Werkzeuggebrauch bei Tieren

Werkzeuggebrauch bei Tieren
Werkzeuggebrauch beim Gorilla

Als Werkzeuggebrauch bei Tieren gilt nach einer Definition von Jane Goodall die Anwendung von nicht zum Körper gehörenden Objekten, mit deren Hilfe die Funktionen des eigenen Körpers erweitert werden, um auf diese Weise ein unmittelbares Ziel zu erreichen.[1] Eine weitere Definition beschreibt den Werkzeuggebrauch bei Tieren als die Handhabung eines unbelebten Objektes, mit dessen Hilfe die Position oder Form eines weiteren Objektes verändert wird.[2] Die Verwendung z. B. des körpereigenen Schnabels beim Zerhacken von Schnecken sowie das Errichten eines Nests durch das Heranschaffen von Zweigen und Gräsern gilt diesen Definitionen zufolge daher nicht als Gebrauch eines Werkzeugs.

Inhaltsverzeichnis

Historisches

Dem Gebrauch von Werkzeugen im Tierreich wurde erst mit dem Aufschwung der Tierpsychologie und der aus ihr hervorgegangenen Ethologie wissenschaftliche Aufmerksamkeit zuteil. Bahnbrechend waren die Studien von Wolfgang Köhler in seiner kleinen Forschungsstation auf Teneriffa. Vor diesen 1917 und erneut 1921 publizierten Studien[3] hatte der Werkzeuggebrauch, von anekdotenhaften Einzelfallschilderungen abgesehen, als das alleinige Vorrecht der Menschen gegolten. Die Gattung Homo wurde zeitweise u. a. durch den Nachweis von Werkzeuggebrauch gegen zeitlich frühere Gattungen der Hominini abgegrenzt.

Menschenaffen

Dass Menschenaffen Werkzeuge benutzen können, ist seit langem bekannt; doch in welchem Umfang, in welchen Zusammenhängen und wie sie ihre Werkzeuge bearbeiten, wird erst seit wenigen Jahren genauer erforscht. In freier Wildbahn wurden bislang Schimpansen (Pan troglodytes) und Orang-Utans beim Werkzeuggebrauch beobachtet, nicht aber Bonobos (Pan paniscus). Ob es neben dem fotografisch belegten Gebrauch einer „Gehhilfe“ durch einen weiblichen Gorilla auch andere Formen des Werkzeuggebrauchs bei Gorillas gibt, ist unbekannt.[4]

In Afrika sind heute acht frei lebende Schimpansen-Populationen so sehr an die Anwesenheit von Beobachtern gewöhnt, dass sie aus großer Nähe von morgens bis abends beobachtet werden können.[4]

Schimpansen

Schimpansen – den nächsten Verwandten des Menschen – traute man diesen Gebrauch schon früh zu, und so fanden schon früh entsprechende Laborstudien statt. Doch dauerte es lange, bis sich herausstellte, dass sie Werkzeuge auch im Freiland benutzen und sogar Jagdwaffen herstellen.

Frühe Laborstudien

Schimpanse mit Stock

Die Schimpansen von Wolfgang Köhler waren zunächst mit sehr einfachen Versuchsanordnungen konfrontiert worden; Köhler beschrieb eines der Experimente mit Sultan Jahrzehnte später so:

Eine Banane wird oben ins Drahtgitterdach des Spielplatzes gehängt, viel zu hoch, um selbst im Sprung von einem Schimpansen erreicht zu werden. Einige Meter von dieser Stelle entfernt befindet sich eine Kiste von beträchtlicher Größe. Hier zögerte Sultan niemals; er schleppte die Kiste so weit, bis sie gerade unter der Banane stand, kletterte herauf, sprang von hier aus in die Höhe und erreichte die Banane ohne die geringste Mühe.

Wolfgang Köhler: Die Aufgabe der Gestaltpsychologie, Berlin 1971, S. 117

Andere Schimpansen hatten unter anderem Kistentürme gebaut und waren an diesen empor geklettert, um an hoch hängende Bananen heran zu kommen. Ferner hatten sie Stöcke ineinander gesteckt, um damit an eine Frucht zu kommen, die sich außerhalb ihres Käfigs befand. Aus den Beschreibungen Köhlers geht hervor, dass die Schimpansen diese Handlungen nicht allein durch Ausprobieren erlernten. Vielmehr habe man beobachten können, dass ein Tier ruhig dasaß, umherschaute – zur Banane, zu den Kisten, zum Platz unter der Banane – um irgendwann gleichsam überlegt die Kisten unter der Banane zu stapeln und so die Frucht herabholen zu können. Köhler wies aber auch darauf hin, dass nicht jedes seiner Tiere zum Werkzeuggebrauch in der Lage war.

