Volksmärchen

Volksmärchen
Das Märchen von Aschenputtel - Zeichnung von Adrian Ludwig Richter

Volksmärchen stellen eine traditionelle Form des Märchens dar. Sie basieren auf mündlich überlieferten Stoffen, und haben im Gegensatz zum direkt niedergeschriebenen Kunstmärchen keine feste Form, die sich auf einen einzelnen Verfasser zurückführen ließe. Bevor sie von Sammlern fixiert und redigiert wurden, existierten sie in unterschiedlichen Erzählversionen.

Inhaltsverzeichnis

Gattungsmerkmale

Inhaltlich

Merkmale:

  • Unbestimmtheit von Raum und Zeitangaben („Es war einmal ...“): Anders als bspw. bei Sagen oder Legenden, im historischen Roman oder im Drama, das sich aufgrund seiner (ungefähren) Entstehungszeit zeitlich einordnen lässt, ist das Märchen historisch nirgendwo verankert.
  • Sprechende Tiere und Pflanzen: Sowohl im Tiermärchen, als auch im "eigentlichen Märchen" (s.u.) kommen sprechende Tiere und Pflanzen vor, die mit dem Helden in Kontakt treten.
  • Phantasiewesen wie Riesen und Zwerge, Hexen, Zauberer und (gute oder böse) Feen
  • wunderbare Ereignisse inmitten des Alltäglichen: So zum Beispiel ein Stein, der sich in einen Goldklumpen verwandelt, ein Berg, der sich öffnet und einen Schatz freigibt, oder ein Lebkuchenhaus auf einer Waldlichtung.
  • Wiederholungsstruktur: zum Beispiel trifft der Held oft auf drei zu lösende Rätsel oder sonstige Aufgaben, darüber hinaus sind die Figuren oft sieben Jahre von zu Hause fort. Auch treten oft drei Geschwister auf.

Im Mittelpunkt steht vielfach ein Held, der sich aus seiner anfänglichen Benachteiligung (er ist zum Beispiel ein Stiefkind, der Jüngste, der Dümmste) befreit bzw. von Helfern befreit wird und zu Glück und Wohlstand gelangt. Neben dieser optimistischen kann im Märchen auch die entgegengesetzte Weltsicht herrschen (Beispiel: Von dem Fischer und seiner Frau, hier wird das Fischerehepaar für Habgier und Unaufrichtigkeit bestraft). Die Bezeichnung als Antimärchen (A.Jolles, 1950) kennzeichnet diesen Typus jedoch als die Ausnahme. Neben dem Zaubermärchen existieren vielfältige Formen des Schwanks und des Tiermärchens („Die Kluge Bauerntochter“, „Der Hase und der Igel“). Neuere Nachdichtungen von Volksmärchen haben vielfach parodistischen Charakter (zum Beispiel bei Janosch).

Die Ausgangslage ist meist gekennzeichnet durch eine Notlage, eine Aufgabe oder ein Bedürfnis. Eine Aufgabe kann etwa darin liegen, einen kostbaren Gegenstand zu finden, ein Rätsel zu lösen oder einen verwunschenen Menschen zu erlösen. Um die Aufgabe zu bewältigen, muss der Held oft sein Leben aufs Spiel setzten. Neben dem Helden treten auch weitere typische Gestalten auf. Hierzu gehören der Gegner, der Helfer, der Neider, der Ratgeber und der Gerettete bzw. der zu Rettende. Während des Ablaufs der Geschichte können immer wieder magische oder übernatürliche Elemente auftauchen.

Charakteristisch erscheint insbesondere auch der häufig anzutreffende Gegensatz zwischen Gut und Böse, wobei in aller Regel die Guten belohnt und die Bösen bestraft werden. Märchen haben oft einen durchaus grausamen oder gewalttätigen Inhalt und sind daher in ihrer Wirkung auf Kinder umstritten.

