Thidrekssaga als historische Quelle

Thidrekssaga als historische Quelle
Das Bonner Stadtsiegel aus dem 13. Jahrhundert trägt am Rand die Aufschrift: SIGILLUM ANTIQUE VERONE NUNC OPIDI BUNNENSIS (Das alte Siegel von Verona, jetzt der Stadt Bonn)

Die Thidrekssaga könnte sich nach einer These Heinz Ritter-Schaumburgs als Quelle für die historische Wirklichkeit der Völkerwanderungszeit in Norddeutschland erweisen. Ihm zufolge geht der Kern der deutschen Heldensage direkt auf historische Ereignisse in Niederdeutschland um das Jahr 500 zurück. Er nimmt unter anderem an, dass der Etzel/Attila der Sage nicht auf den hunnischen König Attila, sondern auf einen Friesenprinz zurückgeht, der Soest erobert haben soll. Das Bern der Sage vermutet er in Bonn, die Herkunft der Nibelungen im Raum der Voreifel. Sagenhelden wie Dietrich von Bern, Siegfried und die Nibelungen wären demnach historisch und erst im Verlauf des Mittelalters mit historisch bekannten Vorbildern wie Theoderich dem Großen oder den Burgunden verwechselt und gleichgesetzt worden. Die altschwedische Fassung der Thidrekssaga betrachtet er dabei als die ursprünglichste Version der Sage und hält sie für einen chronikartigen (wenn auch sagenhaft verfremdeten) Bericht der Völkerwanderungszeit aus germanischer Hand. Ritter-Schaumburgs These erregt insofern Aufsehen, als sie ein völlig neues Bild der germanischen Frühgeschichte im Niederrheingebiet zeichnet. Von Fachkreisen wird sie mit dem Argument abgelehnt, dass sie auf falschen methodologischen Grundlagen beruhe. Eine methodologische Widerlegung wird wiederum von den Vertretern der Thesen Ritter-Schaumburgs nicht akzeptiert.

Inhaltsverzeichnis

Geschichtlicher Hintergrund

Mit dem Ende der römischen Herrschaft in Mitteleuropa versiegen nahezu alle schriftlichen Quellen, und bis zum Beginn des 8. Jahrhunderts sind schriftliche Überlieferungen über das Gebiet des heutigen Deutschland äußerst spärlich. Lediglich archäologische Funde und einzelne Aufzeichnungen, vor allem der Franken (z.B. Gregor von Tours) liefern bruchstückhafte Erkenntnisse. Nach Heinz Ritter-Schaumburg gibt es daneben eine weitere Quelle für die mitteleuropäische Frühgeschichte, die allerdings nur mit äußerster Vorsicht ausgewertet werden kann, weil in ihr unzweifelhaft historische Ereignisse mit mythischen Elementen überlagert sind: die alten deutschen Heldensagen. Das bekannteste darunter ist heute wohl das Nibelungenlied, das eine Variante der Nibelungensage entwickelt. Siegfried, der den Drachen tötet, später von Hagen ermordet wird und schließlich durch Kriemhild gerächt wird. Bei der von ihr provozierten Schlacht gehen alle Burgunden am Hof des Hunnenkönigs Attila zugrunde.

Das germanische Volk der Burgunden und ihr König Gundahar wurden tatsächlich im Jahre 436 von einem hunnischen Heer vernichtet, doch waren sie nicht an Attilas Hof gezogen, sondern in ihrer Heimat am Rhein vernichtet worden. Attila war zu dieser Zeit auch noch nicht der hunnische König. Dietrich von Bern wird von jeher mit dem ostgotischen König Theoderich dem Großen gleichgesetzt. Doch lebte der Gotenkönig nie am Hofe Attilas, wie es in den Sagen erzählt wird, da der Hunne vor Theoderichs Geburt schon tot war. Man geht daher allgemein davon aus, dass diese Heldensagen ein teils erfundenes, teils immer wieder neu zusammengesetztes Sagengeflecht darstellen, das auf verschiedenen historischen Ereignissen fußt. Diese allgemein akzeptierte Auffassung lehnt Ritter-Schaumburg ab und behauptet statt dessen, die Sage gehe direkt auf tatsächliche Geschehnisse der Völkerwanderungszeit im Rheinland und in Niederdeutschland zurück. Er sieht in der Thidrekssaga, insbesondere in der altschwedischen Fassung, eine Quelle, die von diesen Geschehnissen berichtet. Die Thidrekssaga gibt selbst vor von wahren Begebenheiten zu erzählen:

Diese Saga ist zusammengesetzt nach den Aussagen deutscher Männer, doch einige (Sagas) nach deren Liedern, welche vornehme Männer ergötzen sollen und welche einstmals gedichtet wurden gleich nach den Ereignissen, welche in dieser Saga erzählt werden. Und wenn du einen Mann nimmst aus jeder beliebigen Burg in ganz Sachsland (Norddeutschland), so werden alle diese Saga auf die gleiche Weise erzählen. Das bewirken aber ihre alten Gesänge.

Dennoch wird sie bis heute von den meisten Geschichtsforschern und Germanisten als historiographisch wertlos betrachtet, weil sie als sekundäres Derivat der deutschen Nibelungensage, wenn nicht gar als verstümmelte Übersetzung des Nibelungenliedes gilt. Einer der Hauptgründe hierfür ist, dass in ihrer Erzählung die Niflungen, als sie zu König Attala ziehen, an der Stelle über den Rhein setzen, an der „Rhin und Duna zusammenfallen“. Der Rhin ist sicher der Rhein, und die Duna hat man immer für die Donau gehalten, die im Nibelungenlied eine wichtige Rolle spielt. Da aber die Donau bekanntermaßen nicht in den Rhein mündet, argumentierte man, der nordische Sagaschreiber oder seine niederdeutschen Vorgänger hätten keine Ahnung von (und kein Interesse an) oberdeutschen geographischen Verhältnissen gehabt und die für sie bedeutungslosen Namen mit Anschauungen aus ihrem eigenen Horizont aufgefüllt.

Geographische Angaben der Thidrekssaga

Die Duna

Ritter-Schaumburg weist darauf hin, dass die Dhünn, ein heutiger Nebenfluss der Wupper, noch vor hundertfünfzig Jahren in den Rhein mündete, bevor sie in die benachbarte Wupper umgeleitet wurde. Um 1190 wurde sie noch unter dem Namen Dune genannt. Mit der alten Duna kann seiner Meinung nach nur diese Dune, die heutige Dhünn gemeint sein. An der ursprünglichen Mündung der Dhünn in den Rhein befand sich wohl schon immer eine sehr flache Furt (heute Manfort), die seit alters her benutzt wurde, um den Rhein zu überqueren. Aus seiner Identifizierung der Duna mit der norddeutschen Dhünn folgert Ritter-Schaumburg, dass die angeblich unsinnigste Stelle der Thidrekssaga die geographische Wirklichkeit wiedergeben könnte. Folglich untersuchte er viele weitere Ortsnamen auf eine möglichen realen Hintergrund.

