Vanitas-Motiv

Vanitas-Motiv
Vanitas-Motiv aus Johann Caspar Lavaters Physiognomischen Fragmenten (1775–78): Hinter der Maske der Schönheit lauert der Tod.

Vanitas (lat. „leerer Schein, Nichtigkeit, Eitelkeit; auch Lüge, Prahlerei, Misserfolg oder Vergeblichkeit“) ist ein Wort für die jüdisch-christliche Vorstellung von der Vergänglichkeit alles Irdischen, die im Buch Kohelet im Alten Testament ausgesprochen wird (Koh. 1, 2): „Es ist alles eitel“. Diese Übersetzung Martin Luthers verwendet „eitel“ im ursprünglichen Sinne von „nichtig“.

Vanitas-Motive zeigen, dass der Mensch das Leben nicht in der Gewalt hat. Am auffälligsten sind Bilder des Vergangenen und des Vergehenden wie Schädel oder Sanduhr. Ähnliche Darstellungen gibt es jedoch in allen Künsten. Mit dem Aufstreben der Vanitas seit der Renaissance wird ein Konflikt zwischen Mittelalter und Moderne – der Zwiespalt zwischen menschlicher Demut und menschlichem Selbstbewusstsein – auf die Spitze getrieben. Er erreicht einen Höhepunkt in der Zeit des Barocks. Vom späteren 18. Jahrhundert an gewinnt die Befreiung von der Demut die Oberhand. Seit etwa 1760 wird die Überwindung der Vanitas ins Zentrum einer bürgerlichen Hochkultur gerückt, und ältere Vanitasmotive werden häufig einer geringer geschätzten Populärkultur zugerechnet. – Der Hinweis auf die eigene Nichtigkeit bleibt eine Rechtfertigungsstrategie für menschliche Werke, die deren Aufwand und Anspruch vor Vorwürfen in Schutz nimmt. Trotz weitgehender Trennung von ihrem religiösen Hintergrund sind Vanitas-Motive bis heute gegenwärtig.

Inhaltsverzeichnis

Antike

Das ursprünglich hebräische Wort הבל häväl bedeutet „Windhauch“ und wurde in der lateinischen Bibel (Vulgata) mit vanitas übersetzt. Seine Deutung ist umstritten. – Klagen über die Vergänglichkeit sind schon in der Antike ein geläufiger Topos. Der Philosoph Platon interpretierte den Ausspruch Panta rhei („Alles fließt.“), der Heraklit zugeschrieben wird, auf diese Weise. Der Stoizismus in der Art Senecas und Marc Aurels oder die Wandmalereien in Pompeji wurden schon in den Zusammenhang mit dem Vanitas-Gedanken gebracht.[1]

Die Antike kennt jedoch noch nicht die allgemeine Verurteilung des Stolzes, die im Christentum üblich wird. Der Ausspruch Sic transit gloria mundi („So vergeht der Ruhm der Welt.“), mit dem die Päpste an ihre Vergänglichkeit erinnert werden, ist in der Antike noch nicht belegt. Und Hippokrates’ Ausspruch Vita brevis, ars longa („Das Leben ist flüchtig, die Kunst dauerhaft.“) geht noch nicht davon aus, dass jede Kunst etwas der Tendenz nach Ungehöriges sei und sich mit ihrer eigenen Nichtigkeit rechtfertigen müsse.

Mittelalter

Gedruckter Totentanz (Holzschnitt) von Michael Wolgemut

Der Historiker Philippe Ariès hob hervor, dass auf spätrömischen heidnischen Grabsteinen mit einer Menge von Bildern und Texten versucht wird, sich am Vergänglichen festzuklammern. Die gleichzeitigen christlichen Grabsteine dagegen zeigen oft nur das Kreuz.[2]

Auf Bildern erscheint das Vergängliche dauerhaft und beherrschbar. Dies bleibt nach mittelalterlich-religiöser Auffassung jedoch Schein, weil sich das Wesentliche und Lebendige nicht festhalten lasse. Nach Aristoteles’ Abhandlung De anima, die von der Scholastik vielfach bestätigt wurde, bleibt die Belebung ein göttliches Privileg. Eine Verbindung von Monotheismus und Bilderfeindlichkeit, wie sie in der jüdischen Religion vorgeprägt ist, zeigt sich auch in der christlichen und in der islamischen Welt stets von Neuem. Auf eine Blütezeit der Ikonen im Bereich der Ostkirchen folgten als Gegenbewegungen etwa der byzantinische Bilderstreit und das Bilderverbot im Islam.

Die Nichtigkeit jeder menschlichen Darstellung ist ein Grundgedanke des christlichen Weltbilds, und gegen diese Vorstellung müssen sich mittelalterliche Darstellungen aller Art durchsetzen. Dies geschieht in der Regel durch das Eingeständnis der eigenen Nichtigkeit als läuternde und rechtfertigende Botschaft. Der Quem-quaeritis-Tropus im 10. Jahrhundert als Keimzelle der westlichen Theaterkultur ermöglicht eine Darstellung des Heilsgeschehens nur mit der Botschaft, dass nichts dargestellt werden könne: Die Auferstehung Christi wird gezeigt, indem bloß sein leeres Grab präsentiert wird. Sie ist ein spurloses Verschwinden, aber seine Gegenwart soll geglaubt werden.

Kunst macht ihren Betrachter zum Narren. Spätmittelalterliches Relief am Rathaus Nördlingen.

Jede Darstellung ist zum Scheitern verurteilt, weil sie leblos bleiben muss, und sie kann oder darf daher nur das Scheitern darstellen. Das gilt auch für die Sprache: „Von der gestrigen Rose bleibt nur der Name“, stellt Bernhard von Morlay um 1140 fest (und dies wurde zum Titel von Umberto Ecos Roman Der Name der Rose). Totentanz-Darstellungen seit dem Spätmittelalter rechtfertigen sich dadurch, dass sie nicht erfolgreicher sind als ihr Dargestelltes: Das Bild bleibt ebenso tot wie das dargestellte Gerippe. Es tanzt nicht, so wie das Gerippe nicht tanzen kann, und seine Betrachtung ist ein ebenso beziehungsloses Spiel wie der dargestellte Gesellschaftstanz. Die mittelalterliche Enzyklopädie Hortus Deliciarum aus dem 12. Jahrhundert ist voll warnender Todesdarstellungen. Auch die anonyme Verbreitung des Bildes durch den Buchdruck konnte sich später auf diese Weise rechtfertigen. Ars moriendi-Schriften, die zahlreich gedruckt wurden, enthalten Bilder und Texte mit Symbolen der Vergänglichkeit.

Insbesondere Narren standen im Mittelalter für Vanitas. Hofnarren sollten ihren Herrscher an die Vergänglichkeit des menschlichen Eigensinns erinnern. Sie durften das Lächerliche und Ungehörige darstellen, weil sie selbst lächerlich und ungehörig waren. Narrenattribute wie Marotte oder Narrenspiegel waren Zeichen der Selbstbezüglichkeit und damit der Verwerflichkeit. Eine verbreitete Allegorie der Eitelkeit war die Frau Welt. Literarische Spiegel hielten der Welt ihre Nichtigkeit vor. Unter dem Motto der eigenen Vergänglichkeit stand die Zeit der Fastnacht, in der seit dem 15. Jahrhundert Tanz-, Musik- und Theaterveranstaltungen organisiert wurden.

Ein zentrales Vanitas-Symbol ist die Musik, die unmittelbar verklingt. Die spätmittelalterliche Marienklage drückt den unwiederbringlichen Verlust des irdischen Christus aus, und die singende Maria beziehungsweise ihre Interpretin werden ihm bald folgen. Das Verklingen des Gesangs war ein mahnendes Zeichen dafür. Daneben existieren weitere Klagen wie Planctus oder Complainte. – Eine ähnliche Botschaft vermittelte das Ubi-sunt-Motiv in der mittelalterlichen Dichtung. Die Anklage des Todes, wie sie durchaus üblich war, geschah im Bewusstsein ihrer eigenen Machtlosigkeit. Beim Lesen entstand der Eindruck, dass jemand mit Schrift erfolglos versucht hat, etwas festzuhalten.

