Vergabeverfahren zur LKW-Maut in Deutschland

Vergabeverfahren zur LKW-Maut in Deutschland

Dieser Artikel behandelt das Vergabeverfahren zur LKW-Maut in Deutschland.

Inhaltsverzeichnis

Übersicht

  • Anfang 1994 stellte die Telekom-Tochter DeTeMobil zusammen mit der französischen Firma SAGEM auf einem Pressekolloquium ein „System zur automatischen Gebührenerhebung durch GSM-Mobilfunktechnik“ vor. Wenige Wochen später startete das Bundesverkehrsministerium die Planungen für einen Feldversuch auf der A 555 zwischen den Städten Köln und Bonn. Die Tests begannen noch 1994 und wurden vom TÜV Rheinland durchgeführte. Die Ergebnisse wurden als „zufriedenstellend“, das System der mobilen Autobahngebühr als „stabil und praktikabel“ bewertet.[1]
  • Im November 1995 kündigte der damalige Verkehrsminister Matthias Wissmann (CDU) die Einführung einer streckenbezogenen LKW-Maut an.
  • Im Oktober 1998 beschloss die rot-grüne Bundesregierung ein durch Maut finanziertes sog. Anti-Stau-Programm.
  • Am 7. November 1998 gab Bundesverkehrsminister Franz Müntefering (SPD) bekannt, er werde bis 2002 eine streckenbezogene LKW-Maut durchsetzen. Die Verkehrsminister aller Bundesländer begrüßten das Vorhaben einhellig. Das Mautsystem und dessen technische Infrastruktur sollte durch ein privates Unternehmen finanziert, installiert und betrieben werden.
  • Im September 1999 setzte Müntefering die Regierungskommission „Verkehrsinfrastrukturfinanzierung“ ein, nach ihrem Leiter Wilhelm Pällmann (1982–1991 im Vorstand der DB, pensioniert 1995) auch Pällmann-Kommission genannt.
  • Im Januar 2000 begann das Vergabeverfahren als Verhandlungsverfahren mit vorgeschaltetem Teilnahmewettbewerb.
  • Im September 2000 schlug die Pällmann-Kommission eine streckenabhängige Maut anstelle der bisherigen Vignette vor - geplante Gebühr: 25 Pfennig (14 Cent) pro Autobahnkilometer. Verkehrsminister war zu diesem Zeitpunkt Reinhard Klimmt (SPD), die Ausschreibung für die LKW-Maut war schon in vollem Gange, der geplante Starttermin war der 1. Januar 2003.
  • Am 15. August 2001 beschloss das Bundeskabinett die Einführung einer LKW-Maut auf deutschen Autobahnen. Die Höhe der Maut ist gestaffelt nach Achszahl und Schadstoffausstoß und soll zwischen 14 und 19 Cent pro Kilometer liegen.
  • Am 12. April 2002 trat das Gesetz zur Einführung von streckenbezogenen Gebühren für die Benutzung von Bundesautobahnen mit schweren Nutzfahrzeugen (BGBl I, Nr. 23, S. 1234) in Kraft. Es ist die rechtliche Grundlage für die Einführung der LKW-Maut.
  • Im Juli 2002 setzte sich die Bietergruppe ETC.de (Electronic Toll Collect; später Toll Collect) in dem umstrittenen Vergabeverfahren gegen konkurrierende Konsortien durch.

Die einzelnen Anbieter

  1. Die Bietergemeinschaft ETC.de aus Berlin mit der Deutschen Telekom AG, der Daimler Chrysler Services (debis) AG sowie der Compagnie Financiere et Industrielle des Autoroutes (Cofiroute S. A.), Frankreich.
  2. Die Bietergemeinschaft AGES Maut System GmbH & Co. KG aus Düsseldorf um die damalige Mannesmann AG (inzwischen Vodafone) mit der Aral AG & Co. KG, der Bundeszentralgenossenschaft Straßenverkehr e. G., der DKV Euro Service GmbH & Co. KG, der euroShell Deutschland GmbH, der Handelsgesellschaft für Kraftfahrzeugbedarf GmbH & Co. KG, der UTA Union Tank Eckstein GmbH & Co. KG.
  3. Die schweizerische Fela Management AG.