1937 beschrieb M. Crowford[5] sogar einen kooperativen Werkzeuggebrauch bei jungen Schimpansen: Ihnen gelang es, gemeinsam an einem Strick zu ziehen und so eine Kiste zu bewegen, die für ein Tier allein zu schwer war.

Erste Freilandbeobachtungen

Bereits 1956 hatten Fred G. Merfield und Harry Miller[6] vermerkt, dass Merfield in den 1920er-Jahren Schimpansen dabei beobachtet hatte, wie diese ein Stöckchen in ein Bienennest steckten und nach dem Herausziehen den daran klebenden Honig ablutschten. Die erste Studie in einer Fachzeitschrift erschien aber erst 1964: Jane Goodall berichtete darin, dass Schimpansen im Gombe Stream National Park in Tansania dünne Stöckchen benutzen, um damit Termiten aus Erdlöchern zu fischen.[7] Jane Goodall beobachtete ferner, dass Schimpansen Blätter als Ersatz für einen Schwamm verwenden, um mit ihrer Hilfe Wasser aus Baumlöchern aufzutunken[8] und dass sie dort Steine als Hammer und Amboss nutzen, um Nüsse zu öffnen. In einem ihrer Filmdokumente sieht man, wie ein Schimpanse, der an Durchfall erkrankt ist, sich mit Blättern säubert. Ein bekanntes Foto zeigt einen Schimpansen, der mit einem langen Stock auf die Attrappe eines Leoparden einschlägt.

Diese sehr menschlich anmutenden Verhaltensweisen eignen sich die Schimpansen jedoch nicht in gleichem Maße, wie das bei den Menschen geschieht, durch Imitationslernen an, und sie werden auch nicht von Erwachsenen zur Nachahmung ermuntert oder angeleitet. Die Schimpansenjungen sitzen jahrelang neben den Erwachsenen und schauen bloß zu. Peter Weber beschrieb in seinem Buch „Der domestizierte Affe“[9] das Verhalten so:

„Schimpansenkinder imitieren nicht, und sie bekommen keinen Unterricht. In gewisser Hinsicht bekommt ein Schimpanse von seiner Mutter nicht mehr geliefert als eine Vorstellung, was zu tun ist. Wie man das Werkzeug jedoch zweckmäßig handhabt, muss er selbst herausfinden. Der Gebrauch eines Werkzeugs bedeutet so für jede Schimpansengeneration einen Neubeginn.“

Nüsseknacken mit Hammer und Amboss

Im Nationalpark Taï im westafrikanischen Staat Elfenbeinküste benutzen Schimpansen grobe Holzstücke als Hammer und Amboss, um auf diese Weise hartschalige Palmnüsse zu knacken.[10][11] Bei Bossou im Naturschutzgebiet Nimba-Berge in Guinea wurden Schimpansen über mehrere Jahre hinweg dabei beobachtet, dass sie immer wieder bestimmte Steine als Hammer und Amboss benutzten, um Nüsse zu knacken.[12][13]

Im Februar 2007 berichteten Forscher aus dem Leipziger Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie über den Fund einer ca. 4300 Jahre alten „Schimpansenwerkstatt“ bei Noulo (ebenfalls Taï-Nationalpark).[14] Die ausgegrabenen Steine zeigen ihren Angaben zufolge die gleichen typischen Abnutzungserscheinungen wie jene Steine, die von heute lebenden Schimpansen als Werkzeug zum Zerschlagen von Nüssen benutzt werden; sie unterscheiden sich zugleich von allen Steinwerkzeugen, die man dem Menschen zuordnen konnte. Die Forscher fanden auf den Steinen zudem Überreste von Stärke, die bestimmten Nüssen zugeordnet werden konnte. Die Funde belegen den Autoren zufolge, dass die Vorfahren von Schimpansen und Menschen mehrere tausend Jahre lang bestimmte gemeinsame kulturelle Merkmale aufwiesen, die man lange Zeit ausschließlich dem Menschen zugetraut hat. Hierzu gehören unter anderem die Auswahl und das Beschaffen von Rohmaterialien und deren gezielte Verwendung für eine bestimmte Arbeit an einem bestimmten Ort, ferner das wiederholte Aufsuchen bestimmter Orte für bestimmte Zwecke, so dass sich dort Reststoffe und Schutt anhäufen.

