Verfassung

Verfassung

Als Verfassung wird das zentrale Rechtsdokument oder der zentrale Rechtsbestand eines Staates, Gliedstaates oder Staatenverbundes bezeichnet. Sie regelt den grundlegenden organisatorischen Staatsaufbau, die territoriale Gliederung des Staates, die Beziehung zu seinen Gliedstaaten und zu anderen Staaten sowie das Verhältnis zu seinen Normunterworfenen und deren wichtigste Rechte und Pflichten. Die auf diese Weise konstituierten Staatsgewalten sind an die Verfassung als oberste Norm gebunden und ihre Macht über die Normunterworfenen wird durch sie begrenzt. Die verfassunggebende Gewalt geht in demokratischen Staaten vom Staatsvolk aus. Verfassungen enthalten meist auch Staatsaufgaben- und Staatszielbestimmungen, diese finden sich häufig in einer Präambel wieder.

Die rechtliche Auseinandersetzung mit Verfassungen ist Gegenstand des Verfassungsrechts.

Inhaltsverzeichnis

Allgemeines

Da sich von der Verfassung sämtliche Rechtssätze eines Rechtssystems ableiten, bildet diese den Abschluss des Stufenbaus der Rechtsordnung. Um diese Beendigung des infiniten Rechtsableitungsregresses zu begründen, entwickelte der Rechtspositivismus den Begriff der Grundnorm. Prinzipiell stellt sich bei Verfassungen auch immer die Frage nach ihrer Legitimität. Verfassungsgesetze unterscheiden sich für gewöhnlich von einfachen Gesetzesbestimmungen in mehreren Punkten:

  • Eine Verfassung ist meist nur unter erschwerten Bedingungen änderbar, zur Änderung ist daher meist ein eigener Verfassungsgesetzgeber berufen.
  • Die Handlungen der staatlichen Organe sind formal und inhaltlich an die Vorgaben der Verfassung gebunden.
  • Sie genießt Vorrang gegenüber allen anderen staatlichen Rechtsvorschriften.
  • In vielen freiheitlichen Demokratien wacht eine gesonderte Verfassungsgerichtsbarkeit über ihre Einhaltung. Diese kann im Rahmen einer Normenkontrolle nicht nur Gesetze für verfassungswidrig erklären, sondern auch gegebenenfalls Verfassungsänderungen als verfassungswidriges Verfassungsrecht für unwirksam erklären (siehe ferner Verfassungsbeschwerde). Ihre Überprüfbarkeit durch diese Gerichte ist aber entweder gar nicht oder nur eingeschränkt möglich, da die Verfassung selbst das Maß zur Bewertung der Rechtmäßigkeit des staatlichen Handelns darstellt.

Nach Hauke Möller haben Verfassungen eine doppelte Funktion. „Zum einen organisieren sie den ‘pouvoir constitué’ und legen fest, auf welchem Wege die staatliche Entscheidungsfindung stattfindet. Zum anderen enthalten sie Regelungen wie die Grundrechte, an die der ‘pouvoir constitué’ insgesamt gebunden ist.“[1]

Erste oder völlig neue Verfassungen werden oftmals von Verfassunggebenden Versammlungen ausgearbeitet. Die verfassungsgebende Gewalt geht in demokratischen Staaten vom Volke aus, in Monarchien auch vom Souverän. In der Realität der repräsentativen Demokratien ist diese meist an einen Verfassungsgesetzgeber delegiert. Manche Staaten sehen aber auch verpflichtende Volksabstimmungen für Teil- oder Totalrevisionen der Verfassung vor, so zum Beispiel für Gesamtänderungen der Verfassung in Österreich. Bei Änderungen der Verfassung durch den nationalen Verfassungsgesetzgeber sind meist bestimmte qualifizierte Mehrheiten vorgeschrieben. Meist ist, wie in Österreich (Art. 44Vorlage:Art./Wartung/RIS-Suche Abs. 1 und 2 B-VG), eine Zweidrittelmehrheit nötig.

Verfassungen müssen aber weder aus einem einzelnen Verfassungsdokument, noch überhaupt aus gesatztem Recht bestehen. Im Vereinigten Königreich besteht die Verfassung etwa aus einer Reihe historisch gewachsener Gesetzestexte, die den nichtstatischen Charakter der britischen Verfassung betonen.