Stilistisch

Volksmärchen sind leicht verständlich, besitzen einfache Strukturen und einen bildhaft anschaulichen Stil. Dadurch sind sie auch der kindlichen Vorstellung zugänglich. Charakteristische Stilmerkmale sind:

  • Formelhaftigkeit: Das Märchen, vor allen Dingen das Volksmärchen, zeichnet sich durch Eingangs- und Schlussformeln aus, die das Märchen für den Leser oder Zuhörer als solches leicht erkennbar machen. So zum Beispiel Anfangsformeln wie "Es war einmal..." oder Schlussformeln wie: "...und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute."
  • Wirklichkeitsferne: Sublimierung als "Entwirklichung" sowohl des Magischen als auch des Alltäglichen: Die Motive, die in einem Volksmärchen vorkommen entstammen der Wirklichkeit. Sie werden aber durch magische und mythische Elemente entwirklicht. Sie versuchen die ganze Welt zu umfassen.
  • Eindimensionalität der Wirklichkeitswahrnehmung: Das Diesseits und das Jenseits sind miteinander verbunden, ohne dass es zwei verschiedene Dimensionen sind. Der Diesseitige stellt sich nicht vor im Jenseits in einer völlig unterschiedlichen Dimension zu sein.
  • Flächenhaftigkeit: Den Figuren eines Märchens fehlt es sowohl an körperlicher, als auch an seelischer Tiefe. Des Weiteren werden in den Volksmärchen nur äußerst selten Körper- bzw. Charaktereigenschaften von Figuren genannt.
  • Abstrakter Stil: Volksmärchen bestehen aus mehreren aneinandergereihten Gliedern. In Märchen gibt es keine Gleichzeitigkeit. Der Erzählstrang folgt immer dem Helden und es werden nur die wichtigsten Personen vorgestellt.
  • Isolation und Allverbundenheit: In den Volksmärchen geht der Held immer alleine seinen Weg. Diese Isolation erlaubt es dem Helden zu einer Verbundenheit mit allen und allem fähig zu sein.
  • Zahlensymbolik: Dreizahl entspricht dem normalen Lebens- und Sprachrhythmus und dient der leichteren Merkbarkeit einzelner Textpassagen in Reimen und Handlungsabläufen, so muss der Held beispielsweise eine bestimmte Handlung dreifach durchführen um ans Ziel zu gelangen oder es müssen drei verschiedene Hindernisse überwunden werden. Ähnliches gilt für die Zahlen sieben und dreizehn.
  • Das Achtergewicht ist das Sinnbild für den Armen, Dummen, Faulen, Hungrigen aber auch den Jüngsten, der am Ende der Geschichte meist den Glückspilz versinnbildlicht, der alle Gefahren überwunden hat.

Geschichte

Volksmärchen waren bis zur Ankunft gedruckter Texte und Medien eine volksläufig-unterhaltsame Prosaerzählung meist wunderbaren Inhalts. Hier muss hinzugefügt werden, dass die Motive oft aus den zu der Zeit in Frankreich populären Feenmärchen stammen. Kollektiv im Gedächtnis des Volkes vorhanden, wurden sie von einem Erzähler dem Hörerkreis, oft mit ausgeprägter Gestik und Mimik, dargebracht. Die mündliche Überlieferung bedingt das Auftreten von Textvariationen.

Die ältesten europäischen Volksmärchensammlungen stammen von Giovanni Francesco Straparola (Ergötzliche Nächte, 1550), Giovanni Battista Basile (Pentameron, 1634) und Charles Perrault (1696/97). Die deutschsprachige Volksmärchentradition beginnt im 17. Jahrhundert mit Johannes Praetorius. Weltgeltung erlangt haben aber insbesondere die 1812 veröffentlichten Kinder- und Hausmärchen der Brüder Jacob und Wilhelm Grimm (die Brüder Grimm). Weitere bekannte deutsche Märchensammler und -dichter waren Ludwig Bechstein (1801-1860) mit seinem Deutschen Märchenbuch (1845) und Johann Karl August Musäus (1735-1787) mit seinen Volksmärchen der Deutschen (1782-1786). In Österreich war es Franz Ziska, der 1819 in den »Wöchentlichen Nachrichten« mit dem Märchen »Da Schneida und da Ries« eine der ersten Märchen-Aufzeichnungen gedruckt veröffentlichte. Diese Erzählung einer Bäuerin aus Döbling wurde 1843 auch in die Sammlung der Brüder Grimm aufgenommen.* Tiroler Volksmärchen erschienen 1852 von den Gebrüdern Zingerle* unter dem Titel »Kinder- und Hausmärchen aus Tirol«. Weitere umfangreiche Sammlungen trugen Theodor Vernaleken mit den »Alpenmärchen« (1863) und Karl Haiding mit »Österreichs Märchenschatz« (1953) zusammen.

Zum Typ der Volksmärchen ist auch die orientalische Sammlung „Tausendundeine Nacht“ zu rechnen, deren Ursprünge bis ins 9. Jahrhundert zurückreichen, die aber erst im 16./17. Jahrhundert in Ägypten niedergeschrieben wurde.

