Vertreibung von Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg

Vertreibung von Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg
Flüchtlinge verlassen am 19. Oktober 1944 den Hafen von Windau.

Als Heimatvertriebene werden diejenigen deutschen Staatsangehörigen oder deutschen Volkszugehörigen bezeichnet, die als Folge des Zweiten Weltkrieges ihre Heimat in den damaligen deutschen Ostgebieten (in den Grenzen von 1914 und 1937) oder den Gebieten Österreich-Ungarns verlassen mussten und in dem damals restlichen Teil Deutschlands (der späteren Bundesrepublik Deutschland und DDR) sowie in Österreich aufgenommen wurden.[1]

Inhaltsverzeichnis

Rechtliche Stellung in Deutschland

Flüchtlinge aus dem Osten 1945 in Berlin

Die Rechtstellung der Heimatvertriebenen ist durch das Bundesvertriebenengesetz (BVFG) geregelt worden, das auch eine Rechtsdefinition des Begriffes „Heimatvertriebener“ enthält, die von der Selbstbezeichnung der landsmannschaftlich organisierten Heimatvertriebenen abweicht.

§ 2 des BVFG sagt dazu sinngemäß aus:

  • Ein Heimatvertriebener ist, wer am 31. Dezember 1937 oder bereits einmal vorher seinen Wohnsitz in dem Gebiet desjenigen Staates hatte, aus dem er vertrieben worden ist (Vertreibungsgebiet) und dieses Gebiet vor dem 1. Januar 1993 verlassen hat; die Gesamtheit der ehemals unter fremder Verwaltung stehenden deutschen Ostgebiete und die Gebiete außerhalb der Grenzen des Deutschen Reiches nach dem Gebietsstande vom 31. Dezember 1937, die am 1. Januar 1914 zum Deutschen Reich oder zur Österreichisch-Ungarischen Monarchie oder zu einem späteren Zeitpunkt zu Polen oder zu Litauen gehört haben, gilt als einheitliches Vertreibungsgebiet.
  • Als Heimatvertriebener gilt auch ein vertriebener Ehegatte oder Abkömmling, der die Vertreibungsgebiete vor dem 1. Januar 1993 verlassen hat, wenn der andere Ehegatte oder bei Abkömmlingen ein Elternteil am 31. Dezember 1937 oder bereits einmal vorher seinen Wohnsitz im Vertreibungsgebiet gehabt hat.

Vertreibung und Situation in der Nachkriegszeit

Das Vertreibungsgebiet in den deutschen Ostgebieten
Denkmal für heimatvertriebene Südmährer – Bezirk Znaim an der Thaya

Der Begriff Vertreibung bezeichnet in Bezug auf die deutsche Bevölkerung eine Vielzahl verschiedener Arten erzwungener Migration am Ende und in Folge des Zweiten Weltkriegs.

Bereits vor Kriegsende kam es mit dem Vormarsch der Roten Armee zu großen Flüchtlingsströmen aus den Ostgebieten des Deutschen Reichs (Ostpreußen, Pommern, Schlesien, Ostbrandenburg) und dem annektierten Sudetenland. Diese waren behördlicherseits angeordnet oder wurden ausgelöst durch Berichte über Plünderungen, gewaltsame Willkürakte sowie Massenvergewaltigungen durch die vorrückenden Soldaten.

Seit Oktober 1944 fanden die sogenannten wilden Vertreibungen durch die ortsansässige andersnationale Bevölkerung oder die nun ankommenden Neusiedler statt, die oft ihrerseits selbst vertrieben worden waren. Das Potsdamer Abkommen legte schließlich fest, dass die Ausweisung der Deutschen „in ordnungsgemäßer und humaner Weise“ zu erfolgen habe, wodurch sich die Bedingungen der abschließenden, oft als organisiert bezeichneten Vertreibung der deutschen Bevölkerung etwas besserten.

Das Statistische Bundesamt ermittelte 1950 eine Gesamtzahl von etwa 12 Millionen Vertriebenen in den beiden deutschen Staaten. Aufgrund der Differenz zwischen der Wohnbevölkerung der Vertreibungsgebiete Ende 1944 und den 1950 erfassten Vertriebenen ermittelte das Statistische Bundesamt 2,2 Millionen „ungeklärte Fälle“, die als „Vertreibungsverluste“ oft mit Todesopfern gleichgesetzt werden. Das Bundesarchiv berichtete 1974 von mindestens 600.000 Todesopfern in unmittelbarer Folge der Verbrechen im Zusammenhang mit der Vertreibung.[2] Problematisch ist dabei, dass z. B. für die Tschechoslowakei 130.000 Todesopfer angegeben werden, wohingegen die Deutsch-Tschechische Historikerkommission „nur“ 15-30.000 Vertreibungsopfer anführt[3]. Bei den genannten Zahlen wurden jedoch die Menschen nicht mitgezählt, die in der unmittelbaren Nachkriegszeit auf den Fluchtwanderungen oder in den Notunterkünften in Deutschland oder bei Deportationen in die Sowjetunion aufgrund von Erschöpfung und Entkräftung, mangelnder Hygiene, unzureichender Ernährung oder mangelndem Heizmaterial starben. Die Frage, inwieweit diese Todesopfer in der Gesamtzahl der Vertreibungsopfer berücksichtigt werden soll, ist umstritten. Während z. B. der Berliner Historiker Ingo Haar[4] dem Bund der Vertriebenen [5] vorwirft, bewusst mit überhöhten Opferzahlen zu argumentieren, bemängelt der Freiburger Historiker Rüdiger Overmans[6] einerseits eine politische Instrumentalisierung der Zahlen und andererseits, dass die Fachwissenschaftler bisher der Zahlendiskussion aus dem Weg gegangen seien.

