Werner Villinger

Werner Villinger

Werner Villinger (* 9. Oktober 1887 in Besigheim am Neckar; † 8. August 1961 bei Innsbruck) war ein deutscher Kinder- und Jugendpsychiater und T4-Gutachter.

Inhaltsverzeichnis

Leben und Wirken

Villinger, Sohn eines Apothekenbesitzers, besuchte in Ludwigsburg das Königliche Gymnasium. Nach dem Abitur zog er nach London, um dort die englische Sprache zu erlernen. Villinger wollte eine Seeoffizierslaufbahn eingeschlagen, wurde aber wegen körperlicher Untauglichkeit abgelehnt. Von 1909 bis 1914 studierte Villinger Medizin in München, Kiel und Straßburg. Seit 1913 arbeitete er neben dem Studium als Assistent am Anatomischen Institut der Universität Straßburg. Nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges wurde Villinger im August 1914 zur Armee eingezogen und erhielt im Dezember 1914 die Notapprobation. Ende Dezember 1918 erfolgte seine Entlassung aus dem Heer und Villinger konnte seine ärztliche Laufbahn fortsetzen. Der Mediziner arbeitete an verschiedenen Universitätskliniken in Marburg, München und schließlich in Tübingen, wo er 1920 auch promovierte und ab Juli 1920 die neu errichtete kinderpsychiatrische Abteilung (Klinisches Jugendheim) leitete. Im gleichem Jahr heiratete er Louise Bösch. Das Ehepaar hatte sechs Kinder.

1926 wurde Werner Villinger an das Landesjugendamt und Jugendamt Hamburg berufen. Zugleich war er als beratender Oberarzt an der Psychiatrischen Klinik der Universität Hamburg tätig. Ferner hielt er ab dem Sommersemester 1927 Vorlesungen über Psychopathologie des Kindes- und Jugendalters an der Universität und unterrichtete am Sozialpädagogischen Institut und am Lehrerbildungsinstitut. Am 1. Januar 1932 wurde er zum Professor an der Universität Hamburg ernannt.

Villinger war Mitglied im Stahlhelm, trat aber vor Überführung dieser Organisation in die SA aus. Am 1. Januar 1934 übernahm Villinger die Stelle des Chefarztes an der Bodelschwinghschen Anstalten in Bethel bei Bielefeld.[1] Fortan übernahm er die damalige vorgeschriebene Ideologie und setzte sich für eine neue Anthropologie ein. So sagte er beispielsweise auf dem I. Internationalen Kongreß für Heilpädagogik in Genf, vom 24. bis 26. Juli 1939, in Bezug auf jugendliche Psychopathen:

»Es wird Sache der weiteren Forschung sein, festzustellen, ob und gegebenenfalls welche weiteren Zusammenhänge zwischen Charakter und Körperbau, d.h. bestimmten Charakteren und bestimmten Körperbautypen sich finden, ob die Kretschmerschen Typenbezeichnungen sich irgendwie in Verbindung bringen lassen mit Rassekernen, ob schließlich Erbcharakterkunde, Psychopathologie und alle rassekundlichen Forschungen nicht zu einer neuen Anthropologie führen, die die Rätsel nicht nur der Rasseseelen und der Erbcharakter, sondern auch das Zustandekommen so mancher ererbeter Mißanlagen besser als bisher zu klären und zu verhüten mag.[2]«

Villinger war Befürworter eines Sterilisierungsgesetzes. Diesbezüglich vermerkte er in einem 1934 auf dem Fürsorgeerziehungstag gehaltenen Vortrag:

»Wer in der Alltagsarbeit immer wieder die Erfahrung machen musste, dass aus Schwachsinnigen- und Trinkerfamilien Fürsorgezöglinge besonders häufig hervorgehen und wer weiter viele Kinder früherer Fürsorgeerziehungszöglinge wieder fürsorgeerziehungsbedürftig werden sah, der hat gerade im Hinblick auf die Fürsorgeerziehung nicht anders gekonnt, als sich seit Jahren für das Zustandekommen eines Sterilisierungsgesetzes... mit Eifer und Nachdruck einzusetzen .[3]«

Dabei hielt er, je nach Anstaltstyp, bei 30-50% der Zöglinge eine Sterilisierung für erforderlich. Als leitender Arzt der Bodelschwinghschen Anstalten war er an Sterilisationsmaßnahmen beteiligt. Er gehörte als Vertreter von Bethel dem Ständigen Ausschuß für Fragen der Rassenhygiene und Rassenpflege an [4]. Über Villinger, der am 1. Mai 1937 in die NSDAP eintrat, und die Zeit des Nationalsozialismus ist nachzulesen:

