Banalität des Bösen

Banalität des Bösen

Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen ist ein Buch von Hannah Arendt aus Anlass des Eichmann-Prozesses 1961 vor dem Bezirksgericht Jerusalem.

Inhaltsverzeichnis

Edition

Der Originaltitel lautet „Eichmann in Jerusalem. A report on the banality of evil“. Arendt verarbeitet darin fünf ihrer Artikel in der Zeitschrift „The New Yorker”, betitelt "A Reporter at Large: Eichmann in Jerusalem" von Anfang 1963. Der Verlagsleiter beim deutschen Piper Verlag war Hans Rößner, von dessen früherer Karriere als SS-Obersturmbannführer und Kulturreferatsleiter des RSHA Hannah Arendt bis zu ihrem Tod nichts erfuhr.

Die zweiten Auflagen (in beiden Sprachen: 1965) wurden von der Autorin ergänzt, sowohl inhaltlich als auch mit einer zusätzlichen Vorrede über die Kontroverse, die das Buch hervorgerufen hatte. Das Buch ist in alle Weltsprachen übersetzt worden, zuletzt 2004 ins Polnische und in das Bulgarische. Seit 1986, nach dem Tod der Autorin, erscheint die deutsche Fassung mit einem Text des Historikers Hans Mommsen, welcher als „einleitender Essay“ bezeichnet wird, 39 Seiten lang ist, mit 64 eigenen, ausführlichen Anmerkungen. Dieser Text übt harsche Kritik am folgenden Buch.

Die Auflagen seit 1986 tragen den Vermerk „erweiterte Ausgabe“, ferner sind ein Stichwortverzeichnis und Anmerkungen zugefügt, ohne dass deren Autor namentlich genannt wird. Sie handeln von Personen, Vorgängen und Literatur bis zum Juli 1984.

Inhalt und Wirkung

Arendt bezeichnet Eichmann als normalen Menschen. Abgesehen davon, dass er eine Karriere im SS-Apparat machen wollte, hatte er kein Motiv, vor allem war er nicht übermäßig antisemitisch. Er war psychisch normal, kein Dämon oder Ungeheuer. Er erfüllte nur seine Pflicht, er hat nicht nur Befehlen gehorcht, sondern dem Gesetz gehorcht. [1] Der Gesetzgeber war Adolf Hitler mit seinem Führerwillen, Eichmann war nicht länger Herr über mich selbst, ändern konnte ich nichts. Eichmanns Unfähigkeit, selbst zu denken, zeigte sich vor allem an der Verwendung klischeehafter Phrasen, einem Verstecken hinter der Amtssprache. Als auf der Wannseekonferenz die Spitzen von Ministerien, Justiz und Wehrmacht der Endlösung unwidersprochen zustimmten, fühlte Eichmann sich jeder Verantwortung enthoben: die gute Gesellschaft stimmte zu, was sollte er als kleiner Mann da machen? Nach der Wannseekonferenz, als er im Kreis der Großen fachsimpeln durfte, waren minimale Zweifel, eventuelle Gewissensbisse verschwunden. Sein Gewissen hatte er an die Oberen abgetreten. In diesem Augenblick fühlte ich mich wie Pontius Pilatus, bar jeder Schuld. [2] Im Gegensatz dazu betont Arendt, dass es auch unter der totalitären Herrschaft Wahlmöglichkeiten, eine Moral gibt.

