Topologie (Objekt der Mathematik)

Topologie (Objekt der Mathematik)

Die Topologie (gr. τόπoς tópos „Ort“, „Platz“ und -logie) oder Analysis situs, wie sie früher meistens genannt wurde, ist ein Teilgebiet der Mathematik. Sie ist im Wesentlichen eine Schöpfung des 20. Jahrhunderts und trotzdem bereits seit Jahrzehnten als Grundlagenfach anerkannt. Insofern hat sie (zusammen unter anderem mit der linearen Algebra und der Maßtheorie) das Erbe der Geometrie angetreten.

Gegenstände der Topologie sind in umfassender Weise die topologischen Räume und deren charakteristische topologische Strukturen. Auch diese werden häufig kurz Topologien genannt; die genaue Definition findet sich dort. Topologische Räume können als radikale Verallgemeinerung des „Anschauungsraumes“ der Elementargeometrie verstanden werden, und der erstaunliche Erfolg dieses Konzeptes ist die Folge seiner Fähigkeit, eine Vielzahl von Phänomenen zu integrieren. Neben der Algebra ist die Topologie grundlegend für fast alle Gebiete der Mathematik, auch ihrer Anwendungen; ihrerseits hat sie die Mengenlehre und Kategorientheorie befruchtet.

Die Topologie als Teilgebiet lässt sich noch weiter unterteilen in mengentheoretische Topologie, die sich allgemein mit topologischen Räumen beschäftigt, und algebraische Topologie (auch „kombinatorische Topologie“, vor allem in älteren Publikationen), die diejenigen Eigenschaften von topologischen Räumen untersucht, die unter stetigen Abbildungen erhalten bleiben. Weitere Gebiete: Differentialtopologie, geometrische Topologie, Knotentheorie.

Für die Verwendung des Begriffs Topologie in außermathematischem Kontext siehe die Begriffsklärungsseite Topologie. Für Begriffserklärungen aus der mathematischen Topologie siehe das Topologie-Glossar.

Inhaltsverzeichnis

Einführung

Die Topologie untersucht die Eigenschaften geometrischer Körper (d. h. topologischer Räume), die durch Verformungen mit Homöomorphismen nicht verändert werden. Dazu gehört das Dehnen, Stauchen, Verbiegen, Verzerren, Verdrillen eines Gegenstands. Zum Beispiel haben eine Kugel und ein Glas dieselbe Topologie; sie sind homöomorph. Ebenso sind ein Donut, dessen Form in der Mathematik als Torus bezeichnet wird, und eine einhenkelige Tasse homöomorph.

Der axiomatische Aufbau der modernen Topologie beruht auf dem grundlegenden Konzept der „Nachbarschaft“, formalisiert als offene Menge, Umgebung oder innerer Kern. Neben offen und abgeschlossen gibt es als weitere fundamentale topologische Begriffe stetig, kompakt, separabel, zusammenhängend, dicht, Rand, Inneres, Weg.

Formale Definition

Sei X eine nichtleere Menge und \mathcal O \subset \mathcal P(X), das heißt, \mathcal{O} ist ein System von Teilmengen von X. Das Paar (X, \mathcal O) bezeichnet man als topologischen Raum, falls die folgenden drei Eigenschaften gelten:

  • Die leere Menge \emptyset und X liegen beide in \mathcal{O}.
  • Liegen endlich viele A_1, \ldots, A_n in \mathcal{O}, so ist deren Durchschnitt \bigcap_{i=1}^n A_i ebenfalls in \mathcal{O}. (Kurz: Endliche Schnitte in \mathcal{O} bleiben in \mathcal O.)
  • Ist I eine Indexmenge (beliebiger Kardinalität) und bezeichnen Ai für jedes i \in I Elemente von \mathcal{O}, so liegt deren Vereinigung  \bigcup_{i \in I} A_i wieder in \mathcal{O}. (Kurz: Beliebige Vereinigungen in \mathcal{O} bleiben in \mathcal O.)