»Wie viele Patienten unter VILLINGERS Leitung in Bethel sterilisiert wurden, läßt sich nicht mehr feststellen. 1937 sagte er auf einer Ausschußsitzung: 'Bei 750 durchgeführten Sterilisierungen haben wir keine nachteiligen Folgen körperlicher oder psychischer Art beobachtet. Bei FE-Erziehungszöglingen besitzen wir die Erfahrungen über einige hundert Fälle (nur männlich) und haben nie gesehen, dass ernstliche Folgen aufgetreten sind'... WERNER VILLINGER wurde im März 1937 Beisitzer beim Erbgesundheitsgericht beim Oberlandesgericht Hamm... Er wurde Mitglied in der NSV und im NSD-Ärztebund.[5]«

Villinger war ab 1937 als Richter am Erbgesundheitsobergericht (EGOG) Hamm und ab 1940 am EGOG Breslau tätig.[6] Wenig erforscht und bekannt ist Villingers Beteiligung an der Euthanasie-Aktion T4. Es gibt jedoch zwei Gutachterlisten, in den er mit Eintrittsdatum 28. März 1941 als T4-Gutachter geführt wird. Der Mediziner selbst bestritt zeitlebens eine Beteiligung an der Aktion.[7]

Ab dem 1. Februar 1940 wurde Villinger Ordinarius für Psychiatrie und Nervenheilkunde an der Universität Breslau. Villinger war zudem im Wehrkreis VIII (Breslau) als beratender Wehrmachtspsychiater, zuletzt im Rang eines Oberstarztes eingesetzt. Er war zudem Herausgeber der „Zeitschrift für Kinderforschung“.[6]

Anfang 1945 kehrte Villinger nach Tübingen zurück. Dort wurde er mit der kommissarischen Leitung der Universitäts-Nervenklinik betraut. Etwa ein Jahr später übersiedelte er nach Marburg, wo er bald zum Direktor der dortigen Universitäts-Nervenklinik ernannt wurde. Nach seinem Entnazifizierungsverfahren, bekleidete er von 1949 bis 1950 das Amt des Dekans der Medizinischen Fakultät und im Wintersemester 1950/51 sowie von 1955 bis 1956 die Position des Rektors der Philipps-Universität. Von 1951 bis 1953 war VILLINGER Präsident der Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater.[8]

Schon in den ersten Nachkriegsjahren suchte er die durch den Krieg unterbrochenen Verbindungen zu den ausländischen Kinderpsychiatern zu überwinden. Er war sich mit dem französischen Kinderpsychiater Georges Heuyer (1949) darin einig, diese Lücke so bald wie möglich zu schließen... Das in der Nachkriegszeit (1952) von Villinger verfasste kinderpsychiatrische Kapitel im 'Lehrbuch der Nerven- und Geisteskrankheiten' von Hans Walter Gruhle und Wilhelm Weygandt gehörte zu den wenigen kinder- und jugendpsychiatrischen Monographien der Nachkriegszeit.[9]

Villinger unterstützte die 1958 in Marburg gegründete Bundesvereinigung der Lebenshilfe für das geistig behinderte Kind. Ab 1958 war er Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung[10]. Er war Vorsitzender des wissenschaftlichen Beirats der Vereinigung. Der Mediziner wurde 1961 Gutachter im Wiedergutmachungsausschuss des Deutschen Bundestages. Er prägte den Begriff der "Entschädingungsneurose", was zur Folge hatte, dass die während der NS-Diktatur Zwangssterilisierten aus dem Bundesentschädigungsgesetz herausfielen.[11]

Ende Juli 1961 sollte Werner Villinger vom Amtsgericht Marburg erneut zu seiner T4 Mitgliedschaft vernommen werden. Wenige Tage später verunglückte er tödlich bei einer Bergtour in der Nähe von Innsbruck, wo er auf einem Kongress weilte. Hinter vorgehaltener Hand ging damals in Marburg 'das Wort der Selbsttötung' um.[12] Erstaunlicherweise wurde sein Tod von der Schriftleitung der renommierten Fachzeitschrift Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie ignoriert, nicht einmal ein Hinweis tauchte in der Rubrik Mitteilungen auf.

