Utopia (Roman)

Utopia (Roman)
Titelholzschnitt der Ausgabe von 1516

Utopia ist der Titel eines 1516 von Thomas Morus in lateinischer Sprache verfassten philosophischen Dialogs. Die Schilderung einer fernen „idealen“ Gesellschaft gab den Anstoß zum Genre der Sozialutopie.[1]

Die Erstveröffentlichung geschah auf Betreiben des berühmten Humanisten Erasmus von Rotterdam 1516 in Löwen, weitere Drucke folgten 1517 in Paris und 1518 in Basel. Die erste deutsche Übersetzung – unter dem Titel Von der wunderbarlichen Innsul Utopia genannt, das andere Buch – erschien 1524.[2]

Rahmenhandlung sind die Erzählungen eines Seemannes, der eine Zeit lang bei den Utopiern gelebt haben will. Der Roman beschreibt eine auf rationalen Gleichheitsgrundsätzen, Arbeitsamkeit und dem Streben nach Bildung basierende Gesellschaft mit demokratischen Grundzügen. In der Republik ist aller Besitz gemeinschaftlich, Anwälte sind unbekannt, und unabwendbare Kriege werden bevorzugt mit ausländischen Söldnern geführt.

Das Buch war so prägend, dass man fortan jeden Roman, in dem eine erfundene, positive Gesellschaft dargestellt wird, als Utopie oder utopischen Roman bezeichnete. Bedeutende Utopien nach Utopia waren A Modern Utopia von H. G. Wells, Ecotopia von Ernest Callenbach und Island von Aldous Huxley.

Das Genre des utopischen Romans wird heute oft als Bereich der Science-Fiction aufgefasst.

Inhaltsverzeichnis

Das Leben der Utopier

Der erste Teil des Werks hat eine Rahmenhandlung zum Inhalt, in der eine ausführliche Kritik an den damaligen politischen und gesellschaftlichen Verhältnissen Europas, insbesondere Englands, geübt wird. Heftig angeprangert wird beispielsweise die Praxis der Todesstrafe, die in England selbst Dieben droht, so dass es für sie keinen Unterschied zwischen Stehlen und Morden gibt. Der zweite Teil wird im Wesentlichen von der Schilderung der Organisation des Staats und der Lebensverhältnisse der Bewohner Utopias ausgefüllt.

Die Utopier leben in den Städten in Familienverbänden. Erwachsene Geschlechtspersonen gehen eine monogame Ehe ein. Es herrscht allgemein eine patriarchalische Hierarchie, und die Älteren bestimmen über die Jüngeren. Überfamiliär ist die Gemeinschaft klosterähnlich organisiert mit Gemeinschaftsküche und gemeinsamen Speisungen. Ein jährlich gewählter Vorsteher hat die Aufsicht über einen Familienverband von 30 Familien. Privateigentum existiert nicht, jeder bekommt unentgeltlich die von der Gemeinschaft produzierten Güter für den persönlichen Bedarf zugeteilt, die er begehrt. Männer und Frauen arbeiten als Handwerker sechs Stunden am Tag. In welchem Handwerk ein Bürger ausgebildet wird, kann er selbst entscheiden. Es besteht Arbeitspflicht, und turnusgemäß werden die Utopier aufs Land verschickt, wo sie gemeinschaftlich Ackerbau betreiben. Für Kinder besteht Schulpflicht. Besonders Begabte erhalten eine wissenschaftliche oder künstlerische Ausbildung. Die wissenschaftlichen Vorlesungen sind öffentlich, sie zu besuchen ist die beliebteste Freizeitgestaltung der Utopier. Besonderen Wert legen die Bürger auf eine für jeden Kranken optimale Krankenversorgung. Männer und Frauen üben regelmäßig für den Kriegsdienst. Kriegsverbrecher und Straftäter, teils als Todeskandidaten aus dem Ausland gekauft, müssen Zwangsarbeit leisten. In der säkular organisierten Gemeinschaft herrscht religiöse Toleranz.