Renaissance

Le Transi von Ligier Richier

Gleichzeitig mit dem Aufblühen der Künste und der Aufwertung der heidnischen Antike in der Renaissance entstand ein großer Rechtfertigungsbedarf für diese Bemühungen (mit stetigen Rückschlägen wie Savonarolas Kunstvernichtung im „Feuer der Eitelkeiten“ 1497). Je größer die Öffentlichkeit eines Kunstwerks wird, desto mehr muss es sich durch seine warnende Botschaft verteidigen. So erhält der in mehreren Auflagen erschienene Totentanz von Guyot Marchant 1485 den Untertitel: „heilsamer Spiegel für alle Leute aller Stände“.[3]

Francesco Petrarca lässt in seinen Trionfi (vor 1374) neben dem Tod und der Zeit auch die menschlichen Tugenden triumphieren. Albrecht Dürers Holzschnitt Die Apokalyptischen Reiter (1498) zeigt, wie der Mensch sich selbst seinen Untergang bereitet – eine Warnung, die dem Künstler erlaubt, seine Virtuosität zu entfalten.

Satiren wie Sebastian Brants Narrenschiff (1494) oder Erasmus von Rotterdams Lob der Torheit (1511) verstanden sich in der Tradition des Narren, der die Narrheit der Welt enthüllt (und dabei vielleicht etwas Kluges sagt, ohne Anspruch darauf zu erheben). Michel Foucault sprach in diesem Zusammenhang von einem „Ersetzen des Todesthemas durch das des Wahnsinns“[4]. Der Dichter Torquato Tasso versuchte in seinem Hauptwerk La Gerusalemme liberata (1574), Frömmigkeit und Künstlerstolz zu verbinden, und verzweifelte daran.

Für Joachim du Bellay (Le premier livre des antiquités de Rome, 1558) sind die Ruinen Roms zwar noch Zeichen für den gerechten Untergang dieser heidnischen Macht, aber die Warnung erlaubt es, permanent von ihnen zu sprechen.[5]

Berühmt ist Ligier Richiers Skulptur Le Transi (1547) des lebendigen Leichnams von Renatus (Oranien-Nassau). In der Malerei des 16. Jahrhunderts war es üblich, auf der Rückseite (Verso) von Porträts mahnende Symbole der Vergänglichkeit abzubilden. Ein ähnliches Prinzip haben die Doppelfiguren, mit denen dieselbe Person einmal jung und einmal alt (oder als Skelett) dargestellt wird.

Der reformatorische Bildersturm verschärfte den Rechtfertigungsbedarf für bildliche Darstellungen. Die Entwicklung der Ölmalerei war Bilderkritikern wie Hieronymus Emser ein Dorn im Auge. Die Bilder der Protestanten, sofern es einen Bedarf dafür gab, mussten sich von der Kirche in die Privaträume verlagern.

Barock

Vanitas ist ein bedeutendes Motiv in Literatur, Kunst, Theater und Musik des Barockzeitalters. Es ist der Gipfelpunkt einer kontinuierlichen Tradition. Schönheit und Verfall werden miteinander verbunden. Die Grundstimmung der Vanitas findet sich beispielsweise 1643, zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges, in einem Sonett des Andreas Gryphius, das tiefe Lebensresignation ausdrückt und in der Nachkriegszeit nach 1945 in Deutschland wieder oft zitiert wurde:

„Du sihst / wohin du sihst, nur eitelkeit auff erden.
Was dieser heute bawt / reist jener morgen ein:
Wo itzund städte stehn / wird eine wiesen sein,
Auff der ein schäffers kind wird spilen mitt den heerden.

Was itzund prächtig blüht sol bald zutretten werden.
Was itzt so pocht vnd trotzt ist morgen asch und bein.
Nichts ist das ewig sey / kein ertz kein marmorstein.
Itzt lacht das Gluck vns an / bald donnern die beschwerden.

Der hohen thaten ruhm mus wie ein traum vergehn.
Sol denn das spiell der zeitt / der leichte mensch bestehn.
Ach! was ist alles dis was wir für köstlich achten,

Als schlechte nichtikeitt / als schaten, staub vnd windt.
Als eine wiesen blum / die man nicht wiederfindt.
Noch wil was ewig ist kein einig mensch betrachten.“

Andreas Gryphius: Es ist alles eitell. (1643)[6]

Beliebte Sinnsprüche, die die Vergänglichkeit alles Irdischen ins Gedächtnis rufen sollten, waren Memento mori („Gedenke, dass du sterben musst“) und Carpe diem („Nutze den Tag“, ein Zitat von Horaz), ferner Et in Arcadia ego. Ob dies eher zum Lebensgenuss ermuntern, zum sittlichen Leben aufrufen oder das irdische Leben gegenüber dem Jenseits abwerten solle, bleibt dabei in der Schwebe.

Walter Benjamin betonte vor dem Zweiten Weltkrieg in seiner gescheiterten Habilitationsschrift, dass das barocke Trauerspiel im Unterschied zur antiken griechischen Tragödie nicht den Mythos, sondern die Geschichte behandelt und als permanenten Verfall darstellt.[7]

Vanitas-Symbole

Vanitas-Motive erlöschende Kerze, Totenschädel und Sanduhr auf einem barocken Grabstein (Maria Trost in Fernitz)

Vanitas-Symbole sollen, meist in moralisierender Absicht, an die Vergänglichkeit des Lebens und der irdischen Güter erinnern. Auch das Entweichen des Lebendigen vor dem gewaltsamen Zugriff ist ihr Thema.

Häufige Vanitas-Attribute in der bildenden Kunst sind der Totenschädel, die erlöschende Kerze, die Sanduhr und die verwelkte Blume. Im weiteren Sinn gehören auch Einsiedler- und Kasteiungsszenen (Hl. Hieronymus, Maria Magdalena) in diesen Zusammenhang: Sie verdoppeln die Einsamkeit des Bildbetrachters und seine Verzweiflung über die Abwesenheit des Abgebildeten im Bild. Damit bekommt diese Verzweiflung etwas Läuterndes.

Maria Magdalena (1663) von Guido Cagnacci

Das Objekt kann das lebendige Gegenüber nicht ersetzen, weil es die Zuwendung des Betrachters nicht erwidern kann. Daher gehören zu den Vanitas-Symbolen auch Gegenstände, die heute eher als Zeichen der selbstzufriedenen und sinnvollen Betätigung oder der Geselligkeit gesehen werden wie Bücher, Sammelobjekte oder Spiele. Sie führen nach damaliger Auffassung zu Melancholie.

In der darstellenden Kunst sind die hauptsächlichen Vanitas-Attribute Schatten, Echo und Spiegelbild, die in Opern und Balletten als bloßer Schein und mechanischer Ersatz eines Lebendigen thematisiert werden. In denselben Zusammenhang gehören Marionetten und Maschinen. Aufzeichnungen wie Bilder und Briefe dienen als Zeichen dafür, dass der Absender oder die Abgebildeten nicht da, vielleicht sogar unwiederbringlich verloren sind wie Verstorbene oder ungetreue Geliebte. Diese Situation ist oft Anlass für eine Arie.

Das „Spiel im Spiel“ im Barocktheater wird verstanden als Schein im Schein, wie etwa in Pedro Calderón de la Barcas Das Leben ist ein Traum (1635). In der bloß erdachten und gespielten Handlung kommt eine weitere, geträumte Handlung vor. Die Heuchelei des Darstellers von Molières Tartuffe (unter der Voraussetzung, dass jede Darstellung Lüge ist) rechtfertigt sich dadurch, dass er die Heuchelei der dargestellten Figur entlarvt. Die doppelte Heuchelei hebt sich gewissermaßen auf, denn sie warnt so vor sich selbst. Dem entspricht die „Abbildung in der Abbildung“ als Grundfigur von Vanitas-Darstellungen. Das Vorgetäuschte führt eine Täuschung vor. Dieses Verfahren wird auch Mise en abyme genannt.

Trompe-l’œil aus dem 17. Jahrhundert

In der niederländischen Malerei des 17. Jahrhunderts im Einflussgebiet der Universität Leiden entstanden kunstreiche und bis heute vorbildliche Vanitas-Darstellungen. Vor dem Hintergrund grassierender Pestseuchen, nicht enden wollender Gräuel der Religionskriege und bombastischer Pracht- und Machtentfaltung im goldenen Zeitalter wird dies als eine zeitkritische Haltung verständlich. Zugleich gab es auch katholische Zentren der Vanitas-Malerei wie Paris und die oberitalienischen Städte. Meist steht das Motiv der Vanitas in Verbindung mit einem Appell zur Hinwendung an Gott und den christlichen Glauben. Zugleich erzielten solche Kunstobjekte aber auch hohe Preise. Der Kult um irdische Werte, der mit ihnen getrieben wurde, konnte sich durch ihre warnende Botschaft rechtfertigen.