Die Elemente von \mathcal O werden als offene Mengen bezeichnet. Ihre Komplemente in X heißen abgeschlosse Mengen.

Geschichtliche Notiz

Der Begriff „Topologie“ findet sich erstmals um 1840 bei Johann Benedict Listing; die ältere Bezeichnung analysis situs (etwa: Lageuntersuchung) blieb aber lange üblich und hatte auch ihren Bedeutungsschwerpunkt jenseits der neueren, „mengentheoretischen“ Topologie. Begriff und Bezeichnung „topologischer Raum“ stammen von Hausdorff.

Die Lösung des Sieben-Brücken-Problems von Königsberg durch Leonhard Euler im Jahr 1736 gilt als die erste topologische und zugleich als die erste graphentheoretische Arbeit in der Geschichte der Mathematik.

Maurice Fréchet führte 1906 den metrischen Raum ein.

Georg Cantor befasste sich mit den Eigenschaften offener und abgeschlossener Intervalle, untersuchte Grenzprozesse, und begründete dabei zugleich die moderne Topologie und die Mengentheorie. Die Topologie ist der erste Zweig der Mathematik, der konsequent mengentheoretisch formuliert wurde – und gab dabei umgekehrt den Anstoß zur Ausformung der Mengentheorie.

Die Definition des „topologischen Raumes“ gelang erst Felix Hausdorff[1] in Jahre 1914. Nach heutigem Sprachgebrauch definierte er dort eine offene Umgebungsbasis, nicht jedoch eine Topologie, was erst durch Kazimierz Kuratowski[2] bzw. Heinrich Tietze[3] um 1922 korrigiert wurde. In dieser Form wurden die Axiome dann durch die Lehrbücher von Kuratowski (1933), Alexandroff/Hopf (1935), Bourbaki (1940) und Kelley (1955) popularisiert.[4]

Exaktere Darstellung

Die Topologie formalisiert den Begriff der „Nähe“ (besser: Umgebung oder: infinitesimale Nähe).

Als Beispiel betrachte man die topologischen Räume der ganzen Zahlen \mathbb{Z} und die der rationalen Zahlen \mathbb{Q} (mit der aus der Metrik induzierten Topologie). Da es bijektive Abbildungen zwischen \mathbb{Z} und \mathbb{Q} gibt, sind sie gleichmächtig. Sie sind also als Mengen ununterscheidbar, solange man sie nur als Ansammlung von Elementen betrachtet, ohne deren Eigenschaften und Beziehungen zu berücksichtigen. Aber die beiden Mengen unterscheiden sich hinsichtlich ihrer topologischen Struktur: In \mathbb{Z} liegen alle Punkte isoliert, d. h., im Gegensatz zu \mathbb{Q} gibt es um jeden Punkt eine kleine Umgebung, in der kein weiterer Punkt liegt. Deshalb gibt es keinen Homöomorphismus zwischen beiden.

In unserem Beispiel kann man für je zwei Punkte aus \mathbb{Z} oder \mathbb{Q} den Abstand angeben. Eine Umgebung eines Punktes p besteht mindestens aus all den Punkten, deren Abstand zu p kleiner als eine Zahl c ist. Auf den ganzen Zahlen gibt es also kleine Umgebungen, die keinen weiteren Punkt enthalten, während für die rationalen Zahlen jede Umgebung eines Punktes unendlich viele weitere Elemente aus \mathbb{Q} enthält, unabhängig davon, wie klein die Zahl c und damit die Umgebung gewählt wird.

Während die beiden obigen Beispiele den Begriff des Abstandes verwenden, besteht die Leistung der (mengentheoretischen) Topologie darin, das Konzept der Nähe auf das Wesentliche reduziert zu haben.

Dies gelingt, indem man statt der Abstandsfunktion nur noch die Menge aller Umgebungen betrachtet (bzw. in einer beliebigen Menge M zu jedem Punkt einen Satz von Teilmengen auswählt, die man als die Umgebungen dieses Punktes definiert). Man findet so viele Beispiele von topologischen Räumen, auf denen es nicht mehr möglich ist, den Abstand zwischen den Punkten anzugeben.