Das Buch beruht auf Prozessunterlagen, die Arendt wie allen anderen Berichterstattern vom Gericht zur Verfügung gestellt wurden; auf Literatur zum Holocaust, die für sie in den USA greifbar war, sowie geringfügig auf Eichmanns Interview mit Willem Sassen in der gereinigten LIFE-Fassung. Arendt nahm zeitweise an den Sitzungen des Gerichts teil. Das Buch enthält Arendts persönlichen Eindruck vom Gerichtshof, einen Lebenslauf des Angeklagten und seine Tätigkeit als Vertreiber von Juden, als Deportations-Fachmann in die Lager und als Verwaltungsmassenmörder. Nach einem Bericht über die Wannseekonferenz folgen abschnittsweise Länderberichte, da Eichmann wechselnde regionale Schwerpunkte bei seinen Verbrechen hatte: das von den Nazis zum „Reich“ gezählte Gebiet, der Westen Europas, die Balkanstaaten, Südostmitteleuropa (Ungarn, Slowakei), der Osten (mit den Schwerpunkten Auschwitz und KZ Theresienstadt, dessen oberster Leiter Eichmann zum Schluss war). Eingefügt sind Reflexionen Arendts über diesen modernen Typ des internationalen Massenverbrechers („Von den Pflichten eines gesetzestreuen Bürgers“), der Abschlussbericht über das Urteil und schließlich seine Einordnung in die internationale Rechtsentwicklung (das „Verbrechen gegen die Menschheit“) im Epilog. Arendt endet mit einer fiktiven Richter-Rede, in der sie wiederum selbst reflektiert, also einen Bericht überschreitet. Sie begründet ihr Plädoyer für Eichmanns Todesstrafe, trotz ihrer formalen Bedenken, sowie die Berechtigung eines israelischen Gerichts zu einem solchen Urteil. Im Anhang folgt eine ausführliche Bibliographie.

Arendt betont das Neue an den von Eichmann und den übrigen Nazi-Deutschen verübten Verbrechen, dieses Neue stellte auch das Jerusalemer Gericht vor besondere Herausforderungen. Am Beispiel der verschiedenen Verfolgungsgrade in den besetzten Ländern stellt sie dar, wie ein Widerstand der Bevölkerung und der einheimischen Administration Juden das Leben rettete (in Bulgarien, Italien, Dänemark: Rettung der dänischen Juden), während die bedingungslose und z. T. vorauseilende Zusammenarbeit (z.B. durch Vichy-Frankreich) den Nazis das Morden erleichterte.

Wird Eichmanns Tätigkeit (und damit Arendts Bericht) in den Gesamtkomplex Holocaust eingeordnet, so berichtet dieses Buch ausschließlich über die administrativen Massenmorde, nicht über jene an der Ostfront und im Süden, bei denen Juden ohne großen Verwaltungsaufwand direkt vor Ort ermordet wurden, insbesondere durch die Einsatzgruppen und die ihnen zuarbeitende Wehrmacht. Das Ausmaß dieser Morde war seit dem Einsatzgruppen-Prozess 1947-48 im Westen zwar bekannt, aber schwierig zu belegen; heute ist bekannt, dass den direkten Morden eine etwa gleich große Anzahl von Zivilisten zum Opfer fiel, wie den von Berlin aus organisierten. Durch die vorherigen Beratungen sowie die vorliegenden Anordnungen, Pläne und Briefwechsel sind bei den von Eichmann organisierten Morden mehr Quellen verfügbar als bei den direkten Massenmorden, die meistens nur indirekt belegt werden können, wie z.B. durch den „Reichenau-Befehl“ vom 10. Oktober 1941, der im wesentlichen einen Mordaufruf darstellt. Häufig wurden die Juden in Eichmanns Einflussbereich tagelang in Zügen durch Europa gefahren. Ebenso wurde ihr Todeszeitpunkt administrativ festgelegt, abhängig von Variablen, wie ihrem Gesundheitszustand, Alter und Geschlecht, der aktuellen Kapazität von Zügen und Gaskammern, der Überfüllung von Lagern. Daher nennt Arendt Eichmann einen „Verwaltungsmassenmörder“.

Die ihrem Buch folgende heftige Kontroverse der 1960er Jahre, vorrangig in den Vereinigten Staaten, der Bundesrepublik Deutschland und in Israel, hält abgeschwächt bis heute an, insbesondere über die „Banalität des Bösen“. Die Angriffe bedeuteten für Arendt einen weiteren biographischen Wendepunkt, vergleichbar ihrer Flucht 1933 aus Deutschland und 1941 aus Europa. Dutzende von Bekannten und Freunden distanzierten sich. Zum Verständnis der Radikalität dieser Wende und des gesamten Kontexts des Eichmann-Buchs dienen zahlreiche Stellen in ihren Briefen und vielen späteren Texten mit Bezug auf Eichmann, zu finden u.a. bei Elisabeth Young-Bruehl und Julia Schulze Wessel.

