Vertragsverletzungsverfahren

Vertragsverletzungsverfahren

Durch den EG-Vertrag werden in den Europäischen Gemeinschaften insgesamt fünf verschiedene Verfahrensarten festgelegt, die vor dem Europäischen Gerichtshof behandelt werden können.

Inhaltsverzeichnis

Vertragsverletzungsverfahren

In Art. 226 EG ist das Vertragsverletzungsverfahren geregelt. Mitgliedstaaten und die Kommission können Verstöße eines Mitgliedstaates gegen das EG-Recht geltend machen. Klageberechtigt sind entweder die Europäische Kommission oder ein Mitgliedstaat.

Die Aufsichtsklage der Kommission spielt eine große Rolle bei der Aufrechterhaltung der Gemeinschaftsrechtsordnung. Die Kommission ist als Hüterin der Verträge (Art. 211 EG) grundsätzlich verpflichtet, gegen objektive Verletzungen des Gemeinschaftsrechts durch die Mitgliedstaaten einzuschreiten. Bei drohender oder bereits eingetretener Vertragsverletzung leitet die Kommission nicht sofort das Verfahren nach Art. 226, sondern versucht zunächst auf dem Verhandlungsweg eine gütliche Einigung zu erzielen. Das Verfahren selbst ist in ein Vorverfahren und ein gerichtliches Verfahren unterteilt. Das außergerichtliche Vorverfahren ist grundsätzlich Zulässigkeitsvoraussetzung für die Klageerhebung beim Gerichtshof. Es dient der weiteren Aufklärung des Sachverhalts und der förmlichen Anhörung des Mitgliedstaates. Dieses ist weiter unterteilt in zwei Abschnitte: 1) Mahnschreiben und 2) mit Gründen versehene Stellungnahme. Vorverfahren und gerichtliches Verfahren müssen denselben Streitgegenstand haben, so dass schon das Mahnschreiben den Gegenstand des eventuellen künftigen Verfahrens endgültig eingrenzt.

Nichtigkeitsklage

Mit der Nichtigkeitsklage (auch Anfechtungsklage) nach Art. 230 Abs. 2 EG können die Gemeinschaftsorgane überwacht werden. Mitgliedstaaten, Organe der EG und natürliche und juristische Personen können durch Klage feststellen lassen, dass ein Rechtsakt rechtswidrig ist. Individualpersonen müssen unmittelbar, individuell und gegenwärtig betroffen sein, um Klagebefugnis zu erlangen. Die Klage ist gemäß Artikel 230 Abs. 5 EG innerhalb einer Frist von zwei Monaten zu erheben.

Nach französischen Vorbild sind nur bestimmte abschließend aufgezählte Anfechtungsgründe ("cas d'ouverture") zugelassen (Art. 230 Abs. 2 EGV): Unzuständigkeit, Verletzung wesentlicher Formvorschriften, Vertragsverletzung oder Verstoß gegen eine sonstige Rechtsquelle der Gemeinschaft und Ermessensmissbrauch. Der Kläger muss sich zwar nicht ausdrücklich auf einen dieser Klagegründe berufen, seine Klageschrift muss aber den behaupteten Mangel mit Tatsachen belegen und den Anfechtungsgrund zumindest "erkennen lassen".

Untätigkeitsklage

Durch eine Untätigkeitsklage nach Art. 232 EG kann festgestellt werden, dass es Rat, Kommission oder Parlament unterlassen haben, einen bestimmten Rechtsakt zu erlassen. Klageberechtigt sind die Mitgliedstaaten, die Organe der EG und unter bestimmten Voraussetzungen auch Individualpersonen.

Amtshaftungsklage

Die Amtshaftungsklage nach Art. 235 EG dient der Kompensation für erlittene Schäden durch Amtspflichtverletzungen von Gemeinschaftsorganen. Sie ist nur im Bereich der deliktischen Haftung der Gemeinschaft zulässig.

Vorabentscheidungsverfahren

Durch ein Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 234 EG kann die Wahrung der einheitlichen Anwendung und Geltung des Gemeinschaftsrechts sichergestellt werden. Nationale Gerichte können dabei Vorfragen über die Auslegung des Gemeinschaftsrechts oder die Gültigkeit des sekundären Gemeinschaftsrechts dem Europäischen Gerichtshof vorlegen. Entscheidet das nationale Gericht in letzter Instanz, so ist es zur Vorlage verpflichtet. Die Frage muss von entscheidungserheblicher Bedeutung sein, also Auswirkungen auf den Tenor haben. Die Vorlageverpflichtung kann entfallen, wenn die Frage im Sinne der Acte-clair-Theorie bereits eine gesicherte Rechtsprechung durch den EuGH erfahren hat. Sofern ein nationales Gericht die Vorlagepflicht verletzt kann dies eine Rechtsverweigerung darstellen und eine Verletzung des Justizgewährungsanspruches (Justizgrundrecht) nach Art. 101 GG im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht geltend gemacht werden.

Literatur

  • Martin Borowski: Die Nichtigkeitsklage gem. Art. 230 Abs. 4 EGV. In: Europarecht (EuR). 39. Jg. (2004), 2. Halbbd., H. 6, S. 879-910.
  • Matthias Pechstein: EU-/EG-Prozessrecht. Unter Mitarbeit von Matthias Köngeter und Philipp Kubicki. 3. Aufl. Tübingen: Mohr Siebeck 2007. ISBN 978-3-16-149269-3
  • Hans-Werner Rengeling / Andreas Middeke / Martin Gellermann (Hrsg.): Handbuch des Rechtsschutzes in der Europäischen Union. 2. Aufl. München: C.H. Beck 2003. ISBN 3-406-47838-7

Siehe auch

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