Die Motive der Anbieter

ETC.de mit DaimlerChrysler Services waren von Anfang an auf ein GPS gestütztes Mautsystem fixiert, da es sich genau in die Geschäftsfelder ihrer Tochterfirmen einpasst. So stellt die Deutsche Telekom ihr Mobilfunknetz zur Datenübertragung von den Fahrzeug-OBUs zum zentralen Buchungscomputer zur Verfügung und übernimmt die Rechnungstellung gegenüber dem Mautkunden. DaimlerChrysler wollte endlich mit dem integrierten Konzept „Maut und Mehr“ die Verkehrstelematikdienste seiner kümmernden Tochter DaimlerChrysler Services Mobility Management flächendeckend anbieten. Über das GPS-Mautsystem bestand die Möglichkeit, die für die Telematikdienste notwendigen etwa 500 Euro teuren GPS- und Mobilfunkmodule für sie kostenneutral in einen Großteil der in Deutschland verkehrenden LKW einbauen zu können. Hier sollten später Transportunternehmen die Möglichkeit haben, über die reine Mautbezahlung hinaus zusätzliche Telematik-Dienste von DaimlerChrysler gegen Entgelt zur Optimierung der Geschäftsabläufe in Anspruch zu nehmen, von der Frachtverfolgung bis hin zum Flottenmanagement. Weiterhin wollte man die technischen Standards und Schnittstellen für ein zukünftiges europäische Mautsystem definieren und besetzen.

AGES hatte schon das bis zum 31. August 2003 in Deutschland für den Schwerverkehr ab 12 t zGG geltende zeitbezogene Maut-Vignettensystem betreut. Mit Mannesmann als Mobilfunknetzbetreiber wollte es ebenfalls ein Mautsystem auf GPS-Basis einführen. Im Unterschied zu ETC.de setzte AGES beim Datenaustausch von OBU zum Zentralrechner nicht auf GSM, sondern auf GPRS.

Die Fela Management AG, gegründet 1997 in Diessenhofen/Schweiz, ist Hersteller von elektronischen Komponenten und Verkehrstelematik Systemen. Am 1. Januar 2001 startete in der Schweiz und Liechtenstein eine elektronisch erhobene, entfernungsabhängige Maut für LKW ab 3,5 t, die LSVA (Leistungsabhängige Schwerverkehrsabgabe). Fela ist Entwickler und Lieferant des dafür eingesetzten Gebührenerfassungsgerätes Tripon.

Im Gegensatz zur deutschen LKW-Maut wird die LSVA auf allen Schweizer Straßen fällig, nicht nur auf den Autobahnen. Das erleichtert die technische Umsetzung ganz erheblich. Das Tripon System muss dabei nur feststellen, welche Entfernungen innerhalb eines Mautpflichtigen Gebietes zurückgelegt wurden und nicht - wie beim deutschen System - welche Straßentypen dabei benutzt wurden. Die bisherigen Erfahrungen sind laut Schweizer Bundesamt für Raumentwicklung durchweg positiv.

Das von ihr für Deutschland vorgesehene Mautsystem hätte auf der DSRC-Technik basiert. Hier werden die Fahrzeuge mit einem relativ billigen Transponder (Herstellungskosten etwa 40 EUR) versehen. Die mautpflichtigen Fahrzeuge durchfahren mit diesem elektronischen Kennzeichen Mautbrücken, die jeweils zwischen einer Auffahrt und der nächsten Abfahrt einer mautpflichtigen Straße aufgestellt sind. Die Nachteile der höheren Infrastrukturkosten sollten durch die günstigeren Betriebskosten kompensiert werden. In der Schweiz liegen die Betriebskosten bei etwa 8 %. Irrtümlicherweise wird oft davon ausgegangen, dass diese 8 % mit der schweizer Technik auch in Deutschland angefallen wären. Das konkrete Angebot der Fela Management AG bewegte sich jedoch im absolut identischen Rahmen von Toll Collect: es sah jährliche Betriebskosten von 630 Millionen Euro vor, also ebenso grob 25 % der jährlichen Einnahmen.[2]

Die Motive der Auftraggeber

Etliche Kommentatoren vermuteten bereits im Jahr 2001, dass der Ausgang des Verfahrens längst feststehen würde und sahen in der Vergabe an ETC.de die Bemühung, den Börsenwert der Telekom zu stützen.[3]

Andere gehen davon aus, dass die Politik Aufgabenfelder für das geplante europäische Satellitenprojekt Galileo suchte: Die EU-Kommission war 2003 bemüht, für eine zukünftige, EU-weite LKW-Maut ab 2012 generell ein satellitengestütztes System vorzuschreiben.