In ihrem 1964 erstmals in den USA erschienenen und 1969 neu bearteitet auf Deutsch veröffentlichten Essay "Wahrheit und Politik" geht Arendt auf diese Kontroverse ein.

Heinar Kipphardts nachgelassenes Theaterstück "Bruder Eichmann" verwendet zahlreiche Zitate aus Arendts Buch. In Leslie Kaplans Roman "Fever" spielt Eichmann eine Identifikationsfigur für zwei jugendliche Mörder, als sie nach der Tat ihr Gewissen spüren; die Figur verknüpft die Generationen von Großvätern und Enkeln.

Erste Kontroverse: Die Banalität des Bösen

Das Wort „banal“ hat im Deutschen und Französischen u.a. einen diminutiven (verkleinernden) Beiklang; zusammen mit dem „Bösen“ kam es zur Mißinterpretation, Arendt rede die Naziverbrechen klein. Im Englischen bedeutet es dagegen „Allgemeingültig“, eine „Selbstverständlichkeit“, was ihre Meinung eher trifft. Eichmann ist ein Typus der arbeitsteiligen Moderne, das Böse in der von ihm verübten Form ist potentiell weitverbreitet. Andererseits betont Arendt durchgehend die Möglichkeit, dass er sich anders hätte entscheiden können; das ist ihre an Kant geschulte Auffassung von Willensfreiheit. Als Beispiele für ein Verhalten im Gegensatz zum Üblichen der Zeit nennt sie als Individuen den Gefreiten Anton Schmid [3], der Juden rettete und dafür hingerichtet wurde, und als Staaten Dänemark und Bulgarien, deren Volk und Regierung das deutsche Vernichtungsprogramm sabotierten.

Arendts Bestimmung des Bösen an Eichmann als allgegenwärtige Gefahr folgt aus einer existentialistisch gefärbten Kulturkritik, die mit den Begriffen Verlassenheit („Weltlosigkeit“), Bindungslosigkeit, Arbeitsteilung und bürokratische Anonymität bezeichnet wird. Das Nazitum verwirklichte diese zuvor nur latente Gefahr, und seine Wirkung auf die Menschen der meisten Länder schätzt Arendt hoch ein. Der Vorwurf, sie habe Eichmann entlastet, geht jedoch in die Irre, da sie das Todesurteil ausdrücklich begrüßt und ihm, trotz formaler Bedenken allein wegen der Zuständigkeit des Gerichts, auch zustimmt. Eichmann war, durch seine Taten belegt, dazu entschlossen, die Welt nicht mit einem bestimmten Teil der Völkerfamilie, den Juden, zu teilen; seine Hinrichtung war die logische Folgerung.

Schulze Wessel [4] weist darauf hin, dass das deutsche Mordprogramm sich für Arendt nicht nur real, an Umfang zunehmend, sondern auch ideologisch immer mehr radikalisierte, insofern die zum Tod bestimmten Menschen immer weniger „als Juden“ gemordet wurden, der Begriff „Antisemitismus“ im Buch nicht mehr auftaucht und die Deutschen die spätere Ausweitung des Mordens auf andere Gruppen planten (bestimmte organisch Kranke). Es ging ihm um die Vernichtung des Menschen als solchen. Zwar ging es konkret gegen jüdische Menschen, auch gemäß den Nürnberger Gesetzen gegen Menschen, die sich selbst durchaus nicht mehr als Juden verstanden; aber Eichmann und die anderen Nazimörder wollten laut Arendt das Morden an sich, ein „Alles ist möglich“. Sie verwirklichten eine Ideologie der Sachlichkeit und der Planbarkeit, die sich gut in Eichmanns Satz fassen lässt: „Wenn diese Sache einmal gemacht werden musste,... dann war es besser, wenn Ruhe und Ordnung herrschten und alles klappte.“ [5], wobei er mit „Sache“ die Judenvernichtung meinte. Arendt betont, dass die Sprache der Nazis darauf aus war, Zusammenhänge auch vor den Tätern selbst (vor anderen sowieso) zu verschleiern, um ihre Gewissensreste, die manche Täter anfangs noch haben mochten, zu beruhigen. Das gilt hier für das Wort „Sache“ oder allgemein für die typische Tarnsprache der Zeit, z. B. „Endlösung“ für den Massenmord an Juden. Nach Arendt hatte Eichmann diese verdinglichte Sprache noch im Prozess, zwanzig Jahre nach seiner Tätigkeit, vollkommen verinnerlicht und wendete sie in den Verhören vor Avner Less und vor Gericht ständig an.

