Tilidin

Tilidin
Strukturformel
Strukturformel von Tilidin
(1S,2R)-Isomer (links) und (1R,2S)-Isomer (rechts)
1:1-Gemisch der Stereoisomeren
Allgemeines
Freiname Tilidin
Andere Namen
  • (1RS,2SR)-2-(Dimethylamino)-1-phenylcyclo- hex-3-en-carbonsäureethylester
  • (±)-(E)-2-(Dimethylamino)-1-phenyl-cyclohex- 3-en-1-carbonsäureethylester
  • rac-(E)-2-(Dimethylamino)-1-phenyl-cyclohex- 3-en-1-carbonsäureethylester
Summenformel C17H23NO2
CAS-Nummer
  • 20380-58-9 (Tilidin)
  • 27107-79-5 (Tilidin·Hydrochlorid)
  • 255733-17-6 (Tilidinhydrochlorid-Hemihydrat)
PubChem 30131
ATC-Code

N02AX01

Arzneistoffangaben
Wirkstoffklasse

Opioid-Analgetikum

Verschreibungspflichtig: BtMG (mit Ausnahmen)
Eigenschaften
Molare Masse 273,37 g·mol–1
Schmelzpunkt

159 °C(Tilidin·Hydrochlorid)[1]

Siedepunkt

95,5–96 °C bei 1 Pa[1]

Sicherheitshinweise
Bitte beachten Sie die eingeschränkte Gültigkeit der Gefahrstoffkennzeichnung bei Arzneimitteln
EU-Gefahrstoffkennzeichnung [2]
Keine Einstufung verfügbar
R- und S-Sätze R: siehe oben
S: siehe oben
Soweit möglich und gebräuchlich, werden SI-Einheiten verwendet. Wenn nicht anders vermerkt, gelten die angegebenen Daten bei Standardbedingungen.

Vorlage:Infobox Chemikalie/Summenformelsuche vorhanden

Tilidin ist ein schmerzstillend wirksamer Arzneistoff aus der Gruppe der Opioide.

Die synthetisch hergestellte Substanz wird für die Behandlung starker und sehr starker Schmerzen eingesetzt. Als Prodrug hat Tilidin selbst kaum eine schmerzstillende (analgetische) Wirkung und wird erst in der Leber zu den aktiven Metaboliten Nortilidin und Bisnortilidin verstoffwechselt, von denen Nortilidin die hauptsächliche Wirkung ausübt.

Um einer missbräuchlichen intravenösen Anwendung als Rauschmittel vorzubeugen, ist Tilidin in Fertigarzneimitteln meist in fixer Kombination mit dem Arzneistoff Naloxon enthalten. Naloxon hebt insbesondere nach intravenöser Gabe – jedoch nach oraler Gabe in therapeutischen Dosierungen vernachlässigbar – die Wirkung des Tilidins auf. Für die Behandlung chronischer Schmerzen ist Tilidin als Schmerzmittel in die Stufe 2 gemäß dem WHO-Stufenschema eingeordnet.

Inhaltsverzeichnis

Chemie

Herstellung

Die chemische Synthese von Tilidin geht vom Dimethylaminobuta-1,3-dien, welches aus Crotonaldehyd und Dimethylamin gewonnen wird, und Atropasäureethylester aus, die in einer Diels-Alder-Reaktion die Zielverbindung bilden. Die Trennung der Stereoisomeren erfolgt mit Hilfe chiraler Zinkkomplexe.[3][4][5]