Unumstritten ist, dass das Bundesverkehrsministerium mit dem Aufbau des Systems nicht nur Maut erheben möchte:

Deutschland wird mit der weitgehend automatischen Erhebung der LKW-Maut zum technologischen Vorreiter in Europa und weltweit. Dies eröffnet neue Marktchancen für die Industrie und sichert Arbeitsplätze. Die weltweit erstmalige Realisierung eines solchen Systems kann in Deutschland zudem auch auf anderen Feldern der Informationstechnologie einen Innovationsschub auslösen.
Bundesministerium für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen, Fakten zur LKW-Maut, 2003 - 2004.

Diese Art der Industriepolitik des Bundesverkehrsministeriums verleitet viele Journalisten immer wieder zu Vergleichen zwischen der Mauteinführung und dem Transrapid.

Die Anbieter und das Vergabeverfahren

Die Ausschreibung zur LKW-Maut wurde von der Arbeitsgemeinschaft Beratergruppe LKW-Maut (BLM) verfasst. Die Kölner TÜV InterTraffic GmbH (eine Tochter des TÜV Rheinland) und das Beratungsunternehmen PricewaterhouseCoopers waren dabei für die IT-Technik zuständig. Im Dezember 2003 wurde bekannt, dass für die externe Beratung Honorarkosten in Höhe von 15,6 Mio. Euro entstanden.[4]

Das Verfahren war als Verhandlungsverfahren mit vorgeschaltetem Teilnahmewettbewerb ausgestaltet, nach § 3 a Nr. 1 Abs. 4 Buchst. c in Verbindung mit § 3 a Nr. 1 Abs. 3 Satz 2 VOL/A. Nur der erste, allgemeine Teil der Ausschreibung war öffentlich und wurde im Dezember 1999 im Bundesausschreibungsblatt und im Januar 2000 im Supplement zum Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften veröffentlicht.

Nach Ablauf der Einsendefrist, dem 17. Februar 2000, hatten 6 Unternehmen, beziehungsweise Unternehmensgruppen einen Antrag auf Teilnahme an dem Verfahren gestellt. Davon wurden 5 Konsortien aufgefordert, bis zum 31. Januar 2001 ein Angebot abzugeben. Diese 5 Bewerber bekamen unter Verschwiegenheitverpflichtung vertrauliche Unterlagen mit den Ausschreibungsdetails, die bis heute geheim gehalten werden.

Unter den fünf potentiellen Anbietern, sollen sich auch die Siemens AG und Gedas, die Telematik-Tochter der Volkswagen AG, befunden haben. Es reichten jedoch nur drei konkrete Anbieter fristgerechte Angebote ein.

Mai 2001: Ausschluss der Fela AG

Am 14. Mai 2001 schloss das Verkehrsministerium die Fela Management AG aus dem Verfahren aus. Begründung: Die Gesellschafterstruktur des Konsortiums habe sich (durch das Ausscheiden von ThyssenKrupp) geändert, weshalb die Finanzierung des Projektes nicht gesichert sei. Die war nötig zum Systemaufbau und um potentielle Vertragsstrafen bezahlen zu können. Nachvollziehen konnten das die Schweizer nicht: Hinter ihrem Konzept stünden große Banken.

Ein am 29. Juni 2001 gestellter Nachprüfungsantrag beim Bundeskartellamt gegen diese Entscheidung wurde am 25. Juli 2001 aus formalen Gründen als unzulässig abgewiesen (VK2-20/01): Fela hatte eine Rüge gegen den Ausschluss gegenüber der Vergabestelle 3 Tage zu spät vorgetragen.