Sehr beliebt waren Vanitas-Stillleben, die den Augenreiz eines perfekt gemalten Arrangements scheinbar beliebiger Gegenstände mit einem Geflecht von Symbolen verbanden, die um den Begriff der Vanitas kreisen. Anonyme Relikte des menschlichen Mutwillens stehen dabei dem unbeherrschbaren, gottgegebenen Leben gegenüber.[8] Die Symbole dafür waren den zeitgenössischen Betrachtern geläufig.

Eine wichtige Rolle bei bildnerischen Vanitas-Motiven spielt das Paradoxon, dass das Vergängliche darin dauerhaft festgehalten ist, dass es zum Greifen nah scheint, aber trotzdem unwirklich bleibt (Trompe-l’œil). Das lebendig Wirkende ist tot, der Glanz des Goldes ist Schein, das Plastische ist flach, das offensichtlich Duftende oder Stinkende riecht nicht, das Klingende klingt nicht, Kerze oder Lampe geben dem Bildbetrachter kein Licht, der wache Blick von Abgebildeten ist blind. Kombiniert wird dies alles in Darstellungen der fünf Sinne. Wenn Leichen oder Kadaver abgebildet werden, verdoppelt sich die Unfähigkeit des Bildes zur Wiedergabe des Lebendigen im Abgebildeten.

Charakteristisch für Vanitas-Darstellungen sind rhetorische Verdoppelungen (Pleonasmus) wie das Tote im toten Bild, das Stumme im stummen Bild, das Unbewegliche im unbeweglichen Bild, das Blinde im blinden Bild, das Verständnislose im verständnislosen Bild. Die Nichtigkeit enthält sich selbst. Dies soll den Betrachter vor der Illusion warnen und auf sich selbst zurückwerfen. Trotzdem wird die Illusion möglichst perfekt gemacht. Der Kunsthistoriker Ernst Gombrich bemerkte dazu: „Je raffinierter die Illusion, desto eindringlicher die Moral vom Gegensatz zwischen Schein und Sein.“[9] Die gleichzeitige Warnung rechtfertigt den Genuss. Aus diesem Gegensatz erklärt sich die barocke Antithetik.

Leere Formen

Stillleben von Pieter Claesz
Schädel
So wie das Bild nur noch eine Form des einst Lebendigen darstellt, ist der Schädel nur noch eine Form des lebendigen Kopfs. Der Betrachter soll den Totenschädel als sein Spiegelbild wahrnehmen. Er versinnbildlicht heute noch am deutlichsten die Vergänglichkeit unserer Existenz.
Masken
Die Maske ist ein Zeichen für die Abwesenheit des Maskenträgers, ebenso wie das Bild nicht das Abgebildete enthält. Außerdem steht sie für Karneval, festliches Vergnügen, verantwortungslose Anonymität.
Spiegel
Spiegel zeigen ebenso wie Schatten nur eine äußerliche Form des Gespiegelten. Sie sind zudem ein Symbol der Eitelkeit.
Leeres Glas
Ein leeres Glas, oft einem vollen gegenübergestellt, symbolisiert den Tod. Auch die Brille ohne Brillenträger hat eine ähnliche Bedeutung.
Schneckengehäuse
Leere Schneckengehäuse oder Perlboote (siehe Nautiluspokal) sind Überbleibsel einst lebendiger Tiere. Sie stehen deshalb für Tod und Vergänglichkeit. Ebenso die Muschelschalen. Schnecken sind als kriechende Tiere darüber hinaus eine Verkörperung der Todsünde der Trägheit. Die meisten Landschnecken sind als Zwitterwesen zudem Symbol der Wollust, einer weiteren Todsünde.
Machtinsignien
Kronen – auch die Tiara, Lorbeerkränze oder Turbane –, Zepter, Harnische, Helme, Amtsketten usw. sind Zeichen für die irdische Weltordnung und ihre Vergänglichkeit, der die himmlische Weltordnung als ewige Institution gegenübersteht. Die Macht, die sie repräsentieren, ist vergänglich. Ähnlich wie Masken symbolisieren sie die Abwesenheit der dekorierten oder gekrönten Persönlichkeiten. Schlüssel stehen zum Beispiel für die Macht der Hausfrau, die Vorräte und Güter verwaltet. Diese sind materieller Natur und vergänglich wie die Hausfrau selbst.
Ruinen
Ruinen und verlassene Räume zeigen die Vergänglichkeit ihrer Bewohner. Pflanzenbewuchs oder Spinnweben betonen Vernachlässigung oder Verfall.

Luxusgüter

Stillleben von Pieter Boel

Ein populäres und ambivalentes Symbol sind Luxusgüter aller Art. Im Verständnis der calvinistisch geprägten Niederländer des Barock ist Luxus die wohlverdiente Belohnung des Rechtschaffenen und Frommen. Er ist ein äußeres Zeichen für das Auserwähltsein und für Gottes Segen. Der Reichtum des Frommen ist zugleich eine Verpflichtung zu vorbildlichem und tugendhaftem Lebenswandel im Bewusstsein des Vergänglichen und Äußerlichen. Der gedankenlose Genuss von Luxus und das maßlose Streben nach Reichtum sind sündhaft und müssen zum Verlust der Güter führen.

Mit Hilfe der Vanitas-Symbolik konnte Reichtum stolz vorgezeigt und zugleich als etwas Vergängliches und Nichtiges heruntergespielt werden.[10] Kostbare Schalen, Glaskelche, getriebene Metallbecher, aber auch Geld, Schmuck oder exotische Lebensmittel wie Zitrusfrüchte stehen für Luxus, für das menschliche Streben nach materiellen Reichtümern.

Schmuck
Schmuck und Kosmetik stehen für Schönheit, weibliche Anziehungskraft, aber auch für ihre Vergänglichkeit, Eitelkeit, Selbstverliebtheit und die Todsünde der Hoffart. Ebenso thematisieren sie die Abwesenheit der Geschmückten.
Dose
Kostbar verzierte Dosen vertreten das „weibliche“ Prinzip der Sexualität. Über den gedanklichen Umweg „Frau = Evastochter“ ist die Dose indirekt ein Symbol für den Sündenfall.
Uhren
Uhren stehen für die Zeit, insbesondere für die Lebenszeit. Sie symbolisieren unverblümt die Sterblichkeit. Es müssen keine Sanduhren sein; mechanische Taschenuhren vermitteln die gleiche Botschaft. Doch sie stehen als Luxusgüter auch für Wohlstand und die vergänglichen irdischen Güter.

Pflanzen

Stillleben von Balthasar van der Ast
Blumen, Blätter, Zweige
Sie stehen für Vitalität und Lebenskraft. Blühendes Gezweig ist jedoch zum Verwelken verurteilt. Schnittblumen sind dem Tod geweiht. Um den Aspekt der Vergänglichkeit zu betonen, werden oft schon angewelkte Blumen neben aufblühenden dargestellt. Neben dieser allgemeinen Bedeutung gilt natürlich noch die besondere Symbolik der einzelnen Pflanzen und Blumen. Intensiv duftende Blumen oder Kräuter werden auch deshalb dargestellt, weil das Bild den Duft nicht vermitteln kann.
Rose
Die Rose als Blume der Venus vertritt vor allem die Liebe und die Sexualität. Diese weltliche Liebe ist aber – wie alles Menschliche – eitel.
Mohn
Mohn, bekanntlich ein Beruhigungsmittel, steht für den Schlaf und die Todsünde der Trägheit. Darüber hinaus symbolisiert er des Schlafes Bruder, den Tod. Wegen seiner roten Farbe ist der Mohn andererseits ein Symbol für die Passion Christi.
Tulpen
Im 17. Jahrhundert erlebten Tulpen in Holland einen unglaublichen Boom. Über Nacht wurden aus den orientalischen Tulpenzwiebeln eine begehrte Handelsware und ein Spekulationsobjekt. Im Zuge einer aberwitzigen Tulpenmanie wurden viele Hasardeure mit dem Handel von Zwiebeln reich. Noch mehr verloren durch Fehlspekulation Hab und Gut. Deshalb steht die Tulpe – zumindest bei niederländischen Stillleben dieser Zeit – auch für Leichtsinn, Verantwortungslosigkeit und unvernünftigen Umgang mit der Gottesgabe Geld.
Früchte
Früchte bedeuten Fruchtbarkeit, Fülle und im übertragenen Sinn Reichtum und Wohlstand. Auch dieser ist natürlich nicht von Dauer. Dies wird oft veranschaulicht, indem neben appetitlichen Früchten überreifes und angefaultes Obst liegt. Etliche Früchte haben eigene symbolische Bedeutungen. Der Sündenfall kann zum Beispiel von Birnen, Tomaten, Zitrusfrüchten, Trauben, Pfirsichen oder Kirschen symbolisiert werden. Und natürlich vom Apfel. Erotik kann von Feigen, Pflaumen, Kirschen, Äpfeln oder Pfirsichen angedeutet werden.