Crickette Sanz und David Morgan vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie dokumentierten mit Hilfe von 18 Kameras im Goualougo-Dreieck (Republik Kongo) zwischen 1999 und 2006 22 unterschiedliche Formen von Werkzeuggebrauch bei Schimpansen, darunter mehrere Varianten des Honig-Sammelns, des Termiten-Angelns und der Wasseraufnahme mit Hilfe von Blättern.[15]

Beutemachen mit Speeren

Im Senegal beobachteten Forscher der Iowa State University im Verlauf einer insgesamt 2500 Stunden umfassenden Beobachtungszeit, dass Schimpansen gewohnheitsmäßig Speere benutzen, um Beutetiere zu jagen.[16] Mindestens eine von 22 beobachteten Attacken war erfolgreich. Die zehn derart aktiven Tiere waren überwiegend Weibchen, die zunächst einen Ast von einem Baum abbrachen und danach dessen Seitentriebe entfernten. Vier dieser Weibchen spitzten schließlich sogar ein Ende des Astes mit den Zähnen an. Mit ihrem Werkzeug stocherten sie kräftig in die Schlafhöhlen von nachtaktiven Galagos; hin und wieder rochen oder leckten sie danach an der Spitze ihres Werkzeugs. Die Zeitschrift Science schrieb hierzu, dies sei der erste Nachweis, dass ein nicht-menschlicher Primat „tödliche Waffen für die Jagd auf andere Tiere“ hergestellt habe.[17]

Sequenzieller Werkzeuggebrauch bei der Honigernte

Forscher um Christophe Boesch vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie beobachteten Schimpansen (Pan troglodytes) im Loango-Nationalpark in Gabun dabei, wie sie Honig aus den Nestern unterirdisch lebender Bienen ernteten.[18] Die Schimpansen benutzen fünf unterschiedlich geformte Werkzeuge: dünne, gerade Stöckchen, mit denen sie im Boden stochern, um auf diese Weise Nester zu entdecken; dicke, stumpf endende Stöcke, mit denen der Eingang zum Bienennest aufgebrochen wird; dünnere, hebelartige Stöcke, mit denen die Wände der Gänge innerhalb eines Bienennests aufgebrochen werden; Stöckchen mit ausgefransten Enden, die in den Honig eingetunkt werden; und entrindete Stöcke mit löffelartig breiten Enden, mit denen Honig aus der Erde geschöpft wird. Diese Werkzeuge wurden in räumlichem Zusammenhang gefunden, was nahelegt, dass sie in geeigneter Reihenfolge verwendet werden. Einige Fundstücke wiesen sogar Merkmale von zwei Verwendungszwecken auf, was erstmals bei Tieren beobachtet wurde. Die Forscher vermuten, dass ein derart komplexer, sequenzieller Werkzeuggebrauch jenem der unmittelbaren Vorfahren des Menschen in der frühen Steinzeit entspricht.

Wildlebende Gorillas

Das Gorillaweibchen Leah nutzt einen Ast als Stütze bei der Durchquerung eines Gewässers

Thomas Breuer vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie veröffentlichte im September 2005 eine Studie zum Werkzeuggebrauch von frei lebenden Gorillas im Nouabalé-Ndoki-Nationalpark im Norden des Kongos.[19] Erstmals hatte er dort bei zwei Weibchen auch fotografisch dokumentieren können, dass Stöcke von diesen Primaten als Werkzeuge genutzt werden. Ein Weibchen durchquerte einen Tümpel, lotete zunächst die Wassertiefe mit einem Ast aus und stützte sich dann im brusthoch stehenden Wasser auf diesen Stock, gewissermaßen als Gehhilfe. Ein anderes Weibchen stützte sich mit einem Arm auf einen Stock, während sie mit der anderen Hand Futter aufsammelte.