Verbreitung

Volksmärchen sind aus allen Kulturen bekannt. Die Grenze zum Mythos ist fließend.

Typologie des Volksmärchens

Die Durchsetzung als Gattungsbegriff erfolgte durch die Brüder Jacob und Wilhelm Grimm. Nach ihnen gibt es drei Typen von Volksmärchen:

  • das Tiermärchen, in dem dankbare und hilfreiche Tiere auftreten,
  • den Schwank, bei dem das Komisch-Scherzhafte im Vordergrund steht, und
  • das so genannte "eigentliche Märchen", das sich von den beiden erstgenannten Typen durch Mehrgliedrigkeit abhebt und sich wiederum in drei Untertypen untergliedert:

Daneben werden noch Schreckmärchen, deren Absicht eine Belehrung, und Formelmärchen, in denen sich ein bestimmtes Motiv wiederholt, genannt.

Eine besonderen Typus stellt das Feenmärchen dar. Feen (franz. fée = Fee, v. lat. fata = Schicksal) sind gutartige oder boshafte Frauen aus einem übernatürlichen Reich, die mit normalen Menschen in Berührung treten. Oft sind diese Frauen Zauberinnen oder in Anlehnung an Naturgeister oder Schicksalsgöttinnen, die den Menschen begleiten, konzipiert. Das Motiv der Fee als Patin tritt oft auf.

Feenmärchen stehen in der Tradition ägyptisch-indischer Zaubererzählungen, persischer Geister- und arabisch-orientalischer Dämonenmärchen (vgl. 1001 Nacht, Peris und Dschinne). Seit der Zeit der Kreuzzüge (12. Jahrhundert) verschmolzen sie mit einheimischen, insbesondere auch keltischen Vorstellungen (im Deutschen Sprachraum Alben oder Elfen). Daraus ergab sich die Idee eines Feenreichs, in das die Feen auch geliebte irdische Männer entführen.

Motive

Die Motive der Volks- und Kunstmärchen speisen sich aus den unterschiedlichsten Traditionen. Viele von ihnen stammen in ihrer ursprünglichen Form aus dem Orient und wurden zur Zeit der Kreuzzüge nach Europa gebracht. Daneben wurden insbesondere keltische und germanische Mythen verarbeitet. Das deutsche Märchen Frau Holle geht wahrscheinlich auf eine vorchristliche Gottheit zurück. Motivzusammenhänge bestehen auch mit Heldenepos und Tierfabel.

Im internationalen Vergleich ist festzustellen, dass gleiche Motive in unterschiedlichen Ländern und Kulturkreisen auftauchen. Teilweise ist dies sicherlich mit gegenseitigen Beeinflussung zu erklären. Soweit eine solche auszuschließen ist – etwa weil die betroffenen Kulturkreise zumindest zur Entstehungszeit der Märchen keinen Kontakt hatten –, wird als Erklärungsansatz häufig die von Carl Gustav Jung entwickelten sog. Archetypenlehre herangezogen. Hiernach verfügt die Menschheit über ein Kollektives Unbewusstes mit bestimmten gemeinsamen Grundvorstellungen. Ein anderer Erklärungsansatz geht davon aus, dass die Motive bestimmter Märchen (der Initiationsmärchen) in verfremdeter Form den Ritus der Initiation beschreiben.

Bekannte Märchenmotive sind zum Beispiel:

Literatur

  • Lüthi, Max: Märchen. Stuttgart und Weimar, 1996. 9. Auflage. (= Sammlung Metzler. Realien zur Literatur, Band 16)
  • Ludwig Bechstein: Thüringische Volksmärchen, Verlag Rockstuhl, Bad Langensalza, Reprint 18523/2002, ISBN 3-936030-71-5
  • Ludwig Bechstein: Romantische Märchen und Sagen, Verlag Rockstuhl, Bad Langensalza, Reprint 1855/2003, ISBN 3-936030-93-6
  • Gebrüder Zingerle: Kinder- und Hausmärchen aus Tirol, Georg Olms Verlag, Hildesheim, Reprint 1852/1976, ISBN 3-487-05154-0
  • Wittmann, Helmut: Das grosse Buch der österreichischen Volksmärchen, Ibera Verlag, Wien, ISBN 3-85052-209-1
  • Lüthi, Max: Europäische Volksmärchen, Manesse, 1994, 8. Auflage, Zürich, ISBN 3-7175-1120-3

Weblinks


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