Arendt selbst hat den Begriff „Banalität“ in der deutschen Version durch die Ausdrücke „furchtbar“ und „Verruchtheit“ näher bestimmt. Ihre Zusammenfassung des Prozesses lautet: „... (es war), als zöge Eichmann selbst das Fazit der langen Lektion in Sachen menschlicher Verruchtheit, der wir beigewohnt hatten – das Fazit von der furchtbaren Banalität des Bösen, vor der das Wort versagt und an der das Denken scheitert.“[6]

Zweite Kontroverse: Die Rolle der Judenräte

Arendt äußerte im Eichmann-Buch Kritik an einer gewissen Kooperation, die jüdische Funktionäre aller Ränge (vom obersten Repräsentanten bis zum Ghetto-Polizisten) geleistet haben. Die Folge war eine heftige Kritik vor allem in den USA und in Israel; eine hebräische Ausgabe des Buches erschien erst im Jahr 2000. Dieser Punkt führte dazu, dass viele Bekannte, auch gute, sich von ihr abwandten, zu nennen wären Gershom Scholem und Hans Jonas. Mommsen unterstellt ihr eine gewisse Arroganz, da sie nicht nach Zeiten, Orten und Personen unterscheide, an denen je verschieden kooperiert wurde. Arendt selbst hatte, biographisch gesehen, zweimal im Leben großes Glück gehabt (in Berlin und in Gurs), dass sie den Deutschen entkommen konnte. Über ein Verhalten im Ghetto oder im Vernichtungslager konnte sie nicht aus eigener Anschauung urteilen.

Arendt wollte kein Geschichtsbuch schreiben. Ihre Kritik ist politischer Art; sie kritisiert, dass vor allem deutsch-jüdische Einrichtungen zu lange staatsgläubig gewesen seien, den Staat als Schutzinstanz verstanden hätten, sich deshalb auch an Ordnungsaufgaben aller Art, insbesondere der listenmässigen Erfassung von Personen und Eigentum beteiligt hätten.

Die teilweise pauschalen Aussagen werden auch erklärt mit Arendts lebenslanger Auseinandersetzung mit dem Zionismus; denn ein großer Teil der überlebenden jüdischen hohen Funktionäre spielte später eine Rolle im Staat Israel, dessen Gründung in dieser nationalen Form Arendt kritisch sah. Die Abneigung zwischen den Funktionären und Arendt war wechselseitig. Übersehen wird oft, dass Arendt persönlich an der Einwanderung nach Palästina beteiligt war, also auch einen Sinn in ihr sah; sie hatte in ihren Jahren in Frankreich junge Juden auf die Aliyah beruflich vorbereitet.

Für Arendt bedeuteten die organisierten Angriffe wegen dieser ihrer Äußerungen, zusammen mit einem Unfall, den sie zu dieser Zeit erlitt, eine psychische Belastung. Sie gewann allerdings Einblicke in das Lobbytum in den USA, den Einfluss organisierter Interessengruppen, was ihr späteres politisches Denken prägte. Sie setzte theoretisch zunehmend auf das Denken des Einzelnen in politischen Dingen und auf spontane Widerstandshandlungen gegen Unrecht. In ihren eigenen Worten:

