Verfassungswidriges Verfassungsrecht

Verfassungswidriges Verfassungsrecht

Verfassungswidriges Verfassungsrecht bezeichnet in der Rechtswissenschaft Regeln und Normen, die Bestandteil des geschriebenen oder ungeschriebenen Verfassungsrechts geworden sind, aber gleichwohl gegen die Verfassung verstoßen und damit unwirksam oder wegen Verfassungswidrigkeit aufhebbar sind. Eine Rolle spielt dies vor allem bei Verfassungsänderungen.

Dogmatisch handelt es sich um ein Instrument zur Lösung von Normenkollisionen. Vorausgeschickt wird dabei, dass, obgleich jede Verfassungsnorm in bestimmter Weise die Verfassung gestaltet und verändert, es dennoch Regeln gibt, die den übrigen Regeln vorgehen, weil sie höherrangig oder wichtiger sind.

Sowohl Befund (unter welchen Voraussetzungen) als auch Rechtsfolge (welcher Effekt) von verfassungswidrigem Verfassungsrecht sind umstritten.

Inhaltsverzeichnis

Ausschluss der Anwendung des Instituts des verfassungswidrigen Verfassungsrechts

Fälle verfassungswidrigen Verfassungsrechts sind zu unterscheiden von folgenden Fällen:

Hingegen kommt es nicht darauf an, ob und wie eine Regel entstanden ist, also ob sie geschrieben oder ungeschrieben ist oder ob sie durch besonders hohe oder besonders knappe Zustimmung zustande kam. Gleiches gilt für die Bezeichnung von Verfassungsnormen als hochrangig, es kommt nicht allein darauf an.

Beispiel: In Deutschland ist das Rechtsstaatsprinzip nicht vollständig im Verfassungstext aufgenommen.[2] In der Verfassungspraxis wird es jedoch über den Wortlaut von Art. 20 GG hinaus als höherrangiges Verfassungsrecht angewendet und geht einfachen Verfassungsnormen vor. Etwa hinsichtlich Vorbehalt des Gesetzes und Rückwirkungsverbot.

Befund

Verstoß gegen höherrangiges Recht

Nach allgemeinen dogmatischen Regeln setzt die Rechtswidrigkeit einen Verstoß gegen höherrangiges Recht voraus. Das ist im Verfassungsrecht nur dann denkbar, wenn einzelne Normen des Verfassungsrechtes anderen Normen des Verfassungsrechtes vorgehen. In modernen Verfassungen ist oft und seit frühem die Prämisse anzutreffen, dass es einen Normkern gibt, der unabänderlich ist und dem Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers entzogen ist:

“[…] a legislative act contrary to the Constitution is not law.”

U.S. Supreme Court[3]

„[…] ein Gesetzgebungsakt in Widerspruch zur Verfassung hat keine Gesetzeskraft.“

Zu seinem Umfang werden unter anderem Grundsätze gezählt wie

Eine Normhierarchie oder gar Normpyramide innerhalb des Verfassungsrechts gibt es jedoch nicht.

Kollision gleichrangigen Rechts

Nicht anerkannt ist die Figur des verfassungswidrigen Verfassungsrechts dagegen für das Verhältnis gleichrangiger Normen des Verfassungsrechts untereinander, erst recht, wenn diese nicht später eingefügt, sondern von Anfang an Bestandteil der Verfassung waren. Nur vereinzelt wird beispielsweise die Regelung des Religionsunterrichts im Hinblick auf die gleichzeitig normierte Trennung von Staat und Kirche für verfassungswidrig gehalten.[4] Es gibt bei der Kollision solch gleichrangiger Normen keinen Prüfungsmaßstab dafür, welche der beiden Normen an welcher zu messen wäre. Im Ergebnis versagt bei solchen Konstellationen das Instrument des verfassungswidrigen Verfassungsrechts als Normenkollisionslösung und es sind daher andere Auslegungsmethoden heranzuziehen. Ein weiterer Lösungsansatz ist das Instrument der Praktischen Konkordanz.