Tiere

Stillleben von Jan Davidsz. de Heem
Mäuse, Ratten
Diese fruchtbaren Tiere waren große Vorratsschädlinge und damit Boten der Vergänglichkeit. Sie werden mit dem Teufel in Verbindung gebracht und symbolisieren oft den Sündenfall.
Eidechse
Die Eidechse war ein unreines Tier, eine Schlange mit Füßen, ein kleiner Drache, Begleiter des Teufels. Andererseits war sie aber auch, da sie sich gerne der Sonne aussetzt, ein Symbol für die hingebungsvolle Zuwendung zu Jesus Christus.
Fliegen, Spinnen und andere Insekten
Fliegen und andere Insekten symbolisieren die Kurzlebigkeit. Darüber hinaus sind sie Nahrungsmittelschädlinge. Besonders die Fliege gilt als Begleiterin des Teufels (Beelzebub = Herr der Fliegen). Eine Ausnahme bilden die Schmetterlinge (siehe Christussymbole).
Papagei
Ein Papagei ist ein kostbares Tier und deshalb ein Luxusgut. Aber er ist auch ein Tier, das die menschliche Sprache nachahmt, also ein Echo, das ebenso wie das Bild nicht wirklich antworten kann. Da der Papagei nie versteht, was er sagt, ist er ein Symbol für die Eitelkeit des Menschen, der unsinnigen Moden nachläuft, anstatt sich seinem Gott zuzuwenden.

Nahrungsmittel

Stillleben von Frans Snyders

Kochkunst war ebenso wie Musik ein Inbegriff der vergänglichen Kunst.

Konfekt, Zuckerzeug
Kostbares Naschwerk ist einerseits ein Symbol für den christlichen Glauben, da es schon einen Vorgeschmack auf „die süßen Genüsse des Himmels“ liefert. Andererseits ist es wegen des hohen Preises ein Zeichen für Luxus und eitle Verschwendung.
Käse
Käse ist verderblich und steht deshalb für Vergänglichkeit. Dass sein Geruch nicht wahrgenommen werden kann, obwohl der Käse täuschend echt dargestellt ist, war ein Reiz des Bildes: Das Bild stellte seine eigene Beschränkung bloß, forderte aber auch die Vorstellungskraft des Betrachters heraus. Käse konnte zudem, weil aus Milch hergestellt, als Symbol für Christus verstanden werden, der „die Milch des Himmels“ ist.
Zitrone
Die damals sehr teure Südfrucht ist ein Zeichen für Luxus. Da man sie wegen ihrer Säure nur sparsam einsetzt und nicht gierig verzehrt, ist sie auch ein geläufiges Symbol für die Tugend der Mäßigung.
Wildbret oder Jagdbeute
Besonders in den Küchenstillleben finden sich oft Wildbret oder Jagdbeute, was einerseits die üppigen Tafelfreuden andeutet und für Wohlstand, Wohlleben und Luxus steht. Anderseits führen die drapierten stillen Tierkadaver die Sterblichkeit allen irdischen Lebens vor Augen. Kadaver sind blind und stumm wie das Bild selbst. Kunst ebenso wie Jagdbeute sind totes Menschenwerk. – Bei den Beutetieren kommt dem Hasen eine besondere Bedeutung zu. Der Hase ist wegen seiner kurzen Vorderbeine bergauf am schnellsten. In seiner Wehrlosigkeit steht er für den gläubigen Menschen. Wie der Hase bergauf flieht, so soll sich der Christ seinem Gott als Berg der Weisheit zuwenden. (In der Ikonografie wird zwischen Kaninchen und Hase nicht unterschieden.)

Haushaltsgerät

Stillleben von Willem Claesz. Heda
Kerze
Die brennende Kerze ist ein Sinnbild für Materie und Geist, die Flamme steht für die menschliche Seele, ihr Verlöschen für den Tod. Oft wird der Rauch der verloschenen Kerze dargestellt.
Kerzenlöscher
Das Löschhütchen, mit dem die Kerzenflamme erstickt wird, ist natürlich ebenfalls ein Symbol für das Sterben und Vergehen.
Messer
Mit seiner Schärfe und Gefährlichkeit erinnert ein Messer an die Verletzlichkeit des Menschen und an seine Sterblichkeit. Es ist außerdem ein Phallussymbol und eine verdeckte Darstellung der männlichen Sexualität.
Glas und Keramik
Kostbar verzierte Gläser und besonders Geschirr aus Porzellan waren Luxusgüter. Darüber hinaus stellen sie Zerbrechlichkeit und damit Vergänglichkeit dar. Wegen seiner strahlenden Weiße steht das Porzellan aber auch für Reinheit. Analog dazu steht wegen seiner durchscheinenden Klarheit Glas für Keuschheit.
Zerbrochenes Glas oder Geschirr
Zerbrochenes Glas oder Geschirr zeigen die Verletzlichkeit menschlichen Glücks und stehen ebenfalls für den Tod.
Krug
Ein Krug kann das Laster der Trunksucht symbolisieren. Ebenso kann er ein Sinnbild der (gefährdeten) Jungfräulichkeit sein.
Mörser
Mörser und Stößel beziehungsweise Pistill sind Symbole für weibliche und männliche Sexualität und das Streben nach sexueller Erfüllung. Dieses Streben ist natürlich eitel.

Zeitvertreib

Bildung war noch nicht grundsätzlich aufgewertet gegenüber dem Zeitvertreib wie seit dem 18. Jahrhundert. Wissenschaft war erst dabei, sich vom Verdacht des Okkultismus zu befreien. Auch das Sammeln galt noch als Zeichen des Egoismus und als schlechte Angewohnheit wie etwa das Rauchen.

Bilder
Überaus häufig als Vanitas-Requisiten sind abgebildete Bilder oder Statuen: Das Bild macht sich und seine Unfähigkeit, das Abgebildete zu bewahren und lebendig wiederzugeben, zum Thema.
Briefe
Briefe sind materielle Produkte menschlicher Beziehungen und verkörpern sie. Diese Beziehungen sind vergänglich. Für Briefe, Bücher und Musiknoten galt noch, dass die Stimme des Lesers kein vollwertiger Ersatz war für die verklungene Stimme des Schreibers, sondern nur ihr Fehlen deutlich machte.
Musikinstrumente, Musiknoten
Obwohl Musik schon aufgezeichnet werden konnte, galt sie außerhalb des Liturgischen als einzigartig und unwiederholbar. Die Aufführung war vorbei, der Klang verklungen, die Musiker verschwunden und die Musiknoten und Instrumente nur noch ein Zeichen des Fehlens. Instrumentalmusik war noch minderwertig gegenüber dem Gesang. Das Musikinstrument wurde als Zeichen für den fehlenden Menschen gesehen. Darüber hinaus macht das Bild mit der Darstellung von Musik seine Unfähigkeit deutlich, auch noch den Klang zu vermitteln. Das reizt jedoch die Vorstellungskraft des Betrachters.
Spielkarten, Würfel
Spielkarten, Spielwürfel und andere Utensilien des geselligen Zeitvertreibs sind Zeichen für ein verfehltes Lebensziel, die Hinwendung zu flüchtigem Vergnügen, schlechter Gesellschaft, sündhaftem Leben. Die Chancengleichheit des Glücksspiels wurde noch als verwerfliche Anonymität betrachtet. Damit sollte dem genießenden Betrachter seine eigene Anonymität vor dem Bild bewusst werden. Als Kunstliebhaber oder Sammler war er nicht besser als der Glücksspieler. Die darstellende Kunst war selbst ein Spiel, und das dargestellte Spiel war ein Spiel im Spiel.
Michel Gobin: Junger Mann mit Pfeife, nach 1681
Raucherwaren
Tabakspfeife und weitere Raucherutensilien sind ein Zeichen für momentanen, flüchtigen Genuss. Rauch und Geruch können im Bild nicht festgehalten werden. – Das berühmte Bild Ceci n’est pas une pipe (Dies ist keine Pfeife, 1928) von René Magritte ist noch eine Anspielung auf diese Symbolik.
Seifenblasen
Seifenblasen wie Glaskugeln sind ein Symbol für das menschliche Leben, sowohl für seine Schönheit als auch für seine Vergänglichkeit. Als Ball gesehen, können sie auch als Symbol für die Unbeständigkeit des Lebens gedeutet werden.
Wissenschaft
Gelehrte Bücher, Verträge, juristische Regelwerke, Kalender, Pläne, Landkarten, Weltkugeln, Messinstrumente, Antiquitäten, Kuriosa, all dies versammelt nur irdisches Wissen und Streben und ist daher vergänglich. Gelegentlich wird auch die Darstellung wissenschaftlicher Experimente oder Daten noch mit Vanitas-Attributen gerechtfertigt.