Synthese von Tilidin

Stereoisomerie

2-(Dimethylamino)-1-phenylcyclohex-3-en-carbonsäure-ethylester enthält zwei stereogene Zentren. Es existieren also folgende vier Stereoisomere: (1R,2S)-Form und die dazu enantiomere (1S,2R)-Form sowie die (1R,2R)-Form und die (1S,2S)-Form. Der Arzneistoff Tilidin wird als Racemat (1:1-Mischung) aus den Enantiomeren der (1R,2S)-Form und der (1S,2R)-Form eingesetzt.[6] Der Bedeutung der Enantiomerenreinheit der synthetisch hergestellten Arzneistoffe wird zunehmend Beachtung eingeräumt, denn die beiden Enantiomeren eines chiralen Arzneistoffes zeigen fast immer eine unterschiedliche Pharmakologie und Pharmakokinetik. Dies wurde früher aus Unkenntnis über stereochemische Zusammenhänge oft ignoriert.[7] So ist die (1S,2R)-Form [(+)-trans-Form] stärker wirksam, als die (1R,2S)-Form [(–)-trans-Form]. Bei subcutaner Anwendung verhalten sich die ED50-Werte dieser beiden Enantiomere wie 1:23.[8]

Darüber hinaus ist die racemische trans-Form [Tilidin = 1:1-Mischung aus (1R,2S)- und (1S,2R)-Form] etwa zweimal so aktiv, wie die nicht im kommerziellen Arzneistoff enthaltene racemische cis-Form [1:1-Mischung aus (1R,2R)- und (1S,2S)-Form].[8]

Pharmazeutische Informationen

Tilidin wird arzneilich in Form des Hydrochlorid-Hemihydrats und des Phosphats verwendet. Als Darreichungsformen gibt es Tropfen zum Einnehmen sowie Kapseln und Retardtabletten.

Klinische Angaben

Anwendungsgebiete

Tilidin ist angezeigt zur Behandlung starker und sehr starker Schmerzen. Die Potenz liegt bei 0,16–0,19 im Vergleich zu Morphin (ein Fünftel der analgetischen Wirkstärke).[9]

Nebenwirkungen

Prinzipiell alle der opioidtypischen Nebenwirkungen treffen auf Tilidin zu (Siehe Opioide, Abschnitt „Weitere Wirkungen“). Allerdings kann wegen des Naloxon-Zusatzes die Verstopfung (Obstipation) deutlich schwächer ausgeprägt sein. Auch vermindert Naloxon die atemdepressive Wirkung.[10] Der rasche Wirkungseintritt begünstigt Übelkeit und Erbrechen.

Anwendung bei eingeschränkter Leber- und Nierenfunktion

Bei Patienten mit bestehenden Vorschädigungen der Leber besteht die Gefahr eines Wirkungsverlustes, da die hepatische Metabolisierung zu den wirksamen Metaboliten beeinträchtigt werden kann. Eine Niereninsuffizienz erfordert keine Dosisanpassung.

Gegenanzeigen

Tilidin ist kontraindiziert bei Überempfindlichkeit gegen die Substanz und bei Opiatabhängigkeit (siehe Abschnitt Pharmakologie).

Pharmakologie

Tilidin an sich hat kaum opioidtypische Wirkung und wird erst bei seiner ersten Passage durch die Leber durch Demethylierung zu Nortilidin – dem eigentlichen opioiden Wirkstoff – verstoffwechselt. Nortilidin ist einerseits ein µ-Agonist, andererseits wird es im weiteren Verlauf in das wiederum aktive Bisnortilidin überführt, welches ebenfalls opioide Effekte vermittelt. Nach der Einnahme von Tilidin baut sich die Opioidwirkung vergleichsweise schnell auf (etwa 10–20 Minuten). Die Enzyme, die an diesem Schritt beteiligt sind, gehören zur Klasse der Cytochrom P450. Im Detail scheinen die Enzyme CYP3A4 und CYP2C19 am Abbau von Tilidin zu Nortilidin und gleichfalls am weiteren Abbau zu Bisnortilidin und bisher nicht weiter untersuchter polarer Substanzen beteiligt zu sein. Dies konnte durch Inhibition mit Naloxon und spezifisch diese Enzyme hemmende Antagonisten nachgewiesen werden. Dabei wird ein Drittel der Dosis von Tilidin zur Nortilidin verstoffwechselt, wovon wiederum ein Drittel zu Bisnortilidin abgebaut wird. Damit stehen ca. 33% an der wirksamen Form Nortilidin zur Verfügung. [11]