Die Lehre solcher Geschichten ... lautet, politisch gesprochen, dass unter den Bedingungen des Terrors die meisten Leute sich fügen, einige aber nicht. So, wie die Lehre, die man aus den Ländern im Umkreis der „Endlösung“ ziehen kann, lautet, dass es in der Tat in den meisten Ländern „geschehen konnte“, aber dass es nicht überall geschehen ist. Menschlich gesprochen ist mehr nicht vonnöten und kann vernünftigerweise mehr nicht verlangt werden, damit dieser Planet ein Ort bleibt, wo Menschen wohnen können. [7]

Arendt sah in der Frage der jüdischen Kollaboration vor allem ein Mentalitätsproblem der jüdischen Opfer, die der Realität der kommenden Vernichtung allzu lange nicht ins Auge sehen wollten.

Dritte Kontroverse: „Verbrechen gegen die Menschheit“

Arendt hätte es begrüßt, wenn ein Internationales Strafgericht geurteilt hätte, da Eichmanns und der anderen Deutschen Verbrechen sich gegen die Menschheit als Ganzes, die „Pluralität der Existenz“ verschiedener Völker überhaupt, richteten. Als sie realistisch erkannt hatte, dass es einen solchen Gerichtshof in absehbarer Zeit nicht geben wird, war sie mit dem Prozess in Jerusalem einverstanden, hat aber vor allem im Epilog darüber reflektiert, wie es hätte anders laufen können. Die Auslieferung Eichmanns an Deutschland, die ohnehin nie beantragt wurde, lehnte sie angesichts der zahlreichen Freisprüche oder Minimalstrafen für Nazitäter ab; sie erkannte, dass die Adenauer-Regierung kein Interesse hatte, die Rolle Globkes und anderer Top-Nazis in der BRD zu thematisieren.

Sehr wichtig fand Arendt, hierin einig mit ihrem Freund Karl Jaspers, dass die Taten der Nazis als „Verbrechen gegen die Menschheit“ gesehen und möglichst abgeurteilt würden. Die Nazi-Ideologie der unbegrenzten Machbarkeit und der vollständigen Lenkung von Personen durch „Führer“, unter Verlust jeglicher Individualität, hielt sie für einen Angriff auf die Menschheit überhaupt, in den Worten des französischen Anklägers in Nürnberg: „Ein Verbrechen gegen Rang und Stand des Menschen“. Sie wehrte sich deshalb gegen die Verniedlichung zum „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“, ein Begriff, der sich heute allgemein (wegen der Mehrdeutigkeit von engl. „humanity“) durchgesetzt hat. Sie bemerkte ironisch, das klänge, als hätten es die Nazis beim Massenmorden nur an Menschlichkeit gegenüber den Opfern fehlen lassen.

Abschließend bewertet Arendt „Eichmann in Jerusalem“ als eine notwendige Konsequenz aus den Nürnberger Prozessen, nicht mehr, aber auch nicht weniger: der Jerusalemer Prozess habe trotz seiner nationalen Begrenztheit die Weltöffentlichkeit informiert, den moralischen Zusammenbruch Deutschlands weltweit offenbart und allgemein das politische Denken, das Denken in Verantwortung, gefördert. Der oft sarkastische, fast immer ironische Ton des Buches deutet darauf hin, dass Arendt selbst zu dieser Zeit bisweilen an die Grenzen des Nachdenkens über den Holocaust gelangt war. Er stellt auch die Übersetzer in andere Sprachen als die von Arendt betreuten Editionen (Englisch und Deutsch) vor eine Herausforderung.

Kritik

Die kritische Literatur zu diesem Buch nimmt fast im Jahresrhythmus zu, was zeigt, dass die von Arendt aufgeworfenen Fragen auch in nichttotalitären Gesellschaften wichtig sind. Young-Bruehl stellt in ihrer grundlegenden Biographie der Autorin sehr gut die organisierte Kampagne gegen sie dar. Schulze Wessel weist nach, dass die „Banalität des Bösen“ keine Verharmlosung der Nazitaten ist, sondern im Gegenteil eine Radikalisierung; Eichmann inszenierte sich selbst in Jerusalem nur als willenloses Werkzeug eines „Führerwillens“, als Mann ohne Eigenschaften. Einwände formulierte beispielsweise der US-amerikanische Holocaustforscher Raul Hilberg 1999 in einem Essay unter dem Titel: „Eichmann war nicht banal“.[8]