Ehrungen

Werke (Auswahl)

  • Die Kinderabteilung der Universitätsnervenklinik Tübingen, in: Zeitschrift für Kinderforschung 1923/Jhg. 28, S. 128-160
  • Die seelischen Nöte der Großstadtjugend, in: Zeitwende 1928, S. 1-11
  • Charakterologische Beurteilung der schwererziehbaren Jugendlichen, insbesondere der jugendlichen Psychopathen, in: Sekretariat der Internationalen Gesellschaft für Heilpädagogik (Hrsg.): Bericht über den I. Internationalen Kongreß für Heilpädagogik, Zürich 1939, S. 239-258
  • Erziehung und Erziehbarkeit, in: Zeitschrift für Kinderforschung 1953/Jhg. 49, s. 17-27
  • Child Guidance Clinics, in: Unsere Jugend 1949/Jhg. 1, S. 18-23
  • Moderne Probleme der Jugendpsychiatrie, in: Der Nervenarzt 1952/Jhg. 23, S. 201-209
  • Das Jugendgerichtsgesetz aus jugendpsychiatrischer Sicht, in: Praxis für Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie 1955/Jhg. 4, S. 1-4

Literatur

  • Martin Holtkamp: Werner Villinger (1887-1961). Die Kontinuität des Minderwertigkeitsgedankens in der Jugend- und Sozialpsychiatrie, Matthiesen Verlag, Husum 2002 (Abhandlungen zur Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften 97), ISBN 978-3-7868-4097-8
  • Ernst Klee: Das Personenlexikon zum Dritten Reich: Wer war was vor und nach 1945?, S. Fischer, Frankfurt am Main 2003, ISBN 3-10-039309-0 (Aktualisierte Ausg., Fischer Taschenbuch Verlag, 2005 (Fischer Tb.; 16048), ISBN 978-3-596-16048-8).
  • Ernst Klee: „Euthanasie“ im NS-Staat. Die „Vernichtung lebensunwerten Lebens“; Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag, 1983; ISBN 3-10-039303-1.
  • Ernst Klee: Was sie taten – Was sie wurden. Ärzte, Juristen und andere Beteiligte am Kranken- oder Judenmord. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt a. M. 1986 (Fischer Tb.; 4364), ISBN 3-596-24364-5
  • Hans-Walter Schmuhl: Zwischen vorauseilenden Gehorsam und halbherziger Verweigerung. Werner Villinger und die nationalsozialistischen Medizinverbrechen, in: Der Nervenarzt 2002/Nr. 73, S. 1058-1063
  • J. Wilkes: Wie erlebten Jugendliche ihre Zwangssterilisation in der Zeit des Nationalsozialismus. Aus dem Bericht eines verantwortlichen Arztes, in: Der Nervenarzt 2002/Nr. 73, S. 1055-1057
  • Rolf Castell et al.: Geschichte der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Deutschland in den Jahren 1937 bis 1961, Göttingen 2003, S. 463-480
  • Gerhardt Nissen: Kulturgeschichte seelischer Störungen bei Kindern und Jugendlichen, Stuttgart 2005, S. 467-472
  • Landesverband Hessen (Hrsg.): Aus der Geschichte lernen - die Heimerziehung in den 50er und 60er Jahren, die Heimkapagne und die Heimreform, Kassel 2008

Siehe auch

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Ernst Klee: Was sie taten – Was sie wurden. Ärzte, Juristen und andere Beteiligte am Kranken- oder Judenmord , Frankfurt am Main 2004, S. 170f.
  2. (Villinger 1939 , S. 257)
  3. (zit. n. Wilkes 2002, S. 1055)
  4. (vgl. Castell et a. 2003, S. 465)
  5. (Castell et al. 2003, S. 467 )
  6. a b Ernst Klee: Das Personenlexikon zum Dritten Reich, Frankfurt am Main 2007, S. 641.
  7. (Castell et al. 2003, S. 469)
  8. (Castell et al. 2003, S. 475)
  9. (Nissen 2005, S. 467 f)
  10. (Katharina Gröning, Entwicklungslinien pädagogischer Beratungsarbeit 2010, VS-Verlag, S. 119)
  11. (vgl. Landesverband Hessen 2006, S. 64)
  12. Wolfram Schäfer: Beiträge zur Geschichte der Marburger Kinder- und Jugendpsychiatrie

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