Später erklärte Geschäftsführer Ernst Uhlmann in einem Interview, dass sein Unternehmen nur auf ausdrückliches Drängen des Bundesverkehrsministeriums an der Ausschreibung teilgenommen hätte. Journalisten mutmaßten, dass die mittelständische Fela Management AG nie ernsthaft als Betreiber in Betracht gezogen wurde und nur als „Zählkandidat“ diente, um die Anzahl der Anbieter zu erhöhen.[5]

August 2001: AGES fliegt aus dem Verfahren - und klagt sich wieder hinein

Am 17. August 2001 wurde der AGES der Ausschluss vom Vergabeverfahren mitgeteilt. Begründung: es fehle der Nachweis, dass die Projektgesellschaft über genügend finanzielle Mittel verfüge.

Faktisch bedeutete das den Zuschlag für ETC.de, Toll Collect.

AGES beantragte am 29. August 2001 ein Nachprüfungsverfahren beim Bundeskartellamt in Bonn. Der Antrag wurde am 18. Oktober 2001 als unbegründet abgelehnt (VK2-32/01). Doch der von der AGES Anfang November 2001 angerufene Vergabesenat beim Oberlandesgericht Düsseldorf entschied dann am 21. Dezember 2001 in letzter Instanz, dass das Verkehrsministerium das Konsortium zu Unrecht vom Vergabeverfahren ausgeschlossen hatte. Fazit: „Das Verfahren wird auf den Stand vom 17. August 2001 zurückgesetzt.“

Der zu diesem Zeitpunkt noch geplante Start der LKW-Maut am 1. Januar 2003 war damit nicht mehr zu halten.

Herbst 2001: TSR reicht Konzept zu spät ein

Ein erst im Herbst 2001, also zu spät, eingereichtes Konzept von Prof. Dipl. Ing. Heinrich Schüssler, Erfinder und Geschäftsführer der TSR-Verkehrsmanagement-Systeme, wurde vom Bundesverkehrsministerium nicht mehr berücksichtigt. Sein Mautsystem versprach Einsparungen von 500 Millionen € pro Jahr gegenüber der favorisierten ETC-Lösung. Ein entsprechender Auftrag zur Prüfung an den Bundesrechnungshof wurde von der rot-grünen Mehrheit im Bundestags-Haushaltsausschuss abgelehnt.

September 2002: Der Deal mit Ages/Vodafone

Am 10. Juni 2002 verkündete das Bundesministerium für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen, dass zunächst mit dem Bieterkonsortium ETC.de über die Erteilung des Auftrages zum LKW-Mautsystems abschließend verhandelt werden soll, ETC galt als der „preferred bidder“. Das Ministerium gab schließlich am 8. Juli 2002 seine endgültige Entscheidung für ETC.de bekannt.

Das Ages-Konsortium unterlag, weil es den Kostenaufwand für die On-Board-Units (OBU) und Maut-Terminals beträchtlich höher als ETC.de kalkuliert hatte und mit dem Gebot um einige hundert Millionen Euro über deren Angebot lag.

Die unterlegene Ages stellte zum zweiten mal einen Nachprüfungsantrag beim Bundeskartellamt. Ages kritisierte das Vergabeverfahren und bezweifelte die Leistungsfähigkeit des Angebotes von ETC.de (Toll Collect). Das verhinderte den sofortigen Zuschlag für das Telekom/DaimlerChrysler-Konsortium durch das Bundesverkehrsministerium (Vergabestelle). Der Antrag wurde jedoch am 4. September 2002 von der zweiten Vergabekammer abgewiesen.

Ages legte gegen die Entscheidung des Bundeskartellamtes Beschwerde beim Düsseldorfer Oberlandesgericht ein. Das Gericht gab am 19. September 2002 der Beschwerde des Ages-Konsortiums statt. Diese Entscheidung hatte aufschiebende Wirkung und verhinderte erneut die Vergabe des Maut-Auftrages an Toll Collect.

Ages zog seine Beschwerde jedoch bereits ein Tag später, am 20. September 2002 wieder zurück. Der Grund laut Ages: Toll Collect plane, „bestimmte geschäftliche Leistungen der Ages Maut System GmbH & Co KG bei der Realisierung des neuen dualen Maut-Systems auf Grund der Sachkompetenz und der Expertise beim gegenwärtigen manuellen System einzubinden“. Das bedeutet, Ages, oder besser Vodafone, wird am Aufbau des Mautsystem partizipieren. Klaus Mangold, Vorstandsvorsitzender der DaimlerChrysler Services, sprach von einem Anteil unter 20 % und betonte, ETC sei von Ages mit dem Rechtsstreit nicht erpresst worden.[6]

Am 1. Juli 2002 war der ursprünglich für 1. Januar 2003 geplante Starttermin bereits um ein halbes Jahr, auf den 1. Juli 2003 verschoben worden. Aber selbst dieses Datum war jetzt nicht mehr realistisch.