Verfassungswidriges Verfassungsrecht gleichen Rangs spielt zum Beispiel in Deutschland auch eine Rolle bei der Lösung der Fragen:

  • ob der Bundespräsident eine Nationalhymne bestimmen darf
  • ob und inwiefern dem Bundespräsidenten ein materielles Prüfungsrecht bei der Gesetzgebung des Bundes zusteht.

Deutschland

Eine besondere Rolle kommt in der deutschen Verfassung der Ewigkeitsklausel des Art. 79 Abs. 3 GG zu. Danach sind bestimmte materielle Verfassungsänderungen unzulässig. Kommt es dennoch – selbst unter Beachtung der Gesetzgebungsverfahrensanforderungen – zu einer solchen Änderung des Wortlautes des Grundgesetzes (Art. 79 Abs. 1 GG), so sind das Änderungsgesetz und der Änderungseffekt verfassungswidrig und nichtig.

Beispiel: Streichung von Art. 102 GG und Einführung der Todesstrafe für Fälle, die durch Bundesgesetz bestimmt sind. Dies wäre nach herrschender Meinung unzulässig, weil der verfassungändernde Gesetzgeber gegen Art. 1 Abs. 1 und 3 GG und dem Achtungsanspruch der Menschenwürde verstieße.

Im Übrigen gibt es neben Art. 79 GG die Fälle sonst vorrangigen Verfassungsrechts wie etwa Vorbehalt des Gesetzes und Rückwirkungsverbot (s.o.).

Eine explizite Regelung von verfassungswidrigem Verfassungsrecht findet sich in Art. 117 GG.

Österreich

In Österreich ist das Verfassungsrecht im Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG) kodifiziert und darüber hinaus in sonstigen sogenannten Bundesverfassungsgesetzen. Die Gerichtsbarkeit des Verfassungsgerichtshofs erstreckt sich nicht nur auf einfaches Bundesrecht, sondern auch auf Bundesverfassungsrecht. Da allerdings ein neues Bundesverfassungsgesetz die Verfassung inhaltlich ändert und somit selbst Teil derselben wird (lex posterior derogat legi priori bzw. lex specialis derogat legi generali), kann es inhaltlich nicht verfassungswidrig sein. Häufige Praxis ist daher, dass für verfassungswidrig erklärte einfachgesetzliche Regelungen danach vom Parlament als Bundesverfassungsgesetze verabschiedet werden, um sie durch das qualifizierte parlamentarische Votum der Inhaltskontrolle zu entziehen.

Bundesverfassungsgesetze können aber formal verfassungswidrig sein, wenn sie verfassungswidrig zustande kamen, wenn also die in der Verfassung festgelegten Erzeugungsregeln (teilweise) nicht eingehalten wurden. Der überwiegende Großteil dieser Erzeugungsregeln ist eindeutig und bereitet daher kaum Probleme (siehe Gesetzgebungsverfahren (Österreich) für einen Überblick). Immer wieder kommt es aber zu Diskussionen, ob ein konkretes Bundesverfassungsgesetz eine Gesamtänderung der Bundesverfassung darstellt, da in diesem Fall eine Volksabstimmung zwingend nötig wäre, die aber meistens unterbleibt.

Der Verfassungsgerichtshof hat aus diesem Anlass bereits eine Verfassungsbestimmung (§ 126aVorlage:§/Wartung/RIS-Suche Bundesvergabegesetz) als verfassungswidrig aufgehoben, da diese Norm einen schweren Eingriff ins rechtsstaatliche Prinzip darstellte, ohne durch eine Volksabstimmung legitimiert zu sein.[5]

Die Stammfassung des Bundes-Verfassungsgesetzes von 1920 und alle Gesetze, die dort als Bestandteil der Verfassung angeführt sind (z.B. das Staatsgrundgesetz), sind in der damals gültigen Fassung allerdings komplett der Normenkontrolle entzogen, da sämtliche in der Verfassung vorgesehenen Erzeugungsregeln nur für Verfassungsänderungen gelten.[6]