Landschaften und Orte der Thidrekssaga

Attala, ein König in Soest

In der Thidrekssaga ziehen die Nibelungen, die hier stets Niflungen heißen, vor ihrem Untergang zu König Attala (auch Attila, Aetla, Aktilia oder Atilius) nach Susat. Selbst unter den Gegnern Ritter-Schaumburgs scheint Einigkeit zu herrschen, dass jenes Susat der Thidrekssaga mit dem heutigen Soest in Westfalen identisch ist. Ritter Schaumburg nimmt an, dass Soest tatsächlich die Heimat eines Königs Attala war. Sein auch als Hunaland oder Hymeland bezeichnetes Reich müsste dann große Teile Westfalens umfasst haben. Diese Hunen (auch Heunen bzw. Hünen genannt) hätten nach Ritter nichts mit asiatischen Steppenkriegern zu tun, sondern wären ein germanischer Volksstamm gewesen, dessen König bald mit dem bekannteren hunnischen Attila verwechselt wurde. Auf ein germanisches Volk der Hunen gibt es außerhalb der Thidrekssaga nur spärliche Hinweise. Beda Venerabilis etwa berichtet über eine geplante Missionsreise des Mönches Egbert kurz vor 700 ins Heimatgebiet der Angelsachsen, zu den Friesen, Rugiern, Dänen, Hunen, Altsachsen, Brukterern. Im Bruchstück De orgine Sueborum, einer Parallelerzählung zur Sachsengeschichte Widukinds von Corvey wird von der Flucht des Thüringerkönigs Irminfried nach einer verlorenen Schlacht gegen die Franken im Jahr 531 zu Attila dem König der Hunnen berichtet. Der hunnische Attila kann dabei aber nicht gemeint sein, da dieser damals seit langem tot war.Attila ist eigentlich ein germanischer Kosename, der Väterchen bedeutete und von den unterworfenen Goten für ihren Hunnenchef geprägt oder umgeprägt wurde; ähnlich wie der Anführer der Sowjetunion gerne als „Väterchen Stalin“ bezeichnet wurde. So könnte sowohl der vermutete Hune Attala als auch Hunnenkönig Attila ursprünglich einen ganz anderen Namen besessen haben.

Das Heimatgebiet der Nibelungen

Da Ritter vermutet, die Nibelungen überquerten den Rhein bei der Dhünn-Mündung (Manfort nahe Leverkusen), folgert er aus ihrem Zielort Susat (Soest), dass ihr Herkunftsgebiet wohl südwestlich von Köln, etwa im Raum der Vor-Eifel gelegen habe. Die Niflungen kommen der Thidrekssaga zufolge aus Vernica bzw. Verminza, nicht aus Worms wie im Nibelungenlied. Worms hieß lateinisch Wormatia, mhd. Wormez. Eine Namensform Verminza scheint nicht völlig abwegig. Ritter-Schaumburg stellt jedoch die sprachhistorische Überlegung an, dass der Name Verminza heute wahrscheinlich Virmenich, Vernica heute Virnich lauten müsste. Er folgert dies aus der historischen Änderung ähnlich lautender Namen. So wurde etwa aus Belgica der Name Billich (heute Billig) und aus Linnica (erwähnt 888) wurde Linnich. Virnich und Virmenich gibt es tatsächlich. Beide liegen eng benachbart in der Voreifel im Raum Zülpich und werden von Ritter mit der Niflungenburg Vernica (bzw.Verminza) gleichgesetzt. Ritter-Schaumburg setzt somit voraus, dass ein Ortsname der Völkerwanderungszeit, der niemandem etwas sagen konnte, da der Ort Virnich bedeutungslos war, etwa 800 Jahre lang präzise und richtig überliefert worden sei, nicht nur zunächst in der Lokalüberlieferung, sondern auch bis in die altnorwegische Fassung hinein. Eine derartige Annahme verkennt nach Meinung von Fachleuten eklatant die Gegebenheiten mittelalterlicher Namenüberlieferung. Allerdings scheint die Thidrekssaga mit Ballofa auch den ältesten bekannten Namen von Balve (erste Erwähnung vor 890 n. Chr.) bewahrt zu haben. In jenem Ballofa soll Wieland nach der Thidrekssaga das Schmieden gelernt haben.

Weitere Orte dieser Gegend könnten nach Ritter-Schaumburg auf die Niflungen zurückzuführen sein. Der König der Niflungen hieß der Sage nach Gunter und Hagen soll im gleichen Gebiet von einem "Alben" oder "Elf" gezeugt worden sein. Die beiden ebenfalls im Zülpicher Raum liegenden Orte Juntersdorf (früher Guntirsdorp) und Niederelvenich (früher Albinacum) weisen Ähnlichkeiten zu den beiden Personennamen auf. Demnach war mit dem Elfen oder Alben der Thidrekssaga möglicherweise kein mystisches Wesen, sondern nur ein Bewohner Elvenichs bzw. Albinacums gemeint. Ganz in der Nähe fließt der Neffelbach. Die Niflungen wären also vielleicht eigentlich die Neffelungen, sozusagen die Leute vom Neffelbach. In der Thidrekssaga gibt es im übrigen keine Burgunden, wie Gunters Volk im Nibelungenlied fast durchweg genannt werden, hier heißen sie stets Niflungen (entspricht Nibelungen).