Die Vertragsunterzeichnung

Noch am selben Tag der Einigung zwischen ETC und Ages, am 20. September 2002, 2 Tage vor der Bundestagswahl, kam es zur Vertragsunterzeichnung zwischen Bundesverkehrsministerium und Toll Collect. Als Ort für Unterzeichnung und Beurkundung des 17.000 Seiten starken Dokumentes wurde nicht Deutschland, sondern die Stadt Zug in der Schweiz gewählt, ohne dass dies publik gemacht wurde.[7] Bundesverkehrsminister war zu diesem Zeitpunkt Kurt Bodewig (SPD). Der vereinbarte Starttermin war der 31. August 2003. Wie man heute weiß, wurden außerdem einige Zwischentermine (Milestones) festgelegt:

  • bis 21. Mai 2003 sollte das System stehen
  • bis 15. Juni 2003 dessen Funktion überprüft sein
  • bis Mitte August 2003 sollte der Probebetrieb laufen

Keiner dieser Termine konnte von Toll Collect eingehalten werden.

Die Vertragsdetails werden geheim gehalten und sind selbst für die Abgeordneten des Deutschen Bundestages nicht zugänglich. Der Antrag von Jörg Tauss (MdB, SPD) Anfang 2006, den Vertrag unter Berufung auf das Informationsfreiheitsgesetz einzusehen, wurde abgelehnt. Eine um die Geschäftsgeheimnisse von Toll Collect bereinigte Version zu erstellen, lehnte das Verkehrsministerium „mangels Sachverstands“ ab.[8]

Systembedingte Herausforderungen in einem GPS-Mautsystem

Der Geschäftsführer der ausgeschlossenen Schweizer Fela Management AG kritisiert ein reines GPS-Mautsystem als nicht abrechnungs- und betrugssicher. Zum gleichen Ergebnis kam offensichtlich auch der österr. Straßenbetreiber ASFINAG im Zusammenhang mit der Einführung der LKW-Maut in Österreich auf Basis der DSRC-Technik. Möglicherweise fußt die Entscheidung der ASFINAG auf einem von ihr 1999 bei der Rapp AG aus Basel (Schweiz) in Auftrag gegebenen Gutachten. In dieser Expertise werden die potenziellen Mängel eines GPS-Mautsystems beschrieben:

  • Wegen der hohen Geräte- und Einbaukosten (Anm.: 500 bzw. 250 Euro) kann keine OBU-Pflicht durchgesetzt werden. Fahrzeuge ohne Erfassungsgerät sind aber für das System auf den langen Streckenabschnitten zwischen den Kontrollbrücken nicht erkennbar.
  • Das Mautsystem kann wegen der vor genannten hohen Kosten nicht ohne weiteres auf eine PKW-Maut ausgeweitet werden.
  • Die einfache Abschattung der GPS-Antenne unterbricht die sichere Gebührenerfassung.
  • Weltweit gibt es keine Gebührenabrechnung, die auf GPS basiert. Somit ist der Ausgang von Gerichtsverhandlungen bezüglich der Abrechnungen völlig offen.
  • Die einzelne Kontrollbrücke kann nur prüfen, ob auf der Strecke von der letzten Auffahrt bis zur Kontrollbrücke die Maut bezahlt wurde, da sie nicht weiß, ob das Kfz schon auf einem vorherigen Streckenabschnitt die Autobahn befahren hat.
  • Verhindern Datenschutzauflagen die Speicherung einer Fahrtroute, ist es möglich, dass nur die Streckenabschnitte mit Kontrollbrücken bezahlt werden.
  • Die Kontrollbrücken haben bei Fahrzeugen ohne OBU nur eine maschinelle Kennzeichenlesefähigkeit (OCR) von etwa 80 %, da das gespeicherte elektronische Kennzeichen der OBU zum Abgleich fehlt.
  • Anhand der von den Kontrollbrücken fotografierten ausländischen Kennzeichen von LKW ohne OBU können nachträglich weder der Fahrzeughalter noch die zur Mautprüfung wesentlichen Fahrzeugdaten ermittelt werden.

