Turanier

Turanier

Panturkismus bedeutete im späten 19. und im frühen 20. Jahrhundert den Wunsch nach Vereinigung aller Turkvölker in einem einzigen Staat. Der Panturkismus weist auch starke Überschneidungen mit dem Turanismus auf, weshalb beide Begriffe oft auch synonym verwendet werden.

Inhaltsverzeichnis

Vorgeschichte

Im ausgehenden 19. Jahrhundert erwachte bei den Turkotataren Russlands das Nationalbewusstsein. Sie entdeckten die Gemeinsamkeiten der Turkvölker. 1839 wurde die Turanische Gesellschaft (türkisch Tûran cemiyeti, tatarisch Turan cämğiäte) gegründet. Benannt wurde diese Gesellschaft nach dem zentralasiatischen Tiefland von Turan, der persischen Benennung dieser Region. Einer der Teilnehmer, der Krimtatare İsmail Gasprinski brachte das Ziel kurz auf den Punkt: „Teldä, fikerdä, eştä berlek“ (tatarisch, vgl. türkisch: „Dilde, fikirde, işte birlik“), was man als „Einheit in Sprache, Denken und Tat“ übersetzten kann. Dieses sollte sein berühmtestes Zitat werden.

Ziele

Hauptziel der Turanischen Gesellschaft war die Vereinigung der „turanischen Völker“ in einem Staat, dessen Grenzen sich vom Balkan über Anatolien bis nach Sibirien und zum heutigen China erstrecken sollte. Es war ihr Traum vom legendären „Reich von Turan“, aus dem alle Turkvölker stammen sollten, und dieses Ziel der Vereinigung nannten sie folgerichtig Turanismus (türkisch: Turancılık, tatarisch: Turançılıq). Die damaligen Turkvölker empfanden sich nun als Kulturnation, die auf dem Wege zu einer Staatsnation war. Später engte sich der Traum von Turan auf die Turkvölker ein. Denn nun waren das vereinende Band allein die einander sehr ähnlichen Sprachen und das gemeinsame Kulturerbe der Turkvölker. Zweites Ziel der Turanischen Gesellschaft war die Erneuerung des Islam, der für das nahende 20. Jahrhundert modernisiert werden sollte.

    Das Verbreitungsgebiet der Turkvölker

Zusammenarbeit

Die Turanische Gesellschaft arbeitete eng mit der jungtürkischen Bewegung des Osmanischen Reiches zusammen. Die damaligen Großmächte, England, Norddeutscher Bund, Österreich und vor allem Russland sahen in diesem Einheitsbestreben eine Gefahr für ihre Machtposition: als Hauptvertreter der Turkotataren sahen sie das türkisch geprägte Osmanische Reich an, das sofort eine Führungsposition in diesem Turkvölkerstaat eingenommen hätte; sie wollten ein schwaches Osmanisches Reich und sprachen vom Panturkismus bzw. vom Groß-Türkentum.

Im Ersten Weltkrieg

Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges brachte wie in allen kriegsführenden Staaten eine chauvinistische Propagandaliteratur hervor. Hass gegen den „Erbfeind Russland“, verbunden mit Errichtung des Reiches Turan, standen im Vordergrund. Extremisten verkündeten als nächstes Ziel einen alle von Turkvölkern bewohnten Länder umfassenden Bundesstaat, mit dem Endziel eines von Japan bis Norwegen, von Peking bis Wien reichenden Groß-Turans. Andere wollten nach der Eroberung Kaukasiens die Errichtung eines Turkestan, Südsibirien und Pamir einschließenden Kalifats: „Die Türkei wird wachsen, wird Turan werden“. Am Tage der Kriegserklärung bekannten sich die Jungtürken zur Vernichtung des „moskowitischen Feindes ... um dadurch eine natürliche Reichsgrenze zu erhalten, die in sich alle unsere Volksgenossen einschließt und vereint“. Die Jungtürken verkündeten im April 1915 als Kriegsziele ganz offen die Eroberung ganz Transkaukasiens und die Vereinigung aller Turkvölker unter dem osmanischen Sultan.[1]