Das dem Tilidin beigemengte Naloxon wird im Allgemeinen bei seiner ersten Passage durch die Leber fast vollständig abgebaut und inaktiviert. Da aber dem Tilidin eine relativ große Menge Naloxon beigemengt wird, wird davon nur ein Teil in der Leber deaktiviert, und es bleibt – bei der Einnahme einer größeren Menge Tilidin – noch stets genug davon übrig, um seine antagonistische Wirkung zu entfalten und die Wirkung des eingenommenen Tilidins oder weiterer Opioide zu hemmen oder zunichte zu machen. Bei Opiatabhängigen kann es somit auch bei oraler Gabe schwerste Entzugserscheinungen auslösen.

Tilidin hat keine antitussive Wirkung.[12]

Missbrauch

Um den Missbrauch von Tilidin durch Drogenabhängige einzuschränken, wird dem Tilidin der Opioidantagonist Naloxon beigefügt. Unter Konsumenten hochpotenter Opiate wie Morphin, halbsynthetischer Opioide wie Heroin oder vollsynthetischer Opioide wie Methadon mit entsprechend hoher Toleranz erfreut es sich tatsächlich keiner großen Beliebtheit, da es für diesen Personenkreis mangels Möglichkeit zum intravenösen oder hochdosierten Konsum kaum Missbrauchspotential bietet. Davon abgesehen scheint es aber einen zunehmenden Missbrauch – auch unter Jugendlichen – zu geben; es kommt im Zusammenhang mit Tilidin auch häufig zu Rezeptfälschungen.[13]

In der Vergangenheit wurde in verschiedenen Medien behauptet, Tilidin mache aggressiv.[14] Da eine solche Wirkung von Tilidin in der Schmerztherapie unbekannt ist, scheint dies auf den ersten Blick wenig plausibel. Mindestens eine Reportage befasste sich in diesem Zusammenhang ausschließlich mit jugendlichen Konsumenten, die offenkundig einem kleinkriminellen Milieu angehörten. Dies legt den Schluss nahe, dass hierbei vor allem soziokulturelles Umfeld und Mentalität des Konsumenten ursächlich sind, wenn die durch Tilidin hervorgerufene Euphorie und Anxiolyse zu Gewalttätigkeiten führt, wie sie auch bei Alkoholkonsum zu ähnlichem Verhalten führen können.

Betäubungsmittelrechtliche Vorschriften

Tilidin unterliegt betäubungsmittelrechtlichen Vorschriften. In Deutschland darf trans-Tilidin als verkehrs- und verschreibungsfähiges Betäubungsmittel[15] nur auf einem Betäubungsmittelrezept verordnet werden. Ausgenommen sind Zubereitungen unterhalb einer festgelegten Dosisgrenze und in Kombination mit Naloxon.[16] cis-Tilidin ist verkehrs-, aber nicht verschreibungsfähig.[17] Auch in der Schweiz sind tilidinhaltige Arzneimittel (trans-Tilidin) auf einem Betäubungsmittelrezept zu verordnen.[18]

Tilidin wird hauptsächlich in Deutschland, Belgien und der Schweiz vertrieben, in den USA unterliegt Tilidin der "Schedule-I"; die Substanzen dieser Kategorie sind vergleichbar mit den Substanzen des BtmG der Anlage-I. Demnach wird für das Schmerzmittel Tilidin in den USA kein therapeutischer, noch medizinischer Nutzen anerkannt, und es ist verboten.[19]