Bern und Rom

Ritter-Schaumburg liefert auch eine Deutung, wo seiner Ansicht nach Dietrichs Heimatstadt Bern liegen müsste. Das heutige Bern ist mit Sicherheit nicht gemeint. Es entstand erst im zwölften Jahrhundert. Allgemein akzeptiert ist auch, dass die lateinische Form für Bern Verona ist. Das bekannte italienische Verona und die Tatsache, dass Dietrich von Bern der Sage nach auch Rom eroberte, waren sicher die Hauptgründe dafür, dass er bisher immer mit Theoderich dem Großen gleichgesetzt wurde. Dieser Gotenkönig regierte bis 526 n. Chr. in Italien und Dietrich ist lediglich eine andere Schreibweise für Theoderich. So lag es nahe, beide für identisch zu halten. Allerdings herrschte Theoderich in Ravenna, nicht in Verona und weist auch sonst nur wenige Parallelen zum Dietrich der Sage auf. Es gibt jedoch noch eine weitere Stadt, die einst Bern hieß. Bonn, das alte römische Castra Bonnensia ist urkundlich vom 10. bis zum 16. Jahrhundert auch unter dem Namen Verona und Berne erwähnt. Tatsächlich führt Dietrich von Bern der Sage nach einen gelben(goldener) Löwen auf rotem Grund (Feld) als Wappen. Das historische Wappen der Stadt Bonn zeigt neben dem Kölner Kreuz das gleiche Symbol. Die Farben rot und gold trägt es allerdings erst seit 1971.

Viele italienisch klingende Namen der Thidreksaga rühren möglicherweise daher, dass die Herrschaft der Römer im Rheinland damals erst seit kurzem vorbei war und viele Orte noch römische Namen hatten. Diese Namen gerieten später vielfach in Vergessenheit. Selbst die Stadt, die in der Thidrekssaga stets Rom genannt wird, war Ritter-Schaumburg zufolge nicht das „echte“ Rom im fernen Italien, sondern die alte Kaiserstadt Trier. Trier war einst die Hauptstadt des römischen Reiches und wurde in der Spätantike oft Roma Secunda oder Rom des Nordens genannt.

Ein sagenhafter Bericht aus dem Jahre 1197 des Historiograph Gottfried von Köln scheint die These eines Dietrich von Bern im Moselraum zu stützen: In diesem Jahre erschien einigen Wanderern an der Mosel ein Gespenst von riesiger Größe in menschlicher Gestalt, das auf einem schwarzen Rosse saß. Als diese von Schrecken ergriffen waren, näherte sich ihnen kühnlich die Erscheinung und ermahnte sie, keine Furcht zu haben: sie nannte sich Dietrich von Bern und kündete an, verschiedenerlei Unglück und Elend werde über das römische Reich kommen....

Fundament der Dietkirche in Bonn, die Ritter zufolge nach Dietrich von Bern benannt sein könnte.

Dietrich von Bern wäre demnach ein König zu Bonn, der Trier eroberte und nicht Theoderich der Große. Das würde aber bedeuten, dass es im 5. Jahrhundert im heutigen Rheinland Königreiche gab, die nicht in der sonst bekannten historischen Überlieferung auftauchen. Historische Quellen berichten von einer fränkischen Herrschaft in Köln zu jener Zeit weshalb man oft allgemein annimmt, dasselbe galt auch für das gesamte Gebiet am Mittelrhein. Doch existiert keine historische Quelle, die beweist, dass andere Teile des Rheinlandes und Westfalens zu jener Zeit unter merowingischem Einfluss standen. Köln kommt in der Thidrekssaga möglicherweise unter dem Namen Babilonia (Schreibfehler oder alter Name von Colonia?) vor, das die Helden stets vorsichtig umgehen. Ein Punkt, der sehr für die Existenz kleinerer Königreiche im 5. und 6. Jahrhundert um Bonn und Trier spricht, ist die Tatsache, dass die fränkischen Chronisten im besagten Zeitraum kein einziges Wort über Trier verlieren, das kurz vorher noch die größte Stadt nördlich der Alpen war.