Im Verlaufe des Krieges wurde der wohl mächtigste Mann des Osmanischen Reiches, Enver Pascha, zu einem immer fanatischeren Verfechter pantürkischer Ideen, ohne seine islamische Anschauungen aufzugeben. Er hielt die Stoßrichtung über den Kaukasus für am aussichtsreichsten, um „über Afghanistan nach Indien zu marschieren“, und träumte im August 1915 von einer „Zusammenfassung der 40 Millionen Türken in einem Reich“. Selbst wenn eine dauerhafte militärische Besetzung Turans nicht möglich war, hoffte man, die zentralasiatischen Turkvölker zu „befreien“, um eine Allianz mit ihnen eingehen zu können.[2]

Im Sommer 1918 wuchs, wegen des Erfolgs in Baku, die Turanbegeisterung im Lande nochmals und die „jungtürkischen Imperialisten“ ließen sich nicht mehr von der Verfolgung ihrer Turanpläne abhalten.[3] Zu Kriegsbeginn war noch der Aufruf zum Dschihad, zum „Heiligen Krieg“, erfolgt, gegen Kriegsende setzte sich der Pan-Turanismus gegenüber dem Pan-Islamismus an Bedeutung aber eindeutig durch. Berlin, das jahrelang den Pan-Islamismus und den Pan-Turanismus „gepflegt“ hatte, bekam letztlich mit ihm einen Kriegszielkonkurrenten auf seinem Weg nach Indien. Dabei waren selbst nach deutscher Einschätzung die islamischen Kaukasier, Tataren und Turkmenen an einer türkischen Oberhoheit nicht interessiert, weil sie ihre Selbständigkeit wollten.[4]

Heutige Lage

Seit der Niederlage des Osmanischen Reiches im Ersten Weltkrieg und dem Scheitern Enver Paschas in seinen Bemühungen, mit Hilfe der Basmatschi-Rebellen Anfang der 1920er Jahre ein neues großtürkisches Kalifat in Samarkand zu errichten, ist der Panturkismus unbedeutend.

Einzelnachweise

  1. Gotthard Jäschke: Der Turanismus der Jungtürken. Zur osmanischen Außenpolitik im Weltkriege. In: Die Welt des Islam 23 (1941), S. 1-54, hier S. 7ff. Und Wolfdieter Bihl: Die Kaukasuspolitik der Mittelmächte. Teil 1: Ihre Basis in der Orient-Politik und ihre Aktionen 1914-1917. Verlag Böhlau, Wien 1975, S. 38 und 233ff.
  2. Wolfdieter Bihl: Die Kaukasuspolitik der Mittelmächte. Teil 1: Ihre Basis in der Orient-Politik und ihre Aktionen 1914-1917. Verlag Böhlau, Wien 1975, S. 155 und 242.
  3. Werner Zürrer: Kaukasien 1918-1921. Der Kampf der Großmächte um die Landbrücke zwischen Schwarzem und Kaspischem Meer. Verlag Droste, Düsseldorf 1978, ISBN 3-7700-0515-5, S. 79.
  4. Werner Zürrer: Kaukasien 1918-1921. Der Kampf der Großmächte um die Landbrücke zwischen Schwarzem und Kaspischem Meer. Verlag Droste, Düsseldorf 1978, ISBN 3-7700-0515-5, S. 117ff. Und Wolfdieter Bihl: Die Kaukasuspolitik der Mittelmächte. Teil 1: Ihre Basis in der Orient-Politik und ihre Aktionen 1914-1917. Verlag Böhlau, Wien 1975, S. 244f.

Siehe auch

Literatur

  • Mihran Dabag: Jungtürkische Visionen und der Völkermord an den Armeniern, In: Dabag/Platt: Genozid und Moderne (Band 1), Opladen 1998. ISBN 3-8100-1822-8.
  • Jacob M. Landau: Pan-Turkism: From Irredentism to Cooperation. Verlag Hurst, London 1995, ISBN 1-85065-269-4.

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