Der britische Historiker David Cesarani legt in seiner Eichmann-Biographie den Schwerpunkt auf die Entdämonisierung und widerlegt vorherige Darstellungen, die Eichmann auf eine Stufe mit Hitler oder Stalin stellten. War der junge Adolf Eichmann noch antisemitisch unauffällig, wurde er mit steigender Verantwortung immer besessener von seiner Aufgabe, ständig sein Organisationstalent weiterentwickelnd. Auch die These Hannah Arendts, Eichmann wäre ein Schreibtischtäter (das aber par excellence) gewesen, widerlegt Cesarani, indem er darstellt, wie Eichmann sich vor Ort ein Bild von den Gräueltaten machte, um seine Vernichtungsmethoden zu inspizieren und zu perfektionieren. Demnach war er ein fanatischer Nationalsozialist, der im Prozess den "Technokraten" nur deshalb vortäuschte, damit ihm kein „Rassenhass“ (ein niederes, mordqualifizierendes Motiv) nachzuweisen ist.[9]

Quellen

  • Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen Aus dem amerikanischen Englisch von Brigitte Granzow (v. d. Autorin überarb. Fassung im Vgl. zur engl. Erstausgabe; neue Vorrede). Seit 1986 mit einem „einleitenden Essay“ von Hans Mommsen. Erweiterte Taschenbuchausgabe. Piper, München u. a. 15. Aufl. 2006, 440 Seiten (Reihe: Serie Piper, Bd. 4822- Frühere Aufl.: ebd. Band 308. Diese Ausgabe, zuletzt 2005, liegt der Seitenzählung in diesem Art. zugrunde) ISBN 978-3492248228 ISBN 3492248225
  • Eichmann in Jerusalem. A Report on the Banality of Evil (erstmals 1963. Die Aufl. seit 1965 mit der dt. "Vorrede" als "Postscript" in der "rev. and enlarged edition.") Penguin Books, 2006 ISBN 0143039881 ISBN 978-0143039884. Die Seiten 1 bis 136 (teilw.), das berühmte Zitat auf Seite 233 engl. (entspricht S. 347 deutsch) und vor allem das Stichwortverz. sind online lesbar: [1]
  • Auszüge: Eichmann and the Holocaust (Reihe: Penguin Great Ideas) Penguin, 2005 ISBN 0141024003 ISBN 978-0141024004

Anmerkungen

  1. Seite 231
  2. engl. Ausg. Penguin S. 112, eig. Übersetzung, vergleichbar dt. Ausg. S. 205
  3. von Arendt falsch geschrieben: "Schmidt", der Fehler zieht sich durch sämtliche Ausgaben und die Sekundärlit.
  4. siehe Literatur
  5. Seite 296
  6. Seite 371
  7. Seite 347
  8. Raul Hilberg: , in: Die Welt, 28. August 1999.
  9. David Cesarani: Becoming Eichmann: Rethinking the Life, Crimes and Trial of a ‘Desk Murderer’ Da Capo Press, Cambridge MA, 2006, S. 197, 347. Deutsche Ausg.: Adolf Eichmann. Bürokrat und Massenmörder Propyläen, Berlin 2004, S. 360ff. & S. 483 bis 495 u. ö.