Dietrich als historischer Herrscher

Die Thidrekssaga berichtet uns auch, wie König Dietrich sein Reich zu Bern erhält. Glaubt man dieser Erzählung, so hat sich ein gewisser Samson nach dem Zerfall der römischen Macht ein Reich in Hesbanien mit Sitz in Salerna erobert. Unter Hesbanien verstand man lange Zeit Spanien, und Salerna setzte man mit dem italienischen Salerno gleich. Ritter-Schaumburgs Mutmaßungen zufolge ist Hesbanien allerdings die Hesbaye (zu deutsch Haspengau), eine Landschaft im heutigen Belgien, die zwischen Namur und Maastricht liegt, und Salerna könnte das kleine Salvenerias sein. Heute wird es Sauvenieres genannt, doch noch 946 wird es als Salvenarias urkundlich erwähnt. Keine 25 km von Sauveniere entfernt am südlichen Maasufer liegt noch heute ein Ort, der schon seit uralten Zeiten den Namen Samson trägt und in dessen näheren Umgebung Kriegergräber aus der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts entdeckt wurden. Samson war König Dietrichs Großvater. Er verließ sein Reich aus unbekannten Gründen und eroberte sich zwei neue Reiche für seine beiden Söhne. Rom (=Trier?) für Ermenrich und Bern für Dietmar, Dietrichs Vater. Das sollte etwa um das Jahr 470 geschehen sein, da um diese Zeit Trier in germanische Hand fiel. Kurz vorher herrschte dort noch der römische Comes Arbogast. Der Sage nach starb König Dietmar früh und der junge Dietrich erbte das Berner Reich. Später eroberte Ermenrich das Land seines Neffen Dietrich und dieser floh zu König Attala, der in Susat (=Soest in Westfalen) regierte. Nach vielen Jahren gelang es Dietrich mit Attalas Hilfe, Bern zurückzuerobern. Am Ende eroberte er sogar Trier und erhielt dazu Attalas Reich als dieser erbenlos starb. Nach Reinhard Schmoeckel starb Dietrich wohl um das Jahr 540 n. Chr. als alter Mann. Was danach geschah, wissen wir nicht. Die Thidreksaga berichtet uns nichts davon. Es gab aber der Sage nach keinen Thronerben und so könnte Dietrichs ganzes Reich den Merowingern in die Hände gefallen sein.

Archäologische Funde

Interessanterweise wurde um das Jahr 1700 nur wenige Kilometer von Virnich entfernt ein großer Steinsarg entdeckt, in dem angeblich ein hünenhafter Krieger mit goldener Rüstung und Krone beerdigt war. Der Fund wurde als "Königsgrab von Enzen" bekannt; außer dem Steinsarg ist jedoch weder etwas davon erhalten noch glaubhaft beschrieben. Ritter-Schaumburg mutmaßt, dieser Steinsarg könne vielleicht die letzte Ruhestätte Siegfrieds gewesen sein.

Die Runenschrift auf der Rükseite der goldenen Schebibenfibel von Soest und die mögliche Deutung: A-T-A-N/L-O

1930 wurde nahe bei Soest mehrere reich ausgestattetes Kammergräber entdeckt, die zumeist Frauengräber waren und besonders durch ihren großen Goldreichtum auffallen. Im reichsten dieser Gräber datierte die späteste Münze, die sich im Grab fand, frühestens auf das Jahr 527 n. Chr. (terminus ante quem non). Etwa um diese Zeit hätte der Kampf zwischen Hunen und Niflungen nach den Berechnungen Reinhard Schmoeckels stattfinden sollen, bei dem auch Kriemhild ums Leben kam. Die Tote in dem Soester Grab trug eine goldene Scheibenfibel, auf der nach Ritter-Schaumburgs Deutung ein Königsmonogramm mit dem Namen Atano oder Atalo in Runenschrift zu erkennen sein soll. Die Fibel könne ein Geschenk des Königs Attalo an seine Gemahlin gewesen sein.