Der Staat ist eine Republik. Jede Stadt wird von einem Senat regiert, der sich aus Wahlbeamten auf Zeit zusammensetzt. Das jeweilige Stadtoberhaupt ist auf Lebenszeit gewählt; entwickelt er tyrannische Züge, so kann er abgesetzt werden.

Geldverkehr kennen die Utopier nicht. Sie sollen aber durch eine Überproduktion an Gütern vieles davon anhäufen, und verwenden es um Söldnerheere oder Handel zu betreiben. Die Utopier selbst schätzen Gold nicht.

Städte dürfen nur eine bestimmte Größe erreichen. Überbevölkerung wird durch Migration bzw. Bildung einer Kolonie im Ausland ausgeglichen. Umgekehrt findet bei Einwohnermangel ein Rückfluss aus den Kolonien oder überbevölkerten Städten statt.

Abschaffung des Privateigentums

Nachhaltigste Wirkung hatte das Plädoyer des fiktiven Berichterstatters über Utopia für die Abschaffung des Privateigentums:

„Indessen … scheint mir – um es offen zu sagen, was ich denke – in der Tat so, dass es überall da, wo es Privateigentum gibt, wo alle alles nach dem Wert des Geldes messen, kaum jemals möglich sein wird, gerechte oder erfolgreiche Politik zu treiben, es sei denn, man wäre der Ansicht, dass es dort gerecht zugehe, wo immer das Beste den Schlechtesten zufällt, oder glücklich, wo alles an ganz wenige verteilt wird und auch diese nicht in jeder Beziehung gut gestellt sind, die übrigen jedoch ganz übel …
Wenn ich das, wie gesagt, bedenke, werde ich dem Platon besser gerecht und wundere mich weniger, dass er es verschmäht hat, solchen Leuten überhaupt noch Gesetze zu geben, die die gleichmäßige Verteilung aller Güter ablehnten.“[3]

Satire

Thomas Morus kreierte zwar eine „neue These“; dabei stützt er sich aber auf Platon (Politeia, Nomoi), Cicero und andere Gelehrte vor ihm. Neueren Forschungsarbeiten zufolge soll es sich bei Morus’ Werk um eine satirische Darstellung handeln, deren Ziel die Herabwürdigung des platonischen Gerechtigkeitsbegriffs war. Argumentiert wird damit, dass Morus z.B. bezüglich der Idee des Gemeineigentums mehrere Gegenargumente des Aristoteles benutzt, ohne adäquate Erwiderungen entgegenzusetzen.

Ohne Zweifel hat das Werk satirische Momente und enthält einige ironische Brechungen des Utopiegedankens. So beginnt Morus im Vorwort ein ironisches Spiel mit der Frage, ob Utopia wirklich existiert oder bloß eine Fiktion ist. Auch der Name „Utopia“ hat seinen Ursprung in dem dem Text vorangestellten Wortspiel mit den griechischen Bezeichnungen „Outopia“ (Οὐτοπεία) und „Eutopia“ (Εὐτοπεία) (übersetzt „Nichtort“ und „glücklicher Ort“), die im Englischen Homophone sind. Die ironische Brechung wird fortgesetzt, indem der Autor selbst namentlich in seinem Roman auftritt und hierbei den skeptischen Dialogpartner des Berichterstatters über Utopia spielt. Dieser Berichterstatter trägt zudem den seltsamen Namen Raphael Hythlodeus, was in deutscher Übersetzung so viel wie „Possenreißer“ heißt. Und während der Titel auf Lateinisch „den besten Staat“ ankündigt (De optimo statu rei publicae deque nova insula Utopia), gibt Morus als namentlicher Protagonist seines eigenen Werkes zu, dass einiges an Utopia zwar durchaus wünschbar sei, er hingegen an eine Verwirklichung der Utopie (in Europa) nicht glaube und eigentlich nur aus Höflichkeit bestimmten Punkten der lobenden Schilderung Hythlodeus nicht widersprochen habe. So hält Morus geschickt alle Argumentationsrichtungen dialogisch in der Schwebe und ermöglicht dem kritischen Leser, sich ein eigenes Urteil zu bilden.[4]