Orang-Utans

Orang-Utans können gezielt Wasser nutzen, um an Nahrung heranzukommen. Forscher des Max-Planck-Instituts für Anthropologie hatten Erdnüsse in ein durchsichtiges, teilweise mit Wasser gefülltes Glasgefäß geschüttet, in dem sie für die Tiere allerdings nicht mit den Fingern erreichbar waren. Alle fünf Orang-Utans füllten daraufhin ihren Mund mehrfach (im Mittel dreimal) mit Wasser, spuckten es in das Glasgefäß und konnten aufgrund des dann höheren Wasserstands die Erdnüsse herausfischen. Bei allen Tieren verkürzte sich zudem die Latenzzeit nach der Aufnahme des ersten Wasserschlucks „dramatisch“ bei allen späteren Testdurchgängen.[20]

Von anderen Orang-Utans ist bekannt, dass sie Äste als „Fliegenklatschen“ benutzen. Im Frankfurter Zoo knüpfen sie die Halterungen für ihre Schlafnester kunstvoll an Metallstangen fest.

Weitere Primaten: Kapuzineraffen

Brasilianische Rückenstreifen-Kapuziner (Cebus libidinosus) verwenden im Gebiet der Caatinga bis faustgroße Steine, um mit deren Hilfe Wurzeln im Erdreich freizulegen. Antonio de Moura und Phyllis Lee (Universität Cambridge) beobachteten die Tiere auch dabei, wie sie mit Steinen Wurzeln zerteilten oder Nüsse knackten.[21] Ferner benutzen die Kapuzineraffen Zweige, um in Astlöchern nach Insekten, Wasser oder Honig zu stochern. Die Autoren beschrieben das Verhalten der Affen als eine relativ junge, erlernte Anpassung an ihr unwirtliches und zeitweise sehr trockenes Habitat, in dem oberirdisch verfügbare Nahrung zeitweise noch knapper wird, seitdem die Menschen dort durch Brandrodung, Holzeinschlag und andere Eingriffe das Nahrungsangebot für diese Tiere zusätzlich verringert haben.

Beim Ausgraben von Wurzeln schlagen die Affen mehrmals mit dem Stein auf den Boden, zugleich kratzen sie mit ihrer zweiten Hand die aufgelockerte Erde zur Seite. Diese Vorgehensweise wurde bei mehreren Gruppen beobachtet, die Kilometer weit voneinander entfernt leben. Die Kapuzineraffen der Caatinga erschlossen sich mit Hilfe ihrer Werkzeuge u. a. die Wurzeln des Maniok, die Wurzeln von Thiloa glaucocarpa aus der Familie der Flügelsamengewächse, sowie die Früchte der Jatoba-Art Hymenaea courbaril als Nahrungsquelle.[22]

Auch Kapuzineraffen-Populationen an anderen Orten in Brasilien benutzen Steine als Werkzeuge.[23]

Delphine

Unter der Überschrift „Flipper geht zur Schwammschule“ berichtete am 11. Juni 2005 die Fachzeitschrift New Scientist über eine Studie, die kurz zuvor in den Proceedings of the National Academy of Science USA erschienen war.[24] In ihr berichteten Michael Krützen von der Universität Zürich[25] und Forscher der University of New South Wales in Sydney, dass einige der Großen Tümmler in der westaustralischen Shark Bay bei der Futtersuche Werkzeuge benutzen: Sie lösen Schwämme vom Meeresboden ab und stülpen sie über ihre Schnauze. Die Schwämme dienen ihnen als eine Art Handschuh, um ihre Schnauze bei der Futtersuche im Boden zu schützen. Von den rund 3000 Delfinen in der Shark Bay sind nur etwa 30 so genannte Spongers, hat Dr. Michael Krützen vom Anthropologischen Institut der Universität Zürich herausgefunden. Um genetische Einflüsse zu untersuchen, wurde die DNA von 13 schwammbenutzenden Delfinen analysiert und die DNA von 172 Delfinen, die keine Schwämme benutzen. Man fand heraus, dass die Töchter anscheinend den Gebrauch von Schwämmen von der Mutter lernen: Die Schwamm benutzenden Tiere zeigten nämlich eine signifikante genetische Verwandtschaft. Die Forscher nehmen daher an, dass die Nutzung von Schwämmen erst vor relativ kurzer Zeit von einer weiblichen Vorfahrin „erfunden“ worden ist. Es ist überdies das erste Beispiel für eine materielle Kultur bei Meeressäugern.