In Trier-Pfalzel wurde eine Münze mit einem archaischen Portrait und der Aufschrift PALATIOLO UOMERIGE aus frühmerowingischer Zeit gefunden, die sich möglicherweise auf den von Ritter vermuteten König Ermenrik zurückführen lässt. Ein Palatiolum ist ein römischer Sommerpalast, den die römischen Kaiser hier, als sie noch in Trier regierten, bauen ließen.

Kritik an Ritter-Schaumburgs Thesen

Ritter-Schaumburg nahm eine verloren gegangene Frühfassung der schwedischen Überlieferung an, die vor der Umgestaltung der Stadt Soest (1170-1180) geschrieben sein soll bzw., wie Ritter-Schaumburg noch 1992 behauptete, bereits vor oder in der Zeit Karls des Großen vorgelegen habe. Für eine solche "Urfassung" fehlen allerdings jegliche Belege. Unter Fachgermanisten - die sich zuvor mit der Thidrekssaga wenig beschäftigt hatten, da diese als spätere Kopie und sekundäre Zusammenfügung anderer, älterer Einzelsagen gilt - werden die Thesen Ritter-Schaumburgs kritisch betrachtet und gelten als hinfällig. Auch halten sie seine Methoden für unwissenschaftlich, weil Ritter-Schaumburg gesicherte literarhistorische Erkenntnisse über die Sagen- und Geschichtsüberlieferung der germanischsprachigen Völker ignoriert.

Zum Verhältnis zwischen Membrane und altschwedischer Fassung

Dass es sich bei der altschwedischen Fassung (die so genannte Didriks-Chronik oder "Svava", abgekürtzt Sv) der Thidrekssaga um eine Übersetzung handelt, gibt sie selbst ganz am Schluss zu verstehen, mit den Worten: Herrn Didriks Buch hat nun sein Enden, Gott möge seine Gnade senden Dem, der es tat auf Schwedisch wenden. Auch deshalb wird die altschwedische Fassung im allgemeinen für eine verkürzte Übersetzung der altwestnordischen Membrane betrachtet. Heinz Ritter bestreitet diese Abhängigkeit und hält die schwedische Fassung für die Übersetzung eines nicht mehr existierenden dänischen oder niederdeutschen Textes, wofür auch die verwendeten niederdeutschen Namen der Helden und zahlreiche Danismen sprächen. Er verweist dabei auf das Verhältnis der beiden Handschriften (Sv A und Sv B) der altschwedischen Fassung, die ihm zufolge eigenständige Übersetzungen ein und desselben Textes sein müssen. Dies wäre an den vielfach verwendeten gleichbedeutenden aber anders lautenden Worten erkennbar. Die ausländische Quelle müsse aber aufgrund der starken Verwandtschaft beider Handschriften keine der altwestnordischen Fassungen sein. Die Handschrift Sv B enthält allerdings nur den ersten Teil der Thidrekssaga bis etwa zu Sevekins Rache, weshalb dieses Argument nur für diesen Teil relevant ist.[1]

Germanisten gehen heute mehrheitlich davon aus, dass die altschwedische Form der Thidrekssaga keine Übersetzung eines alten deutschen Heldenliedes ist, sondern aus den altwestnordischen Versionen der Thidrekssaga, insbesondere der sogenannten Membrane (Mb) übersetzt wurde. Dennoch gab es darüber auch einige Kontroversen. Klockhoff etwa glaubte 125 Übereinstimmungen zwischen Sv und der isländischen Fassung gegen die norwegische Mb gefunden zu haben. Das würde es unmöglich machen, dass Mb die direkte Vorlage von Sv war. Klockhoff vermutete, es müsse neben Mb noch eine zweite, sehr ähnliche Handschrift der Ths gegeben haben, die eben jene Fehler von Mb nicht enthalten hatte.[2]