Das Gutachten schließt mit der Anmerkung, dass für ein GPS/GSM-Mautsystem keine Vorteile, jedoch gravierende Nachteile und Probleme bestehen. Diese liegen nicht nur im technischen Bereich der Gebührenerfassung, sondern vor allem in den ablauftechnischen Bereichen des Gesamtsystems wie der Kontrolle, der Behandlung nicht ausgerüsteter Benutzer oder einer für den Benutzer (und für die Gerichte!) untransparenten Erfassung.

Immer wieder wird die Tatsache vergessen, dass bei einem solchen System auch nicht ausgerüstete Fahrzeuge unterwegs sind. Wegen diesen Fahrzeugen (die gemäß EU absolut gleich behandelt werden müssen; Freier Zugang) muss ein flächendeckendes und sehr teures Vertriebsnetz angeboten werden. Ebenfalls verunmöglicht der gewählte alternative Systemzugang, die Einbuchungslösung, eine zeitabhängige Mauterhebung. So kann aus diesem Grunde nie ein Peak-Hour-Charging angewendet werden, obwohl die OBU dies ermöglicht. Im gewählten Ansatz von Österreich ist dies beispielsweise möglich.

Kritiker bemängeln auch die hohen Betriebskosten des deutschen Systems, so erhält der Betreiber Toll Collect etwa 20 bis 25 % der Mauteinnahmen. Beim Schweizer Mautsystem (LSVA) ist dagegen von nur 8 % die Rede.

Andere weisen darauf hin, dass spezielle Störsender für das benötigte Satellitensignal, sog. GPS-Jammer existieren, mit denen das Abrechnungssystem möglicherweise sabotiert werden könnte.

Das Worst-Case-Szenario einer Expertenschätzung sieht im Falle des technischen Scheiterns dieses Mautsystems Schäden von 4,8 Mrd. Euro vor.[9]

Mindestens bis zur Einführung der OBU-2, geplant zum 1. Januar 2006, können keine durch „Mautflüchtlinge“ belastete Bundes- und Landstraßen in das Mautsystem aufgenommen werden, da das OBU-1 in der ersten Stufe der Mauteinführung (1. Januar 2005 bis 1. Januar 2006) keine Änderungen der abgespeicherten Mautkoordinaten zulässt. Ähnliche Tatsachen führen derzeit im österreichischen Mautsystem zu großen Protesten in der Bevölkerung.

Anfang Juni 2004 wurde bekannt, dass die Tarifinformation (12,4 Cent pro gefahrener Kilometer) nicht variabel angelegt ist und zum Beispiel per Funk zu den Geräten übertragen wird. Sie wird stattdessen fest in den OBUs gespeichert. Eine Änderung, selbst um zehntel Cent, würde einen Ausbau aller OBUs in der Werkstatt mit folgender Umprogrammierung nach sich ziehen. (tagesschau, „Maut-Erhöhung hängt an EU-Entscheidung“).

Um sicherzustellen, dass ein deutsches GPS-Mautsystems funktioniert, investierte das Bundesverkehrsministerium vor der Einführung der Lkw-Maut 15,6 Millionen Euro in externe Beraterfirmen. Hinzu kommen für die eigens eingerichtete „Beratergruppe Lkw-Maut (BLM)“ bis 2006 zusätzliche Kosten in Höhe von 7,8 Millionen Euro.[10]

Das Scheitern der Mauteinführung 2003

Zum festgesetzten Starttermin, dem 31. August 2003, konnte die Erfassung der Gebühr nicht beginnen, da zahlreiche Probleme beim Aufbau des Systems bestanden und weiterhin bestehen.

Als neuer Termin wurde von Verkehrsminister Manfred Stolpe der 2. November 2003 festgesetzt, bis dahin sollte eine nicht gebührenpflichtige Testphase stattfinden. Im Rahmen eines Krisengipfel des Bundesverkehrsministers mit Vertretern der Industrie am 5. Oktober 2003 in Berlin wurde jedoch auch dieser Termin gekippt. Die Einführung des Systems war damit auf unbestimmte Zeit verschoben.