Elefanten

Auch Elefanten sind bekannt dafür, dass sie Werkzeuge benutzen.[26] Sie schwenken zum Beispiel Zweige mit ihrem Rüssel und vertreiben so Fliegen von ihrem Körper. Joyce Poole, eine Feldforscherin bei afrikanischen Elefanten berichtete zudem, dass Elefanten beobachtet wurden, wie sie große Steine auf einen elektrischen Zaun warfen und auf diese Weise die Stromversorgung unterbrachen.[27]

Otter

Seeotter legen sich, auf dem Rücken treibend, Steine auf den Bauch und benutzen sie zum Knacken von Schalentieren.

Nagetiere

Inzwischen werden auch Tierarten untersucht, die zuvor überhaupt nicht im Fokus der Werkzeugforschung standen.

Nacktmulle (Heterocephalus glaber) graben mit Hilfe ihrer Schneidezähne große Höhlensysteme. Dabei wurde beobachtet, dass sie – zumindest in Gefangenschaft – häufig Holzspäne und Wurzelstücke hinter ihren Schneidezähnen und vor ihren Lippen und Mahlzähnen platzieren, wenn sie in besonders feinem Bodenmaterial graben. Gedeutet wurde dieses Verhalten als tauglich, das Einatmen von Staub und anderen Fremdkörpern zu verhindern. Zwei Forscher der Cornell University bezeichneten dieses Verhalten in einer 1998 veröffentlichten Publikation als Werkzeuggebrauch;[28] allerdings widerspricht die Aussage der Autoren, die Holz- oder Wurzelstücke dienten dem – rein passiven – Schutz der Atemwege, ihrer Deutung, dies sei ein Werkzeuggebrauch.

Eindeutig waren jedoch die Befunde einer weiteren Studie. Fünf Degus (Octodon degus) wurden im Labor von japanischen Biolinguisten binnen zwei Monaten erfolgreich trainiert, mit ihren Vorderbeinen einen Schieber so zu bewegen, dass sie Sonnenblumenkerne einsammeln konnten, die allein mit den Pfoten nicht erreichbar waren.[29] Den Angaben der Autoren zufolge war dies der erste Nachweis der Fähigkeit zum Werkzeuggebrauch bei Nagetieren.

Vögel

Zum Werkzeuggebrauch von Vögeln gab es immer wieder anekdotische, aber nicht wissenschaftlich gesicherte Zufallsbeobachtungen, gegen die aber häufig eingewendet werden konnte, dass die Handhabung von kleinen Stöckchen primär dem Nestbau gedient habe. Systematische Beobachtungen zum Werkzeuggebrauch von Vögeln sind daher erst spät durchgeführt worden.

Geradschnabelkrähen

Geradschnabelkrähen (Corvus moneduloides) aus Neukaledonien können Drähte verbiegen und damit Futter angeln.[30] Forscher der Universität Auckland berichteten zudem, dass die Vögel einen gegabelten Zweig in mehreren Arbeitsschritten zu einem Haken umgestalteten.[31]

Die Krähen wurden ferner dabei beobachtet, wie sie in freier Natur Blätter von Schraubenbäumen so bearbeiteten, dass sie mit ihnen Maden aus Baumritzen angeln konnten.[32] Mit Hilfe von Minikameras, die man an einigen frei lebenden Vögeln befestigt hatte, konnte nachgewiesen werden, dass erfolgreich als Werkzeug zum Aufstöbern von Insekten benutzte Grashalme im Schnabel mitgenommen werden, wenn die Vögel zu einem anderen Futterplatz fliegen.[33] Mit Hilfe ihrer Werkzeuge beschaffen sich die Krähen einen erheblichen Anteil ihrer täglichen eiweiß- und fetthaltigen Nahrung.[34]

In einem Laborexperiment gelang es mehreren Testtieren sogar, sich mit Hilfe eines Werkzeugs ein anderes Werkzeug zu beschaffen.[35] Ein verlockendes Stück Fleisch war für die Vögel nur zu erreichen, wenn sie zunächst mit einem leicht erreichbaren kleinen Stöckchen ein deutlich längeres Stöckchen aus einem vergitterten Kasten herausstocherten. Drei von sieben Vögeln meisterten diese Situation auf Anhieb. Drei weitere Vögel setzten zwar ebenfalls das kurze Stöckchen als Werkzeug ein, scheiterten zunächst aber daran, sich das lange Stöckchen zu beschaffen. Insgesamt sechs Vögel holten sich schließlich das Futter; nur eine einzige Krähe versuchte zunächst, mit dem kleinen, ungeeigneten Stöckchen das Futter zu erreichen. Aus diesen Beobachtungen schlossen die neuseeländischen Verhaltensforscher, dass die Geradschnabelkrähen die ihnen gestellte Aufgabe bewältigen konnten, ohne sich durch Versuch und Irrtum an eine Lösung heranzutasten. Später gelang es einigen Testtieren sogar, drei Werkzeuge zu kombinieren.[36][37]