Utopischer Staatsroman

Morus begründete eine literarische Tradition der Ausarbeitung fiktiver etatistischer Staatsmodelle. Rationale Gesetzgebung und statische, prinzipiengeleitete Organisation der Lebensgemeinschaft wurden zu Garanten des Glücks erhoben. Hauptsorge der vorindustriellen Gesellschaft war die Verteilungsgerechtigkeit für eine optimale Versorgung der Bürger mit den knappen Gütern und die Bewahrung des inneren und äußeren Friedens. Obwohl die Renaissance als Zeitalter der Entdeckung des Individuums gilt, wurde der Egoismus in seinen Formen der Sündhaftigkeit und triebhaften Unmoral als Antipode des Gemeinschaftssinns und damit als Störelement des gerechten Ausgleichs der Lebensverhältnisse und der Gemeinschaftsinteressen beschrieben. Dem gegenüber traten im 18. Jahrhundert mit den ersten Innovationsschüben durch Wissenschaft und Technik des Zeitalters der Aufklärung die freie Entfaltung der Persönlichkeit und eine allgemeine Idee der Freiheit der Individuen als Grundvoraussetzung eines selbstbestimmten Lebens in den Vordergrund, und der Blick richtete sich in eine dynamische Zukunft.

Siehe auch

Aktuelle Ausgaben

Literatur

  • Ulrich Arnswald, Hans-Peter Schütt (Hrsg.): Thomas Morus’ Utopia und das Genre der Utopie in der Politischen Philosophie. KIT Scientific Publishing, Karlsruhe 2011, ISBN 978-3-86644-403-4 (Volltext).
  • Klaus J. Heinisch: Der utopische Staat. Morus – Utopia. Campanella – Sonnenstaat. Bacon – Nova Atlantis, Rowohlt, Reinbek 1960, ISBN 3-499-45068-2.
  • Hartmut Heuermann, Bernd-Peter Lange (Hrsg.): Die Utopie in der angloamerikanischen Literatur. Schwann-Bagel, Düsseldorf 1984.
  • Karl Kautsky: Thomas More und seine Utopie. Dietz, Stuttgart 1888 (Digitalisat der 2. durchges. Auflage, Stuttgart 1907)
  • Josef Niedermeier: Naturwissenschaften und Technik in den utopischen Staatsromanen des 16. und 17. Jahrhunderts. Von Thomas Morus bis Francis Bacon. Förderkreis Phantastik, Wetzlar 1996.
  • Thomas Nipperdey: Die Utopia des Thomas Morus und der Beginn der Neuzeit. In: ders.: Reformation, Revolution, Utopie. Studien zum 16. Jahrhundert. (Kleine Vandenhoeck-Reihe; 1408) Vandenhoeck und Ruprecht, Göttingen 1975, ISBN 3-525-33374-9, S. 113–146.
  • Thomas Schölderle: Utopia und Utopie. Thomas Morus, die Geschichte der Utopie und die Kontroverse um ihren Begriff. Nomos, Baden-Baden 2011, ISBN 978-3-8329-5840-4.

Weblinks

 Commons: Utopia – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

  1. Rudi Palla: Die Kunst Kinder zu kneten; Frankfurt am Main: Eichborn Verlag, 1997; S. 33 f.
  2. Laut dem Lexikon der philosophischen Werke, Kröner (KTA 486), Stuttgart 1988, S. 136
  3. Der utopische Staat, Rowohlt 1960, S. 44
  4. vgl. Die Utopie in der angloamerikanischen Literatur, S. 11ff

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