Bertelsen reduziert die Zahl dieser signifikanten Abweichungen jedoch stark, der Großteil der 125 Belege Klockhoffs sind demnach durch einfache Schreibfehler in der Mb zu erklären. Einige Abweichungen zwischen Mb und Sv konnte aber auch Bertelsen nicht anders als Klockhoff erklären.[3] In seiner Ausgabe der Ths formuliert Bertelsen, Sv biete eine „näher zu Mb stimmende“ Fassung (aber nicht eine Abschrift von Mb selbst).[4]Hempel wiederum argumentiert, dass auch die wenigen nach Ansicht Bertelsens verbliebenen Argumente zu Gunsten einer eigenen Vorlage von Sv, die nicht mit Mb identisch ist, nicht stichhaltig sind, worin er durch neuere Untersuchungen unterstützt wird, die weitere Argumente im Sinne Hempels bringen und auch mehrmals überprüfen, dass Mb die direkte Quelle von Sv gewesen sein muss.[5][6][7][8] Ritter nimmt zu den Ausführungen Bertelsens, Hempels und Hennings Stellung und weist darauf hin, dass diese sich bei der Beurteilung der Entstehungsgeschichte von Sv letztendlich nur auf C. R. Ungers Buch mit dem Titel SAGA THIDRIKS KONUNGS AF BERN von 1853 bezögen. Unger wiederum wirft er diesbezüglich vor, dass er andere Sprachen außer norwegisch und deutsch (etwa dänisch) als Vorlagen gar nicht in Betracht zöge und dann vor allem aufgrund der Tatsache, dass heute keine deutsche Prosa-Erzählung bekannt ist, zum Schluss kommt, Sv müsse von der norwegischen Bearbeitung herrühren. [9]

Die altschwedische Fassung überliefert aber nach Ansicht der Germanistik keine ältere Variante, sondern wurde offenbar direkt aus der Membrane abgeschrieben, als diese noch vollständig war. Allerdings muss der schwedische Übersetzer auch andere Werke der Sage gekannt haben und ließ stellenweise aus diesen Details einfließen. So fügte er aus dem Nibelungenlied das Lindenblatt ein (das er nur leicht verändernd zu einem Ahornblatt machte), das zwischen Siegfried/Sigurds Schulterblätter fiel. Viele Punkte Ritters beziehen sich jedoch darauf, dass die Didriks-Chronik meist ursprünglicher und damit näher am tatsächlichen Geschehen sein soll als die anderen Handschriften der Thidrekssaga. Auch wird von der großen Mehrheit der Germanisten die Ansicht vertreten, dass das Nibelungenlied eine ursprünglichere Version der Sage benutzt und nicht, wie H. Ritter-Schaumburg behauptet, die Thidrekssaga. Ritter Schaumburg fordert, dass die Ursprünge der Didrikschronik, die im 15. Jahrhundert niedergeschrieben wurde, bis in die Zeiten Karls des Großen zurückreichen sollten. Dies widerspricht völlig der vorherrschenden Lehrmeinung. So widersprechen auch zwei neuere Arbeiten, die sich mit diesem Thema beschäftigen und von Skandinavisten verfasst wurden, Ritter-Schaumburg, und nehmen das Gegenteil seiner Behauptungen an.