Ein Sprecher des Bundesverkehrsministeriums sprach Anfang November 2003 von 86 bekannten Fehlern im Mautsystem.[11] Veröffentlicht wurden sie nicht, etliche Probleme und Fehler sind allerdings bekannt:

  • Lieferengpässe und Fehlfunktionen der On-Board-Units, dem Kern des Abrechnungssystems.
  • Nicht alle Messbrücken wurden rechtzeitig fertiggestellt.
  • Es stehen noch nicht genügend Automaten, sog. Mautstellen-Terminals, für das manuelle Einbuchen zur Verfügung.
  • Die Maut-Terminals stürzten aufgrund von Software-Fehlern ab.
  • An den Maut-Terminals stehen zu wenig Fremdsprachen für die Bedienung durch ausländische LKW-Fahrer zur Verfügung, im Regelfall nur die Sprachen Deutsch, Englisch, Französisch und Polnisch.
  • Schwierigkeiten bei der Systemintegration, dem korrekten Zusammenspiel aller Hardware- und Software-Komponenten.

Die Bundesregierung bezifferte den Ausfall bereits budgetierter Einnahmen auf mindestens 156 Millionen Euro pro Monat. Die CDU-Opposition machte Stolpe persönlich für die Verzögerungen verantwortlich und forderte seinen Rücktritt.

Die Verhandlungen nach dem Scheitern

Am 13. Dezember 2003 scheiterten die Verhandlungen zwischen dem Bundesverkehrsministerium und Toll Collect. Der Sprecher des Bundesverkehrsministeriums erklärte in Berlin, Toll Collect habe keinen neuen Termin für die Mauteinführung genannt und sei auch in Frage der Einnahmeausfälle zu keinem Entgegenkommen bereit gewesen. Zuvor hatten Vertreter von Telekom und DaimlerChrysler in Presseinterviews von einem „Zeitfenster drittes Quartal 2004“ gesprochen.

Am 18. Dezember 2003 tagte der Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages. Mit den Stimmen aller Fraktionen wurde beschlossen, dass der Vertrag mit Toll Collect zu kündigen sei, falls bis zum 31. Dezember 2003 kein verbindlicher Termin zur Einführung der Lkw-Maut genannt werden sollte und Toll Collect nicht bereit sei, die entstandenen Einnahmeausfälle des Bundes zu begleichen. Bundesverkehrsminister Manfred Stolpe kündigte zunächst an, sich an diese Vorgabe zu halten.

Am 26. Dezember 2003 verlängerte Stolpe jedoch überraschend die Verhandlungsfrist mit Toll Collect um einen weiteren Monat. Der mögliche Kündigungstermin verschob sich damit auf Ende Januar 2004.

Am 27. Januar 2004 legte Toll Collect dem Verkehrsministerium neue Projektpläne vor. Das System soll in zwei Stufen Ende Dezember 2004 und endgültig bis Ende 2005 eingeführt werden. Für den Fall weiterer Verzögerungen bietet Toll Collect eine Höchsthaftung von maximal 500 Millionen Euro an.

Am 15. Februar 2004 scheiterten mehrtägige Verhandlungen zwischen Stolpe und der Toll-Collect-Führung.

Am 17. Februar 2004 gab Verkehrsminister Manfred Stolpe auf einer Pressekonferenz in Berlin die Kündigung des Vertrages bekannt. Damit lief eine zwei Monate dauernde Frist an. Das Mautsystem sollte neu ausgeschrieben, die alte Maut-Vignette zwei Monaten später als Interimslösung wieder eingeführt werden.

Am 29. Februar 2004 verkündete Bundeskanzler Gerhard Schröder eine Einigung mit den Anteilseignern von Toll Collect DaimlerChrysler und Telekom. Kern der Vereinbarungen war die Einführung der LKW-Maut mit eingeschränkter Funktionalität zum 1. Januar 2005. Am 1. Januar 2006 soll das Mautsystem dann im vollen Umfang funktionsfähig sein. Die Haftung wurde bei einer Milliarde Euro gedeckelt, die Telekom erhält mehr Gewicht. Siemens steigt stärker in das Projekt ein: Das Unternehmen soll die Verantwortlichkeit für die technische Projektkoordination der On-Board-Unit 2 übernehmen, die ab 2006 den Betrieb der Vollversion sichern soll.