Weitere Beispiele

Saatkrähen, für die im Freiland bisher kein Werkzeuggebrauch nachgewiesen wurde, zeigten im Labor Verhaltensweisen, die denen der Geradschnabelkrähen ebenbürtig sind: Um einen Leckerbissen aus einer Glasröhre herauszuholen, benutzten die Vögel Stöckchen, und zwar um so kleinere, je enger die Glasröhre war. Auch bogen sie die Enden von Drahtstücken so um, dass sie diese Enden als Haken benutzen konnten.[38] Ähnliche Verhaltensweisen zeigen Keas.[39][40]

Otto Koehler berichtet, dass Schmutzgeier dafür bekannt sind, so lange Steine gegen Straußeneier zu schleudern, bis diese zerspringen; danach verzehren sie deren Inhalt.[41]

Blauhäher wurden in Gefangenschaft dabei beobachtet, dass sie mit Hilfe von Werkzeugen Futter vergraben.[42]

Heinz Sielmann berichtete[43] über Beobachtungen an Spechtfinken der Galápagos-Inseln mit dem bezeichnenden Namen Cactospiza pallida, dass diese einen Kaktusstachel oder ein gerades Hölzchen benutzen und sogar selbst zurecht brechen, um damit Insekten aus Löchern im Holz zu stochern.

Fische

Ein Lippfisch (Choerodon anchorago) wurde 2009 beobachtet und dabei gefilmt, wie er auf hartschalige Beute traf, sich einen passenden Stein suchte, diesen ins Maul nahm, zurück zur Nahrungsquelle schwamm und damit die Beute aufschlug.[44]. Ähnliche Verhaltensweisen waren zuvor auch vereinzelt bei anderen Lippfischen beobachtet worden.

Insekten

Schließlich stößt man sogar bei Insekten auf einfachen Werkzeuggebrauch. Grabwespen der Gattung Ammophila nehmen gelegentlich Steinchen zwischen ihre Mandibeln, um nach dem Zugraben ihrer Eikammer den losen Sand über dem Eingang festzustampfen.[45]

Siehe auch

Literatur

  • Peter-Rene Becker: Werkzeuggebrauch im Tierreich. Wie Tiere hämmern, bohren, streichen. In: Edition Universitas. Hirzel / Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, Stuttgart 1999, ISBN 3-8047-1291-6.
  • Benjamin B. Beck:[46] Animal Tool Behavior. The Use and Manufacture of Tools by Animals. In: Garland Series in Ethology. Garland, New York NY 1980, ISBN 978-0-8240-7168-4
  • Timothy Taylor: The Artificial Ape: How Technology Changed the Course of Human Evolution. Palgrave Macmillan, 2010, ISBN 978-0230617636
  • Michael Haslam et al.: Primate archaeology. In: Nature, Band 460, 2009, S. 339–344, doi:10.1038/nature08188

Weblinks

 Commons: Werkzeuggebrauch bei Tieren – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