Literatur

  • Elisabeth Young-Bruehl: Hannah Arendt. Leben, Werk und Zeit Fischer, Frankfurt 2004, ISBN 3596160103 (Aus dem Amerikan.: Hannah Arendt. For Love of the World Yale Univ. Press 1982)
  • Julia Schulze Wessel: Ideologie der Sachlichkeit. H. A.s politische Theorie des Antisemitismus Suhrkamp, Frankfurt 2006 (Reihe: TB Wissenschaft 1796) ISBN 3518293966 Rezension [2] von Yvonne Al-Taie
  • David Cesarani: Adolf Eichmann. Bürokrat und Massenmörder. Propyläen, München 2004
  • David Cesarani: Becoming Eichmann. Rethinking the Life, Crimes and Trial of a „Desk Murderer“ Da Capo, Cambridge MA 2006
  • Steven A. Aschheim (Hg): H.A. in Jerusalem Univ. of Calif. Press, Berkely u.a. 2001 (engl.) ISBN 0520220579 (Pb.) ISBN 0520220560 (HC) Nur die Einleitung von Aschheim (S. 1 - 18) und drei weitere Aufsätze (Mommsen, Leora Bilsky und Richard I. Cohen (S. 224 - 280) sind zu diesem Thema, die übrigen Art. haben andere Themen. Das Inhaltsverz. sowie der Index sind einsehbar bei amazon.com.
  • Gary Smith: H.A. revisited: "Eichmann in Jerusalem" und die Folgen ed. suhrkamp, Frankfurt 2000 ISBN 3518121359
  • Walter Laqueur: H. A. in Jerusalem. The Controversy Revisited in: Lyman H. Legters (Hg.): Western Society after the Holocaust Westview Press, Voulder, Colorado USA 1983, S. 107-120
  • Dan Diner: Hannah Arendt Reconsidered. On the Banal and the Evil in Her Holocaust Narrative in: New German Critique No. 71 (Spring/Summer 1997) S. 177-190
  • Richard J. Bernstein: Did Hannah Arendt Change Her Mind? From Radical Evil to the Banality of Evil in: Hannah Arendt. Twenty Years Later MIT Press, Cambridge, Mass. & London 1996, S. 127-146
  • Claudia Bozzaro: H.A. und die Banalität des Bösen Vorw. Lore Hühn. FWPF (Fördergemeinschaft wissenschaftlicher Publikationen von Frauen) Freiburg 2007 ISBN 978-3939348092 (Gesamtdarstellung des "Bösen" bei Arendt, einschl. Spätwerk)

Ton und Bild

  • Jo Brauner & Julia Westlake & Noah Sow & Hannah Arendt: Laut gegen Nazis. Hörbuch. Teil 1. Verhörprotokolle von A. Eichmann Universal Family Entertainment (Dt. Grammophon), Berlin 2007. 2 CDs + Booklet (19 S.) ISBN 9783829119726 ISBN 3829119720.
  • Eike Geisel: Erbschaft eines Angestellten. Über H. A., Eichmann, und "die Banalität des Bösen" Film, Sender Freies Berlin, 45 Min. 1990 (VHS)
  • Joachim Fest: Eichmann oder Von der Banalität des Bösen. H. A. interpretiert ihr Buch Radiobeitrag. SWF Baden-Baden, Abendstudio. 19. September 1964, Sendedatum 9. November 1964, 58 Min. Transkription (Hg. Ursula Ludz & Thomas Wild) in: [3] 2007 (später als Buch)

Siehe auch

Weblinks

  • [4] Sammlung von Unterlagen A's. über den Prozess, die polizeilichen Verhörprotokolle und ihr Buch (Rezensionen, Polemiken etc.) in der Library of Congress (über Suchfunktion: "Eichmann"). Teilweise schlecht lesbar, da Original-Scan. Einiges Material ist nur gelistet und nicht online lesbar. Für wiss. Zwecke in Kopien komplett einzusehen im H-A-Archiv Oldenburg.
  • [5] weitere wichtige Zitate
  • [6] Aussage Eichmanns zum "Führerbefehl"
  • [7] Moshe Zuckermann: Zur Bedeutung von H. Arendts »Eichmann in Jerusalem« in: Zs. Utopie kreativ, H. 201/202 (Juli/August 2007), S. 674-680
  • [8] Ernst Vollrath: Vom “radikal Bösen” zur “Banalität des Bösen”. Überlegungen zu einem Gedankengang von Hannah Arendt FS Arendt-Preis 2001, S. 1 - 7 (über den Spießer, z. B. Himmler bei Arendt, als Vorläufer für die Figur des banalen Bösartigen)

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