USA

In den Vereinigten Staaten von Amerika hat sich frühzeitig die Verfassungsgerichtsbarkeit ausgebildet, was einfache Bundesgesetze angeht. Ein gewisser Anfangspunkt bildet die Entscheidung des Obersten Gerichts im Fall Marbury gegen Madison. Verfassungsänderungen werden dort jedoch traditionell nicht als die konsolidierende Änderung eines knappen Verfassungswortlauts vollzogen, sondern sie werden als weitere Artikel (Zusatzartikel) angefügt. Einige davon haben effektiv frühere Verfassungsnormen außer Kraft gesetzt, wie etwa die Abschaffung der Sklaverei mit dem XIII., XIV. und XV. Zusatzartikel. Dies mag zum Teil auf Entscheidungen des Obersten Gerichts zurückzuführen sein. Jedoch blieben direkte Eingriffe des Gerichts mit dem Instrument des verfassungswidrigen Verfassungsrechts aus.

Rechtsfolgen

Dogmatisch umstritten sind die Rechtsfolgen im Falle des Befunds von verfassungswidrigem Verfassungsrecht.

Ausgangspunkt ist die Regel, dass jede verfassungswidrige Norm grundsätzlich unwirksam und nichtig ist. Ausnahmen von diesem Grundsatz sind jedoch Fälle, in den die Verfassungswidrigkeit von Normen zwar festgestellt wurde, sie dennoch nicht für nichtig erklärt wurden, da bis zur Neuregelung durch den Gesetzgeber eine nicht hinnehmbare Regelungslücke entstünde, die schädlicher ist als die Verfassungswidrigkeit selbst.

Grundsätzlich wird jedoch gestritten, ob im Falle der Verfassungswidrigkeit die Rechtsfolge ihre eigene Ursache beseitigt, also ob die Unwirksamkeit des verfassungswidrigen Verfassungsrechts dazu führt, dass es von Anfang an (ex tunc) nicht existierte – also ob es so etwas wie verfassungswidriges Verfassungsrecht geben kann oder vielmehr seine Beseitigung durch die Rechtstechnik der nachträglichen Fiktion zu erfolgen habe (ex nunc „als ob von Anfang an“).

Dieses dogmatische Problem stellt sich letztlich bei jeder Rechtsfolge mit Wirkung für die Vergangenheit (vgl. Anfechtung von Rechtsgeschäften).

In Österreich ist dieses Problem durch positives Recht klar beantwortet: Hier werden (Verfassungs-)Gesetze vom Verfassungsgerichtshof als verfassungswidrig aufgehoben, die Aufhebung tritt mit Ablauf des Tages der Kundmachung in Kraft (wenn der Verfassungsgerichtshof keine andere Frist bestimmt) und ist damit bindend. Auf die vor der Aufhebung verwirklichten Tatbestände mit Ausnahme des Anlassfalles ist jedoch das Gesetz weiterhin anzuwenden, sofern der Verfassungsgerichtshof nicht in seinem aufhebenden Erkenntnis anderes ausspricht. [7]

In Österreich ist also verfassungswidriges (Verfassungs-)Recht grundsätzlich wirksam (und nicht etwa nichtig) und scheidet erst mit der Aufhebung durch den Verfassungsgerichtshof wieder aus den Rechtsbestand aus.

Siehe auch

Weblinks

Quellen

  1. vgl. Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, Änderungen des Art. 13 Grundgesetz (GG) (Großer Lauschangriff) im Hinblick auf die Menschenwürde, BVerfGE 109, 279
  2. Hinweis: Gegenwärtig entspricht der Wikipedia Artikel Rechtsstaat nicht dieser Differenzierungsdarstellung.
  3. Begründung im Fall Marbury gegen Madison
  4. vgl. etwa Art. 7 GG, 140 GG in Verbindung mit Art. 137 Abs. 1 WRV
  5. VfGH G 12/00
  6. Vergleiche dazu das Erkenntnis des VfGH in der Habsburg-Frage, VfSlg. 11.888/1988
  7. Art. 140 B-VG
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