Es gibt zwei Gründe, die für die Betrachtung dieser Struktur sprechen: Zunächst gibt es natürliche Beispiele von Räumen, auf denen keine Abstandsfunktion definiert werden kann (z. B. manche Quotientenräume). Andererseits ist man oft nicht an dem konkreten Abstand interessiert: Man stelle sich einen Körper im \mathbb{R}^3 vor, den man ausbeult und verformt (ohne ihn aber zu zerreißen). Der Abstand zweier Punkte in diesem Objekt hat sich geändert, aber wichtige Grundeigenschaften sind geblieben, z. B. kann man zwei Punkte, die man vor der Verformung verbinden konnte, auch weiterhin verbinden, oder ein Punkt im Innern des Körpers bleibt im Innern.

Nicht jede Abbildung zwischen topologischen Räumen ist verträglich mit der zusätzlichen Struktur (z. B. gibt es bijektive Abbildungen zwischen den ganzen und den rationalen Zahlen, aber die beiden Räume sehen ganz verschieden aus). Eine Abbildung ist in diesem Sinne gutartig und wird stetig genannt, „wenn sie die Nähe erhält“. Eine Funktion f:\mathbb{R}\to\mathbb{R}, die x\ne 0 auf 0 und 0 auf 1 abbildet, ist z. B. nicht stetig, denn Zahlen, die „in der Nähe von 0 liegen“, werden „weit weg“ von f(0) abgebildet.

Die mengentheoretische Topologie erlaubt die Konstruktion von sehr vielen Pathologien. Dies macht sie in der größten Allgemeinheit zu einem relativ fruchtlosen Gebiet. Topologen beschäftigen sich deshalb mit spezielleren Räumen, z. B. Mannigfaltigkeiten oder CW-Komplexen.

Literatur

  • Nicolas Bourbaki: Topologie générale. Hermann, 1961. 
  • T. Camps, S. Kühling, G. Rosenberger: Einführung in die mengentheoretische und die algebraische Topologie. Heldermann, 2006, ISBN 3-885-38115-X (http://www.heldermann.de/BSM/BSM15/bsm15.htm). 
  • H. Herrlich, H. Bargenda: Topologie I: Topologische Räume. Heldermann, 1986, ISBN 3-885-38102-8 (http://www.heldermann.de/BSM/bsm02.htm). 
  • Kazimierz Kuratowski: Topologie I. 1933 (http://matwbn.icm.edu.pl/kstresc.php?tom=3&wyd=10). 
  • H. Schubert: Topologie. Teubner, Stuttgart 1964, ISBN 3-519-12200-6. 
  • A. Hatcher: Algebraic Topology. Cambridge University Press, 2000, ISBN 0-521-79540-0 (http://www.math.cornell.edu/~hatcher/AT/ATpage.html). 
  • Boto von Querenburg: Mengentheoretische Topologie. 3. Auflage. Springer Verlag, Berlin 2001, ISBN 3-540-67790-9. 
  • Klaus Jänich: Topologie. 8. Auflage. Springer Verlag, Berlin 2005, ISBN 3-540-21393-7. 
  • Gerhard Preuß: Allgemeine Topologie. 2. Auflage. Springer Verlag, Berlin 1975, ISBN 3-540-07427-9. 
  • René Bartsch: Allgemeine Topologie I. 1. Auflage. Oldenbourg Wissenschaftsverlag, München 2007, ISBN 3-486-58158-9. 
  • Jean-Pierre Petit: Die Abenteuer des Anselm Wüßtegern, Das Topologikon. 1. Auflage. Vieweg Verlagsgesellschaft, München 1995, ISBN 352806675X. 

Weblinks

Quellen

  1. Felix Hausdorff: Grundzüge der Mengenlehre, 1914
  2. Fund. Math., 3, 1922
  3. Math. Ann. 88, 1923
  4. Epple et al., Hausdorff GW II, 2002


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