  1. „the use of an external object as a functional extension of mouth or beak, hand or claw, in the attainment of an immediate goal“; für weitere Definitionen siehe nationalzoo.si.edu
  2. „Tool use is defined as the manipulation of an inanimate object to change the position or form of a separate object.“ K. Okanoya, N. Tokimoto, N. Kumazawa, S. Hirata, A. Iriki: Tool-use training in a species of rodent: the emergence of an optical motor strategy and functional understanding. In: PLoS ONE, 2008, 3(3):e1860, [1] oder doi:10.1371/journal.pone.0001860
  3. Intelligenzprüfungen an Anthropoiden I. In: Abhandlungen der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, 1917, Physikalisch-mathematische Klasse, Nr. 1 und Intelligenzprüfungen an Menschenaffen. Berlin, Springer, 1921
  4. a b William C. McGrew: Chimpanzee Technology. In: Science, Band 328, Nr. 5978, 2010, S. 579–580, doi:10.1126/science.1187921
  5. M. Crowford, Comp. Psychol. Monogr., Band 14, Heft 2, 1937
  6. Fred G. Merfield und Harry Miller: Gorillas were my Neighbours. London, Verlag Longmans, 1956
  7. Jane Goodall: Tool-Using and Aimed Throwing in a Community of Free-Living Chimpanzees. In: Nature, Band 201, 1964, S. 1264–1266, doi:10.1038/2011264a0
  8. Irenäus Eibl-Eibesfeldt: Grundriss der vergleichenden Verhaltensforschung
  9. Peter Weber: Der domestizierte Affe. Walter Verlag, 2005
  10. Webseite von Christophe Boesch
  11. Die Werkstatt der Affen auf der Webseite von GEO
  12. Susana Carvalho, Dora Biro, William C. McGrew und Tetsuro Matsuzawa: Tool-composite reuse in wild chimpanzees (Pan troglodytes): archaeologically invisible steps in the technological evolution of early hominins? In: Animal Cognition, Band 12 (Suppl. 1), 2009, S. 103–114, Zusammenfassung
  13. Ebenfalls bei Bossou wurde mehrfach beobachtet, dass Schimpansen Schlingfallen gezielt außer Funktion setzen: Gaku Ohashi und Tetsuro Matsuzawa: Deactivation of snares by wild chimpanzees. In: Primates, Band 52, Nr. 1, 2011, S. 1–5, doi:10.1007/s10329-010-0212-8
    bbc.co.uk vom 3. September 2010: „Wild chimps outwit human hunters.“
  14. Julio Mercader, Huw Barton, Jason Gillespie, Jack Harris, Steven Kuhn, Robert Tyler und Christophe Boesch: 4300-year-old chimpanzee sites and the origins of percussive stone technology. In: PNAS, Band 104, Nr. 9, 2007, S. 3043–3048, doi:10.1073/pnas.0607909104
    mpg.de vom 13. Februar 2007: „Die Schimpansen-Steinzeit. Westafrikanische Schimpansen knacken Nüsse mit Steinwerkzeugen bereits seit Tausenden von Jahren“
  15. Jon Cohen: The world through a chimp’s eyes. In: Science, Band 316 vom 6. April 2007, S. 44–45
  16. Jill D. Pruetz, Paco Bertolani: Savanna Chimpanzees, Pan troglodytes verus, Hunt with Tools. In: Current Biology, Band 17, Nr. 5, 2007, S. 412–417, doi:10.1016/j.cub.2006.12.042
  17. In: Science, Band 315 vom 23. Februar 2007, S. 1063 [2]
  18. Christophe Boesch, Josephine Heada und Martha M. Robbins: Complex tool sets for honey extraction among chimpanzees in Loango National Park, Gabon. In: Journal of Human Evolution, Band 56 (6), 2009, S. 560–569; doi:10.1016/j.jhevol.2009.04.001
  19. Thomas Breuer u. a.: First Observation of Tool Use in Wild Gorillas. In: PLoS Biol 3(11): e380 doi:10.1371/journal.pbio.0030380 [3]
  20. Natacha Mendes, Daniel Hanus, Josep Call: Raising the level: orangutans use water as a tool. In: Biology letters, Band 3, 2007, S. 453–455, doi:10.1098/rsbl.2007.0198
  21. A. C. de A. Moura, P. C. Lee: Capuchin Stone Tool Use in Caatinga Dry Forest. In: Science, Band 306, Nr. 5703, 2004, S. 1909, doi:10.1126/science.1102558
  22. www.wissenschaft-online.de: Tierische Steinzeit. Kapuzineraffen graben mit Steinen nach Futter. In: Spektrumdirekt vom 11. Dezember 2004
  23. Eduardo B. Ottoni und Patrícia Izar: Capuchin monkey tool use: Overview and implications. In: Evolutionary Anthropology, Band 17, Nr. 4, 2008, S. 171–178, DOI:10.1002/evan.20185