Christussymbole

Auf vielen Vanitas-Stillleben, die nicht nur das Negative zeigen sollten, befinden sich Symbole, die sich auf die Heilslehre Christi beziehen. Wenn alles Weltliche vergehen muss, kann nur das Göttliche wirklich, wertvoll, beständig und erstrebenswert sein.

Die protestantischen Vanitas-Darstellungen vermieden die hergebrachten religiösen Motive. Ihre Botschaft blieb hintergründiger. Im Unterschied zu den direkt erkennbaren, sinnlichen, aber unwirklichen Dingen sind die Symbole für die religiöse Wirklichkeit nur dann erkennbar, wenn man sie deuten kann. Diese semiotische Botschaft sollen sie vermitteln. Der Triumph der Mimesis durch die täuschend genaue Darstellung wird durch ihren Inhalt entwertet: Nicht was das Bild zeigt, ist wirklich, sondern was es nur auf Umwegen „sagen“ kann. – Häufig verwendete Christussymbole sind:

Fisch
Aus dem Griechischen: ιχθύς=Ιησούς Χριστός Θεού υιός Σωτήρ (Jesus Christus, Gottes Sohn, Erlöser – die ersten Buchstaben bilden das Wort „Fisch“.)
Brot oder Getreideähren, Wein oder Weintrauben
Sie weisen auf die Eucharistie hin, den Neuen Bund und die damit versprochene Erlösung.
Kelch
Auch der Kelch ist ein Zeichen für Wein und damit für die Eucharistie und den Neuen Bund.
Raupe, Schmetterling
Die Raupe, die sich zum Schmetterling wandelt, ist ein Symbol für Auferstehung und Erlösung. Der Schmetterling ist darüber hinaus ein Symbol der menschlichen Seele.
Elfenbein
Elfenbein ist wegen seiner Kostbarkeit und seiner Weiße schon seit dem Altertum ein Symbol für Reinheit und Beständigkeit.
Nelke
Wegen der nagelförmigen Samen ist die Nelke ein Symbol für die Passion Christi.
Salz
Salz ist ebenso lebensnotwendig, wie Christus heilsnotwendig ist. Deshalb ist Salz ein Symbol für Christus.
Erbsenschote
Wegen der Zartheit der Blüte und der in der Hülse schützend geborgenen Frucht symbolisiert die Erbsenblüte die jungfräuliche Empfängnis Christi.
Ei
Das Ei trägt Leben in sich; es ist ein Symbol der Auferstehung.
Perle
Perlen verkörpern Vollkommenheit und Reinheit und stehen deshalb neben anderen Symbolbedeutungen auch für Christus.

Interpretationshilfe

Exilium melancholiae von Bartholomeus Hopfer (nach 1643)

Die Liste ist nicht vollständig. Es mag noch Hunderte weiterer Symbole geben. Entscheidend ist der Unterschied zwischen dem trügerischen Zeichen unmittelbarer Sinnlichkeit und dem indirekten religiösen Symbol, das man deuten muss. Die Analogie gibt nicht vor, das Bedeutete zu sein wie die „platte“ Abbildung. Die Maler dieser Symbole dachten wie ihr Publikum in Analogien: So wie Salz dem Menschen lebensnotwendig ist, so ist Christus notwendig für das Seelenheil, Salz für Christus.

Für die Vanitas-Stillleben bedienten sich die Maler aus dem reichen Fundus der zeitgenössischen Emblematik, über die damalige Gelehrte wie Jacob Cats auch Bücher verfassten. Mit jedem Bild entsteht so ein neues Potpourri verschiedenster Bedeutungen, die sich ergänzen, überlagern und vielleicht widersprechen. Das macht die Interpretation oft nicht einfach.

Nicht jede Dose muss weibliche Sexualität bedeuten. Nicht alles muss symbolisch gemeint sein. Es ist hilfreich, möglichst viele potenzielle Symbole zu sammeln und thematisch zu ordnen. Wenn mehrere Symbole in dieselbe Richtung weisen, zum Beispiel Sexualität (Mörser, Messer, Rosen…), ist es wahrscheinlich, dass die Dose analog zu interpretieren ist. Mögliche Symbolbedeutungen, die isoliert stehen, sollten zum Schutz vor Überinterpretation nur vorsichtig gedeutet werden.

Bei aller Bedeutungsfracht sollte man bedenken, dass diese Bilder auch und vor allem schön anzusehen sein sollten.

Moderner Wandel

Porträt des Archäologen Johann Joachim Winckelmann 1768: der „sprechende“ Moment des Schreibens

Es kommt zunehmend zur Auflehnung gegen das unweigerliche Scheitern, auch wenn der Tod bis heute nicht überwunden ist. Schon in Gemälden vor 1700 erscheint der Totenschädel als Attribut und sinnvolles Studienobjekt für den Arzt oder Wissenschaftler.[11] Eine ähnliche Umdeutung der Spuren oder Relikte eines Vergangenen zeigt sich in der beginnenden Archäologie, die sich vom Makel der im Mittelalter verfolgten Nekromantie und von der Unart des Reliquien-Sammelns löste.

Vanitas bekommt Risse: Grabmal von Johann August Nahl, 1751

Das Grabmal einer beim Gebären gestorbenen Mutter von Johann August Nahl (1751) wird zu einem der meistbewunderten und -nachgebildeten Kunstwerke, zu dem Christoph Martin Wieland (1759), Johann Caspar Lavater (1777) oder Johann Wolfgang Goethe (1779) hinpilgern.[12]

Seit dem späten 18. Jahrhundert, im Zuge des medizinischen und naturwissenschaftlichen Fortschritts, aber auch einer „bürgerlichen“ Aufwertung des Geldes und der privatrechtlichen Verträge (Dingen, die man in der Hand hat, im Gegensatz zur ungewissen Gnade geistlicher und weltlicher Autoritäten), werden viele Vanitas-Motive vom Nichtigen und Vergänglichen zum Bedeutenden und Ewigen verklärt. Das Festhalten an Werten, der Glaube an ein Diesseitiges, Sinnliches, Materielles sollten nicht mehr aussichtslos sein und zu Einsamkeit führen. Die nicht mehr ganz aussichtslose Belebung und die Erfolg versprechende Spurensuche gehen dabei Hand in Hand. Die Tipps und Tricks der Ärzte und Ingenieure sind kein bloßes Gewinnspiel mehr, und ihr Erfolg ist auf keine Verschwörung mit dunklen Mächten zurückzuführen. Vanitas-Bewältigung durch Aufwertung der Bildung zeigt sich etwa im Studentenlied Gaudeamus igitur (1781). – Denis Diderot wagte es mit seiner Satire Rameaus Neffe (ab 1760), dem offiziellen Trend zur Aufwertung von Kunst und Bildung die triumphierende Vanitas entgegenzuhalten.

