Textkritik des Neuen Testaments

Textkritik des Neuen Testaments

Die Textkritik des Neuen Testaments ist die wissenschaftliche Arbeit, die den Ausgangstext der verschiedenen Varianten der neutestamentlichen Texte zu rekonstruieren sucht und ein Werkzeug der historisch-kritischen Methode der Bibelauslegung. Die Aufgabe der Textkritik besteht darin, den Bibeltext möglichst in der Form zu rekonstruieren, in der er ursprünglich verfasst wurde. Sie wird im Gegensatz zu den andern Methoden der historisch-kritischen Exegese auch von Evangelikalen akzeptiert, beispielsweise in Artikel X der Chicago-Erklärung zur Unfehlbarkeit der Bibel.

Die (allgemeine) Textkritik wurde von der klassischen Philologie entwickelt, um antike Texte, die teilweise nur fragmentarisch, dafür aber in mehreren Traditionslinien überliefert sind, zu rekonstruieren. Die Texte des Neuen Testaments gehören zu den am besten überlieferten Texten der Antike (Textgeschichte des Neuen Testaments) und sind deshalb für die Textkritik durch die große Anzahl der Textzeugen ein Sonderfall.

Die ersten vollständig erhaltenen Texte stammen aus dem 4. Jahrhundert, aus älterer Zeit sind zahlreiche Fragmente überliefert.

Es gibt über 5.000 Textzeugen in Griechisch, über 10.000 lateinische Manuskripte und weitere 10.000 Manuskripte von Übersetzungen in andere Sprachen. Daher ist das Erstellen von Handschriftenstammbäumen sehr schwierig. Neutestamentliche Textkritiker umgehen das Problem, indem sie die Textzeugen in Gruppen, genannt Text-Typen, sortieren und bei der Wahl der Varianten eklektisch vorgehen. Die hauptsächlichen Texttypen sind der Alexandrinische Typ, der Westliche Typ und der Byzantinische Typ.

Kurz beschrieben, geht die Textkritik etwa folgendermaßen vor:

  • Der Text der antiken Handschriften wird rekonstruiert und entziffert.
  • Die vorhandenen Manuskripte werden miteinander verglichen und Varianten festgestellt.
  • Die Varianten werden analysiert, insbesondere im Hinblick auf ihr Entstehen. Erfahrungsgemäß kommen dabei vor:
    • Abschreibversehen (doppelte Zeilen oder Wörter, ausgelassene Zeilen oder Wörter, Verwechslung ähnlicher Buchstaben);
    • ein schwieriger Text wurde vereinfacht;
    • ein kurzer Text wurde ergänzt;
    • ein ungebräuchlicher Text wurde einem gebräuchlichen angeglichen (z. B. aus Christus Jesus wird Jesus Christus).
  • Die ursprüngliche Variante wird ermittelt. Das Hauptkriterium dabei ist, dass die ursprüngliche Lesart die ist, die das Zusammenkommen der anderen Lesarten am besten erklären kann (vergleichbar zur Phylogenie). Weitere Faktoren sind dabei z. B. auch das Alter oder die Qualität einer Handschrift: Ein Papyrus ist in der Regel älter als ein Pergament und eine Minuskelhandschrift ist meist jünger als eine Majuskel.

Diese ganze Arbeit fließt z. B. in den so genannten Apparat einer griechischen Bibelausgabe ein, der es auch erlaubt, die Zuverlässigkeit des Texts zu beurteilen. Dabei werden in Fußnoten die möglichen Varianten zu einem Bibelvers angegeben, die Textzeugen, in denen die Varianten vorkommen, und gewöhnlich auch noch eine Bewertung der Variante.

Textkritik interessiert sich nicht für die inhaltliche Auslegung des Textes, sondern liefert als ersten Schritt innerhalb der historisch-kritischen Exegese den im Weiteren zu analysierenden Text. Auf die Textkritik kann nur verzichtet werden, wenn die Textgestalt einer bestimmten Überlieferungstradition durch eine dogmatische Entscheidung als verbindlich festgelegt wird.