  24. Michael Krützen u. a.: Cultural transmission of tool use in bottlenose dolphins. In: PNAS, Band 102, Nr. 25, 2005, S. 8939–8943 [4]
  25. www.unipublic.unizh.ch (bebildert)
  26. Dietmar Jarofke: Jarofkes Elefantenkompendium. Schüling Verlag, Münster, 2007, ISBN 3865230857. Jeanette Schmid: Verhalten Asiatischer Elefanten (Elephas maximus) im Zoo und Zirkus. Schüling Verlag, Münster 2006, ISBN 3-86523-055-5
  27. Joyce Poole: Coming of Age With Elephants: A Memoir. Hyperion Books, 1996, ISBN 0786860952
  28. Gabriela Shuster, P. W. Sherman: Tool use by naked mole-rats. In: Animal Cognition, Band 1, Nr. 1, 1998, S. 71–74, doi:10.1007/s100710050009
  29. K. Okanoya, N. Tokimoto, N. Kumazawa, S. Hirata, A. Iriki: Tool-use training in a species of rodent: the emergence of an optical motor strategy and functional understanding. In: PLoS ONE, 2008, 3(3):e1860, [5] oder doi:10.1371/journal.pone.0001860
  30. Alex A. S. Weir, Jackie Chappell und Alex Kacelnik: Shaping of Hooks in New Caledonian Crows. In: Science, Band 297, Nr. 5583, 2002, S. 981, doi:10.1126/science.1073433; Video
  31. Diemut Klärner: Raffinierter Werkzeuggebrauch bei der Neukaledonischen Krähe. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 206 vom 5. September 2007, S. N2
  32. Bernd Heinrich und Thomas Bugnyar: Just how smart are revens? In: Scientific American, April 2007, S. 48
  33. Christian Rutz u. a.: Video Cameras on Wild Birds. In: Science, Band 318, Nr. 5851, S. 765, doi:10.1126/science.1146788
  34. Christian Rutz u. a.: The Ecological Significance of Tool Use in New Caledonian Crows. In: Science, Band 329, Nr. 5998, 2010, S. 1523–1526, doi:10.1126/science.1192053
  35. Alex H. Taylor, Russell D. Gray u. a.: Spontaneous Metatool Use by New Caledonian Crows. In: Current Biology, Band 17, Nr. 17, 2007, S. 1504–1507, doi:10.1016/j.cub.2007.07.057
  36. Alex H. Taylor u. a.: Complex cognition and behavioural innovation in New Caledonian crows. In: Proceedings of the Royal Society B, Band 277, Nr. 1694, 2010, S.2637–2643, doi:10.1098/rspb.2010.0285
  37. Joanna H. Wimpenny et al.: Cognitive Processes Associated with Sequential Tool Use in New Caledonian Crows. In: PLoS ONE' 4(8): e6471, doi:10.1371/journal.pone.0006471
  38. Christopher D. Birda, Nathan J. Emery: Insightful problem solving and creative tool modification by captive nontool-using rooks. In: Proceedings of the National Academy of Sciences, Band 106, Nr. 25, 2009, S. 10370–10375, doi:10.1073/pnas.0901008106
  39. Alice M. I. Auersperg u. a.: Flexibility in Problem Solving and Tool Use of Kea and New Caledonian Crows in a Multi Access Box Paradigm. In: PLoS ONE 6(6): e20231, doi:10.1371/journal.pone.0020231
  40. Alice M. I. Auersperg u. a.: Navigating a tool end in a specific direction: stick-tool use in kea (Nestor notabilis). In: Biology Letters, Online-Vorabveröffentlichung vom 2. Juni 2011, doi:10.1098/rsbl.2011.0388
  41. Laut Otto Koehler in: Grzimeks Tierleben, Sonderband Verhaltensforschung.
  42. Joanna Dally: Don’t call me birdbrained. In: New Scientist, 23. Juni 2007, S. 35–37
  43. im Journal für Ornithologie (Band 103, 1962, S. 92 ff.)
  44. Giacomo Bernardi: The use of tools by wrasses (Labridae). In: Coral Reefs, 2011; doi:10.1007/s00338-011-0823-6, Volltext; Video auf Youtube
  45. laut Otto Koehler in: Grzimeks Tierleben, Sonderband Verhaltensforschung
  46. In diesem Standardwerk lautet die Definition für Werkzeuggebrauch: „the external employment of an unattached environmental object to alter more efficiently the form, position, or condition of another object, another organism, or the user itself when the user holds or carries the tool during or just prior to use and is responsible for the proper and effective orientation of the tool.“
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