Widersprüche zu bekannten historischen Fakten

Mit bekannten geschichtlichen Fakten scheint die These relativ wenig zu kollidieren. Ein bekanntes Vorkommnis spricht aber möglicherweise gegen Ritters These. Eine Schlacht, die um das Jahr 500 zwischen Alemannen und Franken bei Zülpich stattfand, würde sich mit einem Niflungenreich bei Zülpich schwer vereinbaren lassen. Reinhard Schmoeckel weist jedoch darauf hin, dass der Ort dieser Schlacht nur durch eine einzige Zeile bei Gregor von Tours bekannt ist. Sie fand nach ihm bei "tulbiacum" statt. Tolbiacum war der römische Name Zülpichs. Allerdings gibt es auch kaum historische Fakten, die für einen historischen Kern der Thidrekssaga sprechen. So kann ein Geschlecht der Niflungen als rheinfränkischer Stamm nicht historisch nachgewiesen werden. In der Genealogie der Franken findet man zwar gelegentlich Hinweise (Gertrud von Nivelles), doch in der fränkischen Geschichtsschreibung (insbesondere bei Gregor von Tours) findet man zu diesem Geschlecht nichts. Andererseits vermeldet die fränkische Überlieferung quasi nichts über das Mittelrhein- und Moselgebiet in besagter Zeit (spätes 5./frühes 6. Jahrhundert): Ein Hinweis dafür, dass zu jener Zeit die Merowinger dort vielleicht gar nicht geherrscht haben. Einen erheblichen Schwachpunkt in der ritterschen Argumentation stellt sicher auch die wichtige Person "Ermenrik", König von Trier, dar. Trier war zu dieser Zeit als zweites Rom wohl die wichtigste Stadt nördlich der Alpen. Ein Eroberer hätte wohl in der historischen Überlieferung Niederschlag finden müssen. Ein Beleg für die Existenz dieses fränkischen Königs ist aber bisher nicht zwingend vorgelegt worden.

Literatur

  • Hermann Reichert: Die Nibelungensage im mittelalterlichen Skandinavien. In: Joachim Heinzle, Klaus Klein, Ute Obhof (Hrsg.): Die Nibelungen. Sage - Epos - Mythos. Wiesbaden 2003. ISBN 3-89500-347-6
  • Heinz Ritter-Schaumburg: Die Nibelungen zogen Nordwärts. Reichl; Auflage: 2. A. 2002. ISBN 3876671299
  • Heinz Ritter-Schaumburg: Die Didriks-Chronik, Otto Reichl Verlag, St Goar, 1989. ISBN 3876671027
  • Reinhard Schmoeckel: Bevor es Deutschland gab, Gustav Lübbe Verlag, 2004. ISBN 3404641884
  • Reinhard Schmoeckel: Deutsche Sagenhelden und historische Wirklichkeit, Georg Olms Verlag, Hildesheim, 1995. ISBN 3487100355
  • Walter Böckmann: Der Nibelungen Tod in Soest, Düsseldorf 1981. ISBN 3430113784
  • Harry Böseke: Sagenhafte Irrtümer, ah! Erlebnis Verlag Frank Ahlert, Mönchengladbach, 2006.
  • Sagan om Didrik af Bern. Hg. Gunnar Olof Hyltén-Cavallius (Samlingar utg. af Svenska Fornskrift-sällskapet Heft 14, 15, 22, = Bd. 10). Stockholm 1850.

Einzelnachweise

  1. Heinz Ritter-Schaumburg: Die Didriks-Chronik. Otto Reichl Verlag, St. Goar 1989, ISBN 3876671027
  2. Oskar Klockhoff: Studier öfver Þiðreks saga af Bern. In: Upsala Universitets Årsskrift 1880.
  3. Henrik Bertelsen: Om Didriks af Berns sagas oprindelige skikkelse, omarbejdelse og håndskrifter. Kopenhagen 1902.
  4. Henrik Bertelsen (Hrsg.): Þiðriks saga af Bern. Kopenhagen 1909.
  5. Heinrich Hempel: Die Handschriftenverhältnisse der Þiðrikssaga. In: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 48 (1924), S. 417ff.
  6. Bengt Henning: Didrikskrönikan. Handskriftsrelationer, översättningsteknik og stildrag. Stockholm 1970.
  7. Thomas Klein: Zur Þiðreks saga. In: Arbeiten zur Skandinavistik, hg. Heinrich Beck, Frankfurt 1985, S. 487ff.
  8. Hermann Reichert: Heldensage und Rekonstruktion. Untersuchungen zur Thidrekssaga Philologica Germanica 14. Wien 1992. ISBN 3-900538-34-4. S. 17-29.
  9. Heinz Ritter-Schaumburg: Die Didriks-Chronik. Otto Reichl Verlag, St. Goar 1989, ISBN 3876671027

Weblinks


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