Siehe auch

Literatur

Textausgaben

  • Novum Testamentum Graece. Hg. v. Barbara Aland / Eberhard Nestle u.a., 27. Aufl. Stuttgart 2001 (für die Textkritik ist die aktuelle Auflage wichtig, wegen der Einbeziehung der neuesten Handschriftenfunde) ISBN 3-920609-32-8
  • The Greek New Testament. Hg. v. Barbara Aland. Stuttgart 1993 (Text des GNT4 ist derselbe wie NA27, doch textkritischer Apparat ist teilweise ausführlicher) ISBN 3-438-05110-9
  • Bruce M. Metzger: A Textual Commentary on the Greek New Testament. A Companion Volume to the United Bible Societies' Greek New Testament (Fourth Revised Edition). Dt. Bibelges./United Bible Soc., Stuttgart 2. Aufl. 1994 ISBN 3-438-06010-8
  • Novum Testamentum Graecum Editio Critica Maior. Hg. vom Institut für Neutestamentliche Textforschung Münster. Bisher erschienen: Bd. 4: Die katholischen Briefe. Stuttgart 1997-2003

Einführungen und Hilfsmittel

  • Kurt Aland, Barbara Aland: Der Text des Neuen Testaments. Einführung in die wissenschaftlichen Ausgaben sowie in Theorie und Praxis der modernen Textkritik. 1982. Stuttgart 2. Aufl. 1989 (das Standardwerk zum Thema) ISBN 3-438-06011-6
  • Kurt Aland: Kurzgefaßte Liste der griechischen Handschriften des Neuen Testaments. ANTT 1. Berlin 2. Aufl. 1994
  • Bruce M. Metzger: The Text of the New Testament. Its Transmission, Corruption, and Restoration. New York 3. Aufl. 1992 (vgl. die - veraltete - deutsche Ausgabe: Der Text des Neuen Testaments. Eine Einführung in die neutestamentliche Textkritik. Kohlhammer, Stuttgart 1966)
  • James Keith Elliot: A Bibliography of Greek New Testament Manuscripts. MSSNTS 109. Univ. Press, Cambridge 2. Aufl. 2000 ISBN 0-521-77012-2

Geschichte der neutestamentlichen Textkritik

  • Martin Heide: Der einzig wahre Bibeltext? Erasmus von Rotterdam und die Frage nach dem Urtext. 5., verbesserte und erweiterte Auflage. Verlag für Theologie und Religionswissenschaft, Nürnberg 2006 ISBN 978-3-933372-86-4
  • Winfried Ziegler: Die "wahre strenghistorische Kritik". Leben und Werk Carl Lachmanns und sein Beitrag zur neutestamentlichen Wissenschaft. Theos 41. Kovač, Hamburg 2000 ISBN 3-8300-0141-X

Aktueller Forschungsstand

  • Bart D. Ehrman/M. W. Holmes (Hrsg.): The Text of the New Testament in Contemporary Research. Essays on the 'Status Quaestionis'. A Volume in Honor of Bruce M. Metzger. Studies and Documents 46. Eerdmans, Grand Rapids 1995 ISBN 0-8028-2440-4
  • Kent D. Clarke: Textual Optimism. A Critique of the United Bible Societies' Greek New Testament. JSNTSup 138. Academic Press, Sheffield 1997 ISBN 1-85075-649-X
  • A. Denaux (Hrsg.): New Testament Textual Criticism and Exegesis. Festschrift J. Delobel. BEThL 161. University Press, Peeters, Leuven 2002 ISBN 90-429-1085-2
  • Sylvia Nielsen: Euseb von Cäsarea und das Neue Testament. Methoden und Kriterien zur Verwendung von Kirchenväterzitaten innerhalb der neutestamentlichen Textforschung. Theorie und Forschung 786. Theologie 43. Roderer, Regensburg 2003 ISBN 3-89783-364-6
  • Eldon Jay Epp: Perspectives on New Testament Textual Criticism. Collected Essays. 1962 - 2004. Supplements to Novum Testamentum 116. Brill, Leiden u.a. 2005 ISBN 90-04-14246-0
  • Bart D. Ehrman: Studies in the Textual Criticism of the New Testament. New Testament Tools and Studies 33. Brill, Leiden u.a. 2006 ISBN 90-04-15032-3

Weblinks


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