Stammesrecht, eine politisch unmittelbar entscheidende Versammlung von Stammesgenossen und das Aufgebot der Stammeskrieger. Die Stammesgesellschaft betrachtet sich als die Nachkommenschaft eines göttlichen Stammvaters und daher als eine einzige große Familie (s. Herkunftssage). Ihre Religion ist animistisch und umfasst einen Ahnenkult.

Eine typische Stammesgesellschaft ist das Volk der Juden des Alten Testaments mit seinem Stammesgott, seiner Abstammung von den Patriarchen, seiner Gliederung in "Stämme" und "Geschlechter" (s. Zwölf Stämme Israels), seinem heiligen Gesetz. Dasselbe System bestand ebenfalls bei den Griechen, Römern, Germanen und - soweit man sehen kann - überall sonst im Altertum. Ein überzeugender Beleg für ein allgemein bestehendes System ist die oft erwähnte Parallele einer Stelle aus Homers "Ilias" und der "Germania" des Tacitus. In der "Ilias" gibt der weise Nestor dem König Agamemnon den Rat:

Stelle das Heer nach Phylen und Phratrien auf, Agamemnon; so kann die Phyle der Phyle beistehen und die Phratrie der Phratrie. Handelst du danach und folgen dir die Achaier, so wirst du bald erkennen, wer von den Führern und Mannschaften feige oder auch tüchtig sich zeigt - sie kämpfen im Kreise der Ihren. [1].

Ähnliches berichtet Tacitus von den Germanen: Besonders spornt sie zur Tapferkeit an, dass nicht Zufall und willkürliche Zusammenstellung, sondern Familien und Geschlechter die Reiterhaufen oder die Schlachtkeile bilden [2].

Der von dem Mediävisten Theodor Mayer eingeführte Begriff des (älteren) Personenverbandsstaates im Gegensatz zum (neueren) institutionellen Flächenstaat bezeichnet offensichtlich so etwas wie die Stammesgesellschaft. Diese beiden Begriffe hängen lose mit der früheren Unterscheidung zwischen dem genossenschaftlichen und dem herrschaftlichen Prinzip der Staatsverfassung durch Otto von Gierke [3] zusammen (s. Herrschaft). Für Gierke befindet sich zwar der Staat immer im Spannungsfeld dieser entgegengesetzten Prinzipien, er sieht aber auch eine langfristige Entwicklung weg vom genossenschaftlichen und hin zum herrschaftlichen Staat. In der Stammesgesellschaft waltet offenbar das genossenschaftliche Prinzip schrankenlos. Im Lauf der Geschichte wird jedoch die - von wem auch immer gesteuerte - Staatsgewalt immer mächtiger, und zugleich findet eine fortschreitende Bürokratisierung der Gesellschaft statt (s. auch Clan, Sippe, Phyle, Gens).

Einzelnachweise

  1. Homer, Ilias, Zweiter Gesang, 362
  2. Tacitus, Germania, K. 7
  3. Otto v. Gierke, Das deutsche Genossenschaftsrecht, Graz, 1954, Nachdruck der 1. Auflage von 1868 ff.

Literatur

  • Stefan Breuer, Zur Soziogenese des Patrimonialstaates in: S. Breuer/H. Taber (Hgg.) Entstehung und Strukturwandel des Staates, Berlin 1990
  • Jürgen Elvert, Geschichte Irlands, 2003
  • S. Humphreys, Anthropology and the Greeks (London 1978), K. 8.
  • Adam Kuper, The invention of the primitive society. Transformation of an illusion (London, Routledge 1988).

Siehe auch


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