„Den Schein und die Täuschung dieser schlechten, vergänglichen Welt nimmt die Kunst von jenem wahrhaften Gehalt der Erscheinungen fort“, behauptet Hegel. Es gebe ein „sinnliches Scheinen der Idee“, das kein bloßer Schein sei. So entsteht die Vorstellung einer höheren Kunst, die zur „christlichen Auffassung der Wahrheit“ ein sinnliches Gegenstück bilde.[13]Friedrich Schiller zum Beispiel stellt mit seinem Roman Der Verbrecher aus verlorener Ehre (1786) nicht nur ein Verwerfliches aus, um seine eigene Verwerflichkeit zu entschuldigen, sondern erklärt einen Hergang: „Wie ist der Dargestellte zum Verbrecher geworden?“ So wird das dargestellte Verbrechen verständlich, was seine Darstellung aufwertet. Die Erklärung befreit sich vom Vorwurf der Lüge.

Nicht mehr die Anonymität des gebannten Zuschauers vor dem Kunstwerk wird hervorgehoben, sondern die Gemeinschaft der Kunstliebhaber, zu der es Anlass gibt. Gemeinschaft auf der Basis eines Objekts oder Dokuments sollte keine kollektive Verblendung oder Verschwörung mehr sein. Jean-Jacques Rousseau betätigte sich gleichermaßen als Künstler wie als Vertragstheoretiker (Vom Gesellschaftsvertrag oder Prinzipien des Staatsrechtes, 1762). Die Unfähigkeit des Kunstwerks, das Lebendige wiederzugeben, wird nicht mehr als Fehler verstanden, sondern als bleibende Herausforderung an die Vorstellungskraft seiner Betrachter gerühmt. Durch die Vorstellung, dass hier eine „neue Sprache“ zu allen spreche[14], scheint das Kunstwerk unsterblich zu werden.

Dies führt zu einer Art Anti-Vanitas: einer Darstellung des Gelingens an Stelle eines Scheiterns – oder einer gelungenen Darstellung, die sich von einem dargestellten Scheitern distanziert. Durch ihren Erfolg verbindet sich die Darstellung mit dem Dargestellten oder unterscheidet sich von ihm.

Darstellung des Gelingens

Die Vision des Künstlers wird lebendig: Pygmalion-Darstellung von Jean-Léon Gérôme

Das Fixierte und Behauptete des Bildes und der Schrift werden vom Verwerflichen zum Tugendhaften, so wie das geschriebene Gesetzesrecht gegenüber dem ungeschriebenen Gewohnheitsrecht an Bedeutung gewinnt oder der rechtschaffene bürgerliche Vertrag kein Teufelspakt mehr sein soll. Deutlich wird diese Umwertung etwa bei Rousseaus Melodram Pygmalion (1762/1770), in dem es einem Bildhauer gelingt, sein Bild ohne göttliche Hilfe zu beleben: Nicht mehr das Tote der Statue wird durch die Verzweiflung ihres Schöpfers und Betrachters herausgestellt, sondern ihr imaginäres Leben in seinen Augen. Auch das barocke Theatrum mundi wird auf den Jahrmärkten jener Zeit zur bewunderten ingenieurtechnischen Belebungskunst.

Prominent in diesem Zusammenhang ist die Musik, die vom Symbol des im Nu Verklingenden zum Symbol „klassischer“ Beständigkeit wird, was sich in einer nie zuvor gekannten Repertoirebildung zeigt. Dem Sänger Orpheus gelingt es in Glucks Oper Orfeo ed Euridice (1762/1774) erstmals, seine verstorbene Frau lebendig zu machen. Das Motiv der Eurydike erfährt eine ähnliche Entwicklung wie dasjenige von Pygmalions Statue Galathée. Taminos „Bildnisarie“ in Mozarts Zauberflöte (1791) besingt nicht mehr die unmögliche oder verlorene, sondern die kommende (sinnliche) Beziehung.[15] Und das Musikinstrument als bloßer Ersatz der Gesangsstimme beginnt in der Vorstellung des Hörers zu „singen“.

Anti-Vanitas: Familiäre Kunst im 18. Jahrhundert

Nicht nur in der Bildenden Kunst und der Musik, sondern auch in Literatur und Theater gibt es für diesen Wandel zahlreiche Beispiele: Der Sinnspruch „Et in Arcadia ego“ bedeutet für Goethe nicht mehr Todesnähe, sondern die lebendige Erinnerung an Italien. Johann-Faust-Figuren als Symbole des Nichtigen und Lächerlichen (seine Studierstube ist eine Ansammlung von Vanitas-Attributen) werden seit Goethes Faust I zum Bedeutenden oder Heroischen stilisiert. Der einst lächerliche Romanleser Don Quijote, das „klassische Ideal des Melancholikers“ in der spanischen Literatur,[16] wird in der Romantheorie von Georg Lukács zum idealistischen Helden gemacht. Seine Leidenschaft wird vom Verwerflichen zu einer modernen Tugend. – Der „dritte“ europäische Melancholiker Don Juan, der Frauen sammelt, anstatt zu lieben, bleibt hingegen ein mehrheitlich abschreckendes Beispiel.

In all dem zeigt sich eine Umwertung der Schrift von der Spur eines unwiederbringlich Verklungenen zum Modell eines ewigen Klingens in geselliger Gemeinschaft. Texte und Objekte werden von den Nachbildern eines Verklungenen zu Vorbildern eines Klingenden. Um dies zu gewährleisten, müssten Weltliteratur oder der Notentext von Kunstmusik beständig gelesen werden. Mit immer neuen Lesern oder Interpreten triumphieren sie über die Vergänglichkeit. Lesen ist dann kein Scheitern mehr, sondern ein Gelingen.

Die Vanitas-Darstellungen des 17. Jahrhunderts präsentieren dagegen noch das verwaiste Buch oder die verblichenen Musiknoten als Inbegriff des Stummen. Allerdings beginnen sich schon in den niederländischen Stillleben jener Zeit der Wert und die Dauerhaftigkeit der Darstellung von der Nichtigkeit und Vergänglichkeit des Dargestellten selbstbewusst zu unterscheiden.[17] Hinter der vordergründigen Bescheidenheit verbirgt sich der Stolz des Künstlers.

Triumph über das Scheitern

Darstellungen des Sterbens oder Scheiterns seit dem 18. Jahrhundert, die sich zum Beispiel gegen einen gesellschaftlichen oder wissenschaftlich-technischen Fortschritt richten, sind oft mit einem paradoxen Triumph ihrer Autoren oder Darsteller verbunden. Ein Modell dafür war Jean-Jacques Rousseaus Schrift Discours sur les sciences et les arts (1750), die den Philosophen zum Star machte. Sein Wahlspruch Zurück zur Natur! durfte in mancher Augen eine Rückkehr zur Religion ersetzen und moralisch Zweifelhaftes aufwerten.

Das Lamento als kollektives Eingeständnis des Scheiterns wird in der Oper des 19. Jahrhunderts zur frenetisch beklatschten Sterbearie. Die Figur des Sängers ist gestorben, aber der Sänger und sein Publikum haben überlebt. Der sterbende Schwan (1907) wird zur gefeierten Glanznummer der Ballerinen, die (im Gegensatz etwa zur älteren Vanitas-Motivik im Flamenco-Tanz) ins Lächerliche umkippt, wenn die Interpretin ihre Lebenskraft, ihre technische Beherrschung ähnlich wie der dargestellte Schwan verliert. Vorausetzung dazu ist eine Art „Vitalität, die den natürlichen Tod als bloßes Theaterspielen entlarvt“[18].

Die eitle Schönheit mit dem Fuß auf einem Totenschädel in den Darstellungen des 16./17. Jahrhunderts sollte noch einen vorübergehenden, lächerlichen Triumph (Hybris) bloßstellen. Darstellungen eines Scheiterns zum Zweck des Triumphs eines Übermenschen erreichen ihren Höhepunkt im Fin de siècle. Selbst das Göttliche erscheint machbar und überwindbar in Richard Wagners Götterdämmerung (1876) oder Friedrich Nietzsches Also sprach Zarathustra (1883). Auch in seiner Oper Parsifal (1882) lässt Wagner die Musik über den Tod triumphieren, indem er die Figur Titurel aus dem Grabe singen lässt.