Die Untersuchung verschiedener aktueller oder historischer Verfassungen bezeichnet man als Verfassungsvergleichung. Sie ist ein Unterfall der Rechtsvergleichung.

Begriffe

Rechtsdogmatisch handelt es sich bei dem, was heute üblicherweise unter „Verfassung“ verstanden wird, um eine Verfassung im formellen Sinn, das heißt eine Verfassung in Gesetzesform. Dem gegenüber beschreibt der Terminus Verfassung im materiellen Sinn schlicht all jene Rechtsnormen, die Aufbau und Tätigkeit des Gemeinwesens regeln, unabhängig davon, ob sie in Gesetzesform positiviert sind (beispielsweise wenn die Ältesten eines Stammes einen Beschluss fällen). Eine Verfassung im materiellen Sinn besteht somit in jeder – wenn auch „primitiven“ – Form des menschlichen Zusammenlebens. Eine Verfassung im formellen Sinn ist hingegen eine zivilisatorische Errungenschaft, die grundlegenden Rechte und Pflichten im Gemeinwesen mit Rechtssicherheit regelt.

Verfassungsgerichtsbarkeit

Die Verfassungsgerichtsbarkeit beruht auf der Idee der Austragung verfassungsrechtlicher Streitigkeiten vor einem Verfassungsgericht, das zu einer Entscheidung über den Inhalt beziehungsweise die Auslegung der Verfassung berufen ist. Das Konzept der Verfassungsgerichtsbarkeit stammt aus dem angloamerikanischen Rechtsraum. Die moderne Verfassungsgerichtsbarkeit geht vor allem auf den von Hans Kelsen maßgeblich konzipierten österreichischen Verfassungsgerichtshof zurück. Dieser war das erste von der Verfassung selbst dazu ermächtigte gerichtliche Prüfungsorgan zur Sicherung der Verfassungsgarantie. Eine solches Verfassungsgericht besteht jedoch nicht überall:

  • In der iranischen Verfassung zum Beispiel hat der so genannte Wächterrat die Funktion eines Verfassungsgerichts mit letzter Kompetenz in allen Entscheidungen inne. Er trifft seine Entscheidungen gemäß der imamitischen Form der Scharia.
  • Die Schweiz verfügt nur über eine eingeschränkte Verfassungsgerichtsbarkeit, da Bundesgesetze von den Behörden und Gerichten auch bei Verfassungswidrigkeit anzuwenden sind.

Verfassungspräambeln

Üblicherweise wird Verfassungen eine Präambel vorangestellt, in welcher eine Erklärung über die Motive des Verfassungsgesetzgebers abgegeben oder eine höhere Macht über dem Staat angerufen oder zur Legitimation herangezogen wird.

Aktuelle Verfassungen

Europäische Union

Mit dem Vertrag über eine Verfassung für Europa sollte die Europäische Union erstmals eine eigene Verfassung erhalten. Da die zu diesem Zweck angesetzten Volksabstimmungen in Frankreich und den Niederlanden jedoch scheiterten, wurde der Verfassungsvertrag als gescheitert erklärt.

Stattdessen entschied 2007 der Europäische Rat, die anvisierten Maßnahmen und Veränderungen durch den Vertrag von Lissabon in die bereits bestehenden Verträge einzubringen. Von einer Verwendung des Wortes „Verfassung“ sowie staatstypischer Symbole wie Flagge und Hymne wurde dabei abgesehen. Dennoch hat das europäische Primärrecht – also vor allem EU-Vertrag, AEU-Vertrag und EU-Grundrechtecharta – den gleichen rechtlichen Rang, wie es der Verfassungsvertrag gehabt hätte; ihm wird daher Verfassungsqualität zuteil. Gleichermaßen ist man sich „weitgehend einig […], dass aber unter Zugrundelegung eines substantiell angereicherten Verfassungsbegriffs Defizite bestehen“.[3]

Deutschland

Aus der Weimarer Verfassung von 1919 wurden Teile in das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland übernommen. Da die einzelnen Länder eigene Gliedstaaten sind (Kennzeichen: Staatsvolk, Staatsgewalt und Staatsgebiet), hat jedes Bundesland seine eigene individuelle (Landes-)Verfassung. Jedoch muss diese Verfassung nach dem Homogenitätsgebot den „Grundsätzen des republikanischen, demokratischen und sozialen Rechtsstaates im Sinne des Grundgesetzes entsprechen“ (Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GG). Eine Totalrevision des deutschen Grundgesetzes wird aber durch die Ewigkeitsklausel (Art. 79 Abs. 3 GG) für unzulässig erklärt.