Bald nach Ende des Krieges formierten sich in Deutschland und Österreich Gemeinschaften der Heimatvertriebenen. In der Regel bildete die gemeinsame Herkunft das verbindende und tragende Element. Es wurden Organisationen und Verbände gebildet (Landsmannschaften). In Deutschland bildete sich als Dachorganisation der Heimatvertriebenen der Bund der Vertriebenen. Er umfasst 21 Landsmannschaften, worunter die mitgliederstärksten die Sudetendeutsche Landsmannschaft und die Schlesische Landsmannschaft sind. Ab Ende der 40-er Jahre fanden dann auch in jährlicher Folge Bundestreffen der Vertriebenenverbände statt. Bekannt sind hier die großen Pfingsttreffen. In der Charta der deutschen Heimatvertriebenen von 1950 verzichteten diese auf Rache und Vergeltung.

In Österreich fanden etwa 430.000 Vertriebene Aufnahme. Hier entstand bereits im Jahr 1945 der Verband der Volksdeutschen Landsmannschaften.

Deutschland und Österreich sahen sich in der Pflicht, den Vertriebenen als besonders betroffener Bevölkerungsgruppe Hilfe zu leisten. In beiden Ländern wurden Lastenausgleichsgesetze erlassen (1952 und 1956).

Verteilung in Deutschland

ABZ = Amerikanische Besatzungszone
BBZ = Britische Besatzungszone
FBZ = Französische Besatzungszone
SBZ = Sowjetische Besatzungszone
Verteilung der 11.935.000 Vertriebenen in der Bundesrepublik Deutschland und DDR (1950)
Land damalige
Besatzungs-
zone
Anzahl % der
Vertrieb.
(in D)
% der
Wohnbev.
Bayern ABZ 1.937.000 16,2 % 21 %
Niedersachsen BBZ 1.851.000 15,5 % 27 %
Nordrhein-Westfalen BBZ 1.332.000 11,2 % 10 %
Mecklenburg-Vorpommern SBZ 981.000 8,2 % 45 %
Sachsen-Anhalt SBZ 961.000 8,1 % 23 %
Baden-Württemberg FBZ/ABZ 862.000 7,2 % 13,5 %
Schleswig-Holstein BBZ 857.000 7,2 % 33 %
Sachsen SBZ 781.000 6,5 % 14 %
Hessen ABZ 721.000 6 % 16,5 %
Thüringen SBZ 607.000 5,1 % 20,5 %
Brandenburg SBZ 581.000 4,9 % 23 %
Rheinland-Pfalz FBZ 152.000 1,3 % 5 %
West-Berlin ABZ/FBZ/BBZ 148.000 1,2 % 6,9 %
Hamburg BBZ 116.000 1 % 7,2 %
Bremen ABZ 48.000 0,4 % 8,6 %

Das sind 1950 zusammen 11.935.000, davon 3.911.000 in der DDR und 8.024.000 in der Bundesrepublik Deutschland
(später als 1950 gekommene Vertriebene und SBZ/DDR-Flüchtlinge sind nicht enthalten).

Das Saarland war 1950 noch autonome französische Region und wird daher nicht aufgelistet.

Baden-Württemberg war 1950 noch nicht gegründet; dieses Gebiet bestand aus den vorherigen Bundesländern Württemberg-Baden (ABZ), Südwürttemberg-Hohenzollern (FBZ) und Südbaden (FBZ).

Die niedrigen Zahlen in den französisch besetzten Gebieten rühren daher, dass dort zunächst keine Vertriebenen aufgenommen wurden; das änderte sich erst mit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland 1949.

Siehe auch

Literatur

  • Bundesministerium für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte (Hg): Dokumentation der Vertreibung der deutschen aus Ost-Mitteleuropa
    • I: Die Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus den Gebieten östlich der Oder-Neiße, 3 Bände, Band I+II, Bonn 1953
    • II: Das Schicksal der Deutschen in Ungarn, Bonn 1956
    • III: Das Schicksal der Deutschen in Rumänien, Bonn 1957
    • IV: Die Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus der Tschechoslowakei, 2 Bände, Bonn 1957
    • V: Das Schicksal der Deutschen in Jugoslawien, Bonn 1961
  • Stettin/Szczecin 1945–1946, Dokumente – Erinnerungen, Dokumenty – Wspomnienia, Rostock 1994

Weblinks

Quellen

  1. Bundesministerium der Justiz Gesetz über die Angelegenheiten der Vertriebenen und Flüchtlinge
  2. Vertreibung und Vertreibungsverbrechen, 1945–1948. Bericht des Bundesarchivs vom 28. Mai 1974. Archivalien und ausgewählte Erlebnisberichte. Kulturstiftung der Deutschen Vertriebenen, Bonn 1989, ISBN 3-88557-067-X.
  3. Stellungnahme der Deutsch-Tschechischen Historikerkommission zu den Vertreibungsverlusten
  4. vgl. z. B. Interview mit Ingo Haar, Deutschlandfunk, 14. November 2006
  5. BdV: „Haar“-sträubende Zahlenklitterung des Historikers Ingo Haar
  6. http://www.dradio.de/dlf/sendungen/kulturheute/571295/ Rüdiger Overmans: Zahl der Vertreibungsopfer ist neu zu erforschen. Historiker bezweifeln offizielle Zahlen.

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