Die mitfühlende Unterordnung der Darstellung unter das Dargestellte wird zum Sieg über dessen Untergang. Theodor Adorno sprach in der Zeit des Nationalsozialismus mit Bezug auf Wagner von einer „Erhebung des Nichts zum Etwas“[19].

Populärkultur

Theodore von Holst: Illustration (1831) des Frankenstein-Romans

Die Botschaft, dass Kunst nicht ernst genommen werden könne (als gewaltsamer und aussichtsloser Versuch, Leben festzuhalten oder zu erzeugen), entspricht dem älteren Vanitas-Prinzip, gegen das sich eine Hochkultur seit dem 18. Jahrhundert auflehnt. Daher begründen fortbestehende ältere Vanitas-Traditionen im 19. Jahrhundert eine gering geschätzte Populärkultur. Angeregt wurde dies unter anderem durch die romantische Aufwertung des Mittelalterlichen und des Irrationalen seit etwa 1800. Die Parallelsetzung von Künstler und Verbrecher (obwohl häufig thematisiert wie in E.T.A. Hoffmanns Novelle Das Fräulein von Scuderi, 1821) wird als etwas Triviales geächtet.

Auch die Vanitas-Symbolik selbst wird oft nicht mehr ernst genommen, was als Befreiung von kirchlicher und weltlicher Bevormundung verstanden wird. Melancholie wird offener als Vorwand für Selbstgefälligkeiten verwendet und ist auch leichter als solcher zu entlarven. Der Weltschmerz dient zur Unterhaltung. Männerchöre besingen mit tränenreichen Liedern die Vergänglichkeit (’s Mailüfterl, Loreley). Robert Schumanns Stück „im Volkston“ Vanitas, vanitatum (1849) für Cello soll „mit Humor“ vorgetragen werden. Die Moritat rechtfertigt die Darstellung von Verbrechen, indem sie vor diesen Verbrechen warnt – auch wenn dies bloß noch Konvention ist und mit überlegenem Humor geschieht (Sabinchen war ein Frauenzimmer, 1849). Kriminalliteratur zelebriert neben der Warnung auch die Aufdeckung des Verbrechens. In Horrorliteratur und -illustrationen oder dem Schauerroman wird der religiöse Hintergrund der Vanitasmotive vollends zum Klischee. Das lebendig gewordene Standbild, das Don Juan zur Hölle schickt, erzeugt bloß noch ein wohliges Grauen.

Baudelaire-Illustration (1866) von Félicien Rops

Der standhafte Zinnsoldat im gleichnamigen Märchen (1838) von Hans Christian Andersen ist eine Art tragischer Held, weil er nur in der Imagination lebendig werden kann, und der trotzige Wunsch, ihn lebendig zu machen, befördert das Lebendigwerden des Textes, der ihn enthält. Das Leblose im Leblosen der älteren Vanitas-Motivik darf hier vorübergehend zum Lebendigen im Lebendigen werden.

Stets werden Vanitas-Motive noch kritisch oder satirisch auf aktuelle Versuche bezogen, die Vanitas zu überwinden. Seit Mary Shelleys Victor Frankenstein oder der moderne Prometheus (1818) wird die Belebung des Toten als etwas Menschenmögliches, aber Bedrohliches dargestellt. Edgar Allan Poes Ballade The Conqueror Worm (1843) bezieht sich ausdrücklich auf barocke Vanitasmotive, ebenso Charles Baudelaires Gedichtsammlung Les Fleurs du Mal (1857–68), die eine „moderne“ Ästhetik des Hässlichen begründete. Die vielleicht populärste Oper des 19. Jahrhunderts, die im barocken Sinn vor Verblendung warnt, Giacomo Meyerbeers Le Prophète (1849), wird aus dem kulturellen Gedächtnis getilgt.[20]

Höher geachtet wurde (und wird) die Fortführung der satirischen Tradition wie bei William Thackerays Vanity Fair (1848). Vanitasmotive werden zu einer wesentlichen Eigenschaft von Karikaturen wie denjenigen von William Hogarth, Honoré Daumier oder Félicien Rops. Die Allegorie bleibt als Stilmittel bestehen, aber bekommt etwas Naives oder Sarkastisches.

Melodramatische Musik wird im Unterhaltungstheater zum Symbol der „Poetisierung“ eines Unbelebten, bis hin zur Filmmusik des 20. Jahrhunderts. Die musikalisch geschürte Angst vor der Belebung des Toten wird im Horrorfilm gepflegt, die komische Rührung über seine Belebung wird im Animationsfilm kultiviert (siehe Mickey-mousing).

Vor allem Bösewichter, vom Vice der Renaissance bis zum Joker aus der Comic-Serie Batman, die der Welt ihre Schlechtigkeit und Vergänglichkeit vorhalten und damit ihre Darstellung rechtfertigen, sind bis heute mit Vanitas-Attributen ausgestattet.

Vanitas seit dem 20. Jahrhundert

Die Décadence um etwa 1900 wandte sich mit einer Erneuerung von Vanitas-Motiven[21] gegen einen bürgerlichen Denkmalskult oder gegen den Naturalismus in Literatur und Kunst. Edvard Munchs Bilderreihe Der Schrei (1892–1910) thematisiert etwa den fehlenden Klang des Bildes.

Vanitas bleibt auch in der Kunst seit dem 20. Jahrhundert gegenwärtig: In den Stillleben von Georges Braque oder Pablo Picasso lösen sich die Gegenstände nicht durch ihre Vergänglichkeit auf, sondern durch die Abstraktion des Künstlers. Andy Warhol kritisierte mit der Darstellung nichtiger Dinge den Wertanspruch von Kunst (was diese Werke zu den teuersten der modernen Kunst gemacht hat). Heute erzielt der Künstler Damien Hirst mit präparierten Kadavern Höchstpreise.

Verlässlichkeit des Scheins

All is Vanity von Charles Allan Gilbert, 1892

Die gewandelte Qualität der Vanitas-Motive lässt sich folgendermaßen erklären: Einerseits fällt die tröstende religiöse Heilsgewissheit für eine große Zahl der Betrachter weg, andererseits wird das Fehlen des Dargestellten nicht mehr unbedingt als Problem empfunden (denn man hält seine Darstellung für gelungen). Bei einem im Museum ausgestellten Heiligenbild ist man nicht unglücklich darüber, dass der Heilige seine Autorität in dieser Institution nicht mehr entfaltet, weil es hier auf den Künstler und sein Können ankommt. Oder: Bei vielen Spielarten der Nostalgie ist man nicht unglücklich darüber, dass die harten Lebensumstände der herbeigesehnten alten Zeiten in Wirklichkeit vorbei sind. Die „Darstellung des Gelingens“ einer guten alten Zeit und der überlegene „Triumph über das Scheitern“ dieser Zeit sind hier auf paradoxe Weise verbunden. – Nur beim Lesen oder Betrachten, das in der Macht des Lesers oder Betrachters liegt, wird das Gelesene lebendig, und dies wird zunehmend als Vorteil der Rekonstruktion über das Rekonstruierte verstanden. Das Dargestellte scheitert mit seinen eigenen Machtansprüchen, während seine Belebung den Darstellern gelingt.

Francis Barrauds Bildnis des verstorbenen Hunds Nipper vor der „Stimme seines Herrn“ aus dem Grammophontrichter ist in formaler Hinsicht eine Vanitas-Darstellung, aber sie ist positiv gemeint: „Es ist zwar nur Schein, aber es funktioniert.“ Nicht mehr die Verzweiflung vor dem Leblosen, sondern die Treue des Hunds (die der Klangtreue des Apparats entspricht) wird hervorgehoben. Der Medienwissenschaftler Friedrich Kittler kommentierte dies mit: „Wunder werden üblich.“[22] Ein Wille zur Überwindung der Vanitas zeigt sich ebenfalls in optimistischen Konzeptionen der Künstlichen Intelligenz seit dem 20. Jahrhundert. Auch hier kann die „treue“ Abhängigkeit der Maschinen (als ein willkommener Ersatz für unwillige und widerborstige menschliche Arbeitskräfte) die Illusion ihres Lebendigwerdens befördern.