Verfassungen deutscher Länder

Österreich

Verfassungen der österreichischen Bundesländer
  • Burgenländische Landesverfassung
  • Kärntner Landesverfassung
  • Niederösterreichische Landesverfassung
  • Oberösterreichische Landesverfassung
  • Salzburger Landesverfassung
  • Steirische Landesverfassung
  • Tiroler Landesordnung
  • Vorarlberger Landesverfassung
  • Wiener Stadtverfassung

Weitere Mitgliedstaaten der EU

Schweiz

Jeder Kanton hat seine individuelle Verfassung; siehe unter den jeweiligen Kantons-Artikeln.

Besonders in den Kantonen der Ostschweiz ist die Gemeindeautonomie traditionell groß. Die jeweiligen kommunalen Organisationserlasse werden Gemeindeordnung, im Kanton Graubünden Gemeindeverfassung genannt. Der Begriff „Gemeindeordnung“ bedeutet damit in der Schweiz etwas anderes als in Deutschland, wo er das Landesgesetz meint, in welchem das Gemeindewesen geregelt wird.

Liechtenstein

Verfassungen Südamerikas

  • Verfassungen Südamerikas

Weitere Verfassungen

Historische Verfassungen

Bayern

Preußen

Deutscher Bund

Deutsches Reich

DDR

Österreich

Schweizerische Eidgenossenschaft

Weitere historische Verfassungen

Nichtstaatliche Verfassungen

Dokumente mit Verfassungscharakter kennen viele Weltreligionen; sie sind durchwegs älter als die Verfassungen neuzeitlicher Staaten. Ein Beispiel ist die Kodifizierung des mosaischen Rechts unter Esra um die Mitte des 5. vorchristlichen Jahrhunderts.

Unter dem Schlagwort „corporate government“ gehen auch Unternehmen dazu über, sich eine Verfassung zu geben, insbesondere um eine größere Transparenz gegenüber Eigentümern und Mitarbeitern zu schaffen.

Siehe auch

Literatur

Verfassungsgeschichte

  • Ernst Rudolf Huber (Hrsg.): Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte. 5 Bde., Stuttgart/Berlin/Köln 1978–1997.

Verfassungstexte

Sekundärliteratur

Zeitschriften

  • Peter Häberle (Hrsg.): Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart. Mohr Siebeck, Tübingen (auch deutsch).
  • Brun-Otto Bryde et al. (Hrsg.): Verfassung und Recht in Übersee Law and politics in Africa, Asia and Latin America. Nomos, Baden-Baden (auch deutsch).
  • Michel Rosenfeld et al. (Hrsg.): International Journal of Constitutional Law. Oxford University Press, ISSN 1474-2659 (englisch).

Weblinks

Wiktionary Wiktionary: Verfassung – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen
 Wikiquote: Verfassung – Zitate
 Wikisource: Verfassungsdokumente – Quellen und Volltexte

Einzelnachweise

  1. Hauke Möller: Die verfassungsgebende Gewalt des Volkes und die Schranken der Verfassungsrevision: Eine Untersuchung zu Art. 79 Abs. 3 GG und zur verfassungsgebenden Gewalt nach dem Grundgesetz. 1. Auflage 2004, ISBN 3-89825-848-3, S. 31 (PDF; 831 kB).
  2. Vgl. BVerfG, Beschluss vom 17. April 1953, BVerfGE 2, 336 (339 ff.); BVerfG, Beschluss vom 11. Juli 1967, BVerfGE 22, 145 (176); BVerfG, Beschluss vom 20. Dezember 1979, BVerfGE 53, 30 (53); Erhard Denninger, Judicial Review Revisited: The German Experience, Tulane L. Rev., Bd. 59 (1985), S. 1013 ff., 1025; Markus Kenntner, Vom „Hüter der Verfassung“ zum „Pannenhelfer der Nation“? – Zur Kontrolldichte im Verfahren der Urteilsverfassungsbeschwerde, DÖV 2005, Heft 7, S. 269 ff., 270.
  3. Zit. n. Martin Nettesheim: Die konsoziative Föderation von EU und Mitgliedstaaten, Abschn. III Nr. 6, Erstveröffentlichung in: ZEuS, 5. Jahrgang, Heft 4/2002.

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