Am 11. März 2004 wurde bekannt, dass die CDU einen FDP-Antrag auf Einrichtung eines Bundestags-Untersuchungsausschusses zur LKW-Maut nicht unterstützen wird. Da damit das notwendige Quorum von mindestens einem Viertel der Bundestagsabgeordneten nicht zustande kam, wurde kein entsprechender Ausschuss eingesetzt.

Am 16. Mai 2004 veröffentlichte Toll Collect eine Pressemitteilung, dass „unabhängige Sachverständige“ bestätigt hätten, 99,2 Prozent aller Autobahnabschnitte würden vom Mautsystem korrekt erfasst. Auch an den rund 6.000 Ein- und Ausfahrten arbeite das System mit einer Erkennungsquote von 98,9 Prozent.

Mitte Juni 2004 verkündete Toll Collect, dass ein Systemtest mit 41 Fahrzeugen vom 8. bis 21. Mai eine gutachterlich testierte Zuverlässigkeit von 99,6% erbracht hätte. Aufgrund dieses Sachverständigengutachtens könne nun mit dem Versand und dem Einbau der Fahrzeuggeräte (OBUs) begonnen werden. Diese Meldung wurde von zahlreichen Medien ohne weitergehende Prüfung übernommen. Unklar ist, wie der Wert von 99,6 % zustande kam und um welche Sachverständige es sich dabei handelte - Toll Collect verweigerte dazu jede Auskunft. Journalisten vermuteten die „unabhängigen Gutachter“ in den Reihen des TÜV Rheinland, der bereits an der Ausschreibung zur LKW-Maut beteiligt war.[12]

Anfang Juli 2004 bestätigte ein Sprecher des Bundesverkehrsministeriums einen Zeitungsbericht, dass der Bund mit der Forderung von Schadensersatz in Höhe von 3,7 Mrd. Euro (bis Januar 2005) in die Schiedsgerichtsverhandlung mit Toll Collect gehen werde. Ansonsten „...gibt es derzeit keinen Grund zur Annahme, dass der 1. Januar 2005 gefährdet ist“. Kritischer sah dies der Vorsitzende vom Bundesverband Logistik Güterverkehr und Entsorgung (BGL), Karlheinz Schmidt in einem Interview mit der Berliner Zeitung: „Wenn ich wetten müsste, würde ich tippen, dass die Maut im Januar nicht kommt“.

Weblinks

Nicht nur die Verträge mit Toll Collect, vom September 2002 waren geheim. Bereits die Ausschreibungsunterlagen zum Mautsystem, die nach dem 17. Februar 2000 den fünf möglichen Anbietern zur Verfügung gestellt wurden, waren geheim.

Folgende Dokumente betreffen Entscheidungen in den Nachprüfungsanträgen bei der Vergabekammer des Bundeskartellamtes in Bonn[13], die von den ausgeschlossenen Bietern gestellt wurden. Sie sind möglicherweise die einzige öffentlich zugängliche Informationsquelle, aus denen sich Rückschlüsse auf die Ausschreibung zum Mautsystem ziehen lassen. Die pdf-Dokumente sind anonymisiert und teilweise geschwärzt (Auslassungen). Inhalt und Verfahrensbeteiligte mussten recherchiert werden und sind bei den Links angegeben.

Übrigens waren alle (3) Nachprüfungsanträge erfolglos, alle (2) Klagen vor dem OLG-Düsseldorf gegen diese Entscheidungen wiederum erfolgreich.

Quellen

  1. heise mobil
  2. vgl. unter anderem http://www.wz-newsline.de/sro.php?redid=59101 letzter Absatz
  3. Computerwoche, 14. Dezember 2001
  4. NDR Online
  5. ARD-plusminus
  6. AFP
  7. spiegel online
  8. Verträge zur LKW-Maut bleiben geheim heise newsticker.
  9. heise.de
  10. Deutscher Bundesrat, Drucksache 684/04
  11. FTD
  12. heise.de
  13. Vergabekammer des Bundeskartellamtes in Bonn

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