Die Verlässlichkeit einer künstlichen Welt stellt sich über die realen Ungewissheiten. Am deutlichsten wird dies bei Horror-Motiven: In dem berühmten Vexierbild All is Vanity (1892) von Charles Allan Gilbert ist nur der Schein unheimlich, hinter dem sich eine beruhigende, banale Wirklichkeit verbirgt. Dass das Monster im Horrorfilm nicht wirklich aus dem Grab steigt, ist als beruhigende Gewissheit die Voraussetzung für den Genuss seiner Darstellungen. Die vierte Wand, die den Zuschauer vor Übergriffen schützt, bleibt bestehen. Beim Blick hinter die Kulissen bestätigt sich die Unwirklichkeit des Dargestellten, und an die Stelle der Wirklichkeit tritt das Know How oder Making-of. Von der populären Vanitas zum Horrorfilm gibt es eine kontinuierliche Tradition. Das im 19. Jahrhundert oft zu Allerseelen aufgeführte Schauerdrama Der Müller und sein Kind (1830) von Ernst Raupach wurde 1911 zu einem der ersten Horrorfilme. – Heute ist Halloween ein spielerischer, vom Religiösen weitgehend getrennter Umgang mit Vanitas-Attributen.

Katastrophenszenario

Untergang der Titanic (1912) von Willy Stöwer

Den „Triumph über das Scheitern“ führt das populäre Katastrophenszenario fort, wie etwa die zahlreichen Darstellungen des Untergangs der Titanic. Dem Scheitern des Dargestellten wird das Gelingen seiner Darstellung gegenübergestellt, was die Katastrophe zu bannen scheint.

Der Ernst einer Vanitas-Symbolik ist in vielen Fällen umstritten. Eher der Schaulust dienen Katastrophenfilme von Sodom und Gomorrha (1922) bis Terminator (1984). Die faszinierte Frage: „Wie ist es gemacht?“ lenkt von ihrer Thematik ab. Die Bilder der Terroranschläge am 11. September 2001 ließen die Vorstellung der beherrschten Katastrophe zeitweise in eine mittelalterliche Vanitas-Symbolik umschlagen.

In der Horror-Tradition der Vanitas-Motive steht auch der Erfolgsroman Das Parfum (1985) von Patrick Süskind, dessen Held Parfüm aus ermordeten Frauen extrahiert: Das Buch kann den Geruch des Parfüms so wenig wiedergeben, wie das Parfüm das entschwundene Leben der Frauen konservieren kann. Aber beides ist eine Herausforderung an die Vorstellungskraft der Lesenden oder Riechenden, die sich mit keinem lebendigen Gegenüber abgeben müssen.

Der Regisseur Christoph Schlingensief brachte in seiner Parsifal-Inszenierung von 2004 im Bayreuther Festspielhaus mit der Projektion eines verwesenden Hasen ein traditionelles Vanitas-Symbol mit Richard Wagner in Beziehung.

Einzelnachweise

  1. Alain Tapié: Petite archéologie du vain et de la destinée, in: Ders. (Hg.): Les vanités dans la peinture au XVIIe siècle, Caen: Musée des Beaux-Arts 1990, S. 69–77. ISBN 2226048774
  2. Philippe Ariès: Geschichte des Todes. München: Hanser 1980, S. 261f.
  3. Alicia Faxon: Some Perspectives on the Transformations of the Dance of Death in Art, in: Liana De Girolami Cheney (Hg.): The Symbolism of Vanitas in the Arts, Literature, and Music, Lewiston (NY): Mellen 1992, S. 50
  4. Michel Foucault: Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1973, S.34
  5. Jan Bialostocki: Stil und Ikonographie. Studien zur Kunstwissenschaft, Dresden: Verlag der Kunst 1966, S. 196.
  6. Andreas Gryphius: Gesamtausgabe der deutschsprachigen Werke, hrsg. Marian Szyrocki, Hugh Powell, Tübingen: Niemeyer 1963. Bd.1 S.33f.
  7. Walter Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels, Berlin: Rowohlt 1928
  8. siehe die Einteilung von Ingvar Bergstrom: Dutch Still-Life Painting in the Seventeenth Century, New York: Hacker Art Books 1983. ISBN 0878172793
  9. Ernst H. Gombrich: „Das Stilleben in der europäischen Kunst. Zur Ästhetik und Geschichte einer Kunstgattung“, in: Derselbe: Meditationen über ein Steckenpferd. Von den Wurzeln und Grenzen der Kunst, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1978, ISBN 3518278371. S. 171–188, hier S. 187
  10. Simon Schama: The Embarrassment of Riches: An Interpretation of Dutch Culture in the Golden Age, New York: Vintage 1997. ISBN 0679781242
  11. Liana De Girolami Cheney: Dutch Vanitas Paintings. The Skull, in: Dies. (Hg.): The Symbolism of Vanitas in the Arts, Literature, and Music, Lewiston (NY): Mellen 1992, S. 132f.
  12. Etienne Martin: Réduction du monument funéraire de Maria Magdalena Langhans et de son enfant mort-né, in: Bernadette Schnitzler (Hrsg.): Rites de la mort en Alsace, Strasbourg: Musées de la Ville 2008, S. 212–218
  13. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik I, hrsg. Rüdiger Bubner, Stuttgart: Reclam 1971, S. 47f.
  14. Michel Butor: Vanité, Paris: Balland 1980, S. 44f. ISBN 2-7158-0234-X
  15. Mathias Spohr: „Kann eine Herkunft durch Leistung erworben werden? Vanitas in der italienischen und Identität in der deutschen Oper“, in: Sebastian Werr, Daniel Brandenburg (Hrsg.): Das Bild der italienischen Oper in Deutschland. Münster: Lit Verlag 2004, S. 177–190. ISBN 3825882799, hier S. 180f.
  16. Fernando Rodríguez de la Flor: Era melancólica. Figuras del imaginario barroco, Barcelona: Olañeta 2007. ISBN 9788497164146
  17. „Es scheint manchmal, als ob die Vanitas eine Ironie geworden sei.“ Jan Bialostocki: Stil und Ikonographie. Studien zur Kunstwissenschaft, Dresden: Verlag der Kunst 1966, S. 201f.
  18. Ursula Pellaton: Das Sterben tanzen? Versuch einer Typologie der getanzten Sterbeszene, in: Mimos 46:1994, S. 10–12, hier S. 12.
  19. Theodor W. Adorno: „Versuch über Wagner“ [1937/38], in: Ders. Gesammelte Schriften, Darmstadt: Wissenschaftl. Buchges. 1998, Bd.13 S.140
  20. Mathias Spohr: Wirkung ohne Ursache. Richard Wagner zitiert Pierre-Joseph Proudhon, in: Thomas Betzwieser etc. (Hg.): Bühnenklänge, München: Ricordi 2005, S. 139–145. ISBN 3-931788-96-2
  21. vgl. Jean de Palacio: Le silence du texte. Poétique de la décadence, Leuven: Peeters 2003. ISBN 90-429-1285-5
  22. Friedrich Kittler: Grammophon, Film, Typewriter, Berlin: Brinkmann & Bose 1986. ISBN 3922660177, S. 9

Literatur

  • Ferdinand van Ingen: Vanitas und Memento mori in der deutschen Barocklyrik, Groningen: Wolters 1966
  • Alberto Veca: Vanitas. Il simbolismo del tempo, Bergamo: Lorenzelli 1981
  • Philippe Ariès: Geschichte des Todes. München: dtv 1982. ISBN 3423301694
  • Liana DeGirolami Cheney (Hrsg.): The Symbolism of Vanitas in the Arts, Literature, and Music. Comparative and Historical Studies. Lewiston: Mellen 1992. ISBN 0889463999
  • Richard B. Woodward: Vanitas. Meditations on Life and Death in Contemporary Art. Virginia: Museum of Fine Arts 2000. ISBN 0917046552
  • Mathias Spohr: „Das Problem der Vanitas. Goethes Faust und das Faust-Sujet im populären Musiktheater“, in: Maske und Kothurn 45 (2001), H. 3-4, S. 71-91
  • Christian Kiening: Das andere Selbst. Figuren des Todes an der Schwelle zur Neuzeit, München: Fink 2003. ISBN 3770538196
  • Anne-Marie Charbonneaux (Hrsg.): Les vanités dans l’art contemporain, Paris: Flammarion 2005. ISBN 2-0801-1460-3
  • Karine Lanini: Dire la vanité à l’âge classique : paradoxes d’un discours, Paris: Champion, 2006. ISBN 2-7453-1319-3

Siehe auch

Weblinks


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