Einzelnachweise

  1. a b The Merck Index. An Encyclopaedia of Chemicals, Drugs and Biologicals. 14. Auflage, 2006, S. 1622, ISBN 978-0-911910-00-1.
  2. In Bezug auf ihre Gefährlichkeit wurde die Substanz von der EU noch nicht eingestuft, eine verlässliche und zitierfähige Quelle hierzu wurde noch nicht gefunden.
  3. G. Satzinger: Über Cyclohexene, I Synthese und Reaktionen von 4-Phenyl-3-amino-cyclohexenen-(1), einer neuen Klasse von Analgetica in Justus Liebigs Annalen der Chemie 758 (1969) 64 -87, doi:10.1002/jlac.19697280111.
  4. G. Satzinger: Über Cyclohexene, II Struktur und Eigenschaften der stereoisomeren 3-Dimethylamino-4-phenyl-4-ethoxycarbonyl-1-cyclohexene in Justus Liebigs Annalen der Chemie 758 (1972) 43 - 64, doi:10.1002/jlac.19727580105.
  5. G. Satzinger: Über Cyclohexene, III Die absolute Konfiguration von (+)- und (–)-3r-Dimethylamino-4c-phenyl-4t-äthoxycarbonyl-1-cyclohexen in Justus Liebigs Annalen der Chemie 758 (1972) 65 - 7, .doi:10.1002/jlac.19727580106.
  6. Europäisches Arzneibuch, Deutscher Apotheker Verlag Stuttgart, 6. Ausgabe, 2008, S. 4160−4161, ISBN 978-3-7692-3962-1.
  7. E. J. Ariëns, Stereochemistry, a basis for sophisticated nonsense in pharmacokinetics and clinical pharmacology, European Journal of Clinical Pharmacology 26 (1984) 663–668, doi:10.1007/BF00541922.
  8. a b Hermann J. Roth, Christa E. Müller, Gerd Folkers: Stereochemie und Arzneistoffe, Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft Stuttgart, 1998, S. 251−274, ISBN 3-8047-1485-4.
  9. Hagers Handbuch der pharmazeutischen Praxis, Bd. 9. Springer Verlag 1995, Seite 934.
  10. (Sorge, J.: Medikamentöse Schmerztherapie - Opioide. In: Zenz M, Jurna I: Lehrbuch der Schmerztherapie, Stuttgart 2001, S. 462).
  11. Weiss, J.; Sawa, E.; Riedel, K.-D.; Haefeli, W.E.; Mikus, G.: In vitro metabolism of the opioid tilidine and interaction of tilidine and nortilidine with CYP3A4, CYP2C19, and CYP2D6 in Naunyn-Schmiedeberg’s Arch. Pharmacol. 378 (2008) 275–282, doi:10.1007/s00210-008-0294-7.
  12. Aktories, Förstermann, Hofmann, Starke: Allgemeine und spezielle Pharmakologie und Toxikologie 9. Aufl., Verlag Elsevier, ISBN 978-3-437-44490-6.
  13. Berlin will schärfer gegen Modedroge Tilidin vorgehen, Der Spiegel, 11. August 2008, S. 131.
  14. Trend-Droge lässt Jugendliche durchdrehen, Spiegel Online, 23. Januar 2008.
  15. Anlage III (zu § 1 Abs. 1) verkehrsfähige und verschreibungsfähige Betäubungsmittel zum Betäubungsmittelgesetz.
  16. „Ausgenommen sind Zubereitungen, die ohne einen weiteren Stoff der Anlagen I bis III BtMG bis zu 7 vom Hundert oder je abgeteilte Form bis zu 300 mg Tilidin, berechnet als Base, und, bezogen auf diese Mengen, mindestens 7,5 vom Hundert Naloxonhydrochlorid enthalten.“ Quelle: Anlage III (zu § 1 Abs. 1) verkehrsfähige und verschreibungsfähige Betäubungsmittel zum Betäubungsmittelgesetz].
  17. Anlage II (zu § 1 Abs. 1) verkehrsfähige, aber nicht verschreibungsfähige Betäubungsmittel.
  18. Verordnung des Schweizerischen Heilmittelinstituts über die Betäubungsmittel und psychotropen Stoffe.
  19. U.S. DEA (US-Drogenbekämpfungsbehörde): Drug Scheduling.

Handelsnamen

Monopräparate

Valoron (CH)

Kombinationspräparate

Andolor (D), Celldolor (D), Valoron N (D), Valtran (B), zahlreiche Generika (D)

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