Westgotische Architektur

Westgotische Architektur
Santa María de Quintanilla de las Viñas

Als Westgotische Architektur bezeichnet man den präromanischen Baustil des Westgotenreiches, das in der Spätantike im Westen des Römischen Reiches zunächst als Tolosanisches Reich entstand und als Reich von Toledo bis zur maurischen Eroberung 711 n. Chr. auf der Iberischen Halbinsel bestand. Im christlich gebliebenen Norden entwickelte sich als Vorläufer der romanischen Architektur die asturische Präromanik. In besetzten Spanien (Al Andalus) schufen die unter maurischer Herrschaft lebenden Christen die mozarabische Architektur, die sie mit dem Fortschreiten der Reconquista im christlichen Spanien verbreiteten.

Inhaltsverzeichnis

Geschichtlicher Hintergrund

Entwicklung des Westgotenreiches; rotorange: Ansiedlung der Westgoten in Aquitanien ab 418; orange und hellorange: Ausbreitung des Westgotenreiches bis 507; orange: Westgotenreich (mit Septimanien) zwischen 507 und 552; grün: Suebenreich gehört ab 585 zum Westgotenreich
blaugrün: Westgotenreich zwischen 552 und 585, rot: Suebenreich; hellgrün: Gebiet der Basken; gelb: Oströmische Provinz Spania von 552/553 bis 625

Die Westgoten waren ein germanisches Volk, das während der Völkerwanderungszeit in das Römische Reich eindrang und 410 Rom plünderte. Anschließend zogen sie nach Westen, in das heutige Südwestfrankreich und gelangten bis nach Katalonien. 418 wurden sie von den Römern als Foederaten in Aquitanien, im Südwesten Galliens, angesiedelt. Dort entstand das so genannte tolosanische Westgotenreich, benannt nach der Hauptstadt Tolosa, der heutigen Stadt Toulouse. Die Westgoten dehnten dieses Reich im Norden bis zur Loire und im Osten bis zur Rhône aus. Im Süden erstreckte es sich fast über die gesamte Iberische Halbinsel. Dort verdrängten die Westgoten die Vandalen und Alanen. Im Norden besaßen die Basken und Kantabrer noch Gebiete, und im Nordwesten bestand bis 585 das Suebenreich. Unter König Eurich (466–484) erreichte das Westgotenreich seine größte Ausdehnung. 507, unter Eurichs Sohn Alarich II. (484–507), wurden die Gebiete nördlich der Pyrenäen mit Ausnahme Septimaniens (des nördlichen Teils Kataloniens, des Roussillon und eines Teils des Languedoc) von dem Frankenkönig Chlodwig I. (482–511) erobert. Die Westgoten zogen sich daraufhin auf die Iberische Halbinsel zurück. Ihre neue Hauptstadt wurde zunächst Barcino (heute Barcelona), unter dem König Leovigild (569–586) wurde Toledo zur Hauptstadt. Die Westgoten waren Anhänger des Arianismus, einer christlichen Lehre, nach der Jesus nicht als wesensgleich mit Gottvater, sondern nur als wesensähnlich und von diesem geschaffen angesehen wurde. Diese Lehre widersprach der katholischen Trinitätslehre und war ein Hindernis für die Assimilation der Westgoten, die nur 10 % der Bevölkerung ausmachten. Die hispanischen Einwohner waren katholisch. 587 trat König Rekkared I. (586–601) zum katholischen Glauben über, und anlässlich des dritten Konzils von Toledo im Jahr 589 folgte ihm die westgotische Bevölkerung. Dies löste eine religiöse Begeisterung aus, und es wurden neue Klöster gegründet. Das toledanische Westgotenreich bestand bis zur maurischen Eroberung der Iberischen Halbinsel im Jahr 711.

Stilmerkmale

Baumaterial

Die Kirchen der Westgotenzeit sind aus großen, sorgfältig behauenen Steinquadern errichtet, die in regelmäßigen Schichten und ohne Mörtel aneinandergefügt wurden. Sie erinnern an römische Bauten wie den Aquädukt von Segovia oder das Mausoleum des Theoderich (474–526), des ostgotischen Königs, der ab 511 auch über die Westgoten herrschte. Diese Bauten heben sich deutlich ab von den frühchristlichen Bauten der Iberischen Halbinsel, die aus Bruchsteinmauerwerk (opus incertum), Ziegel und Holz errichtet waren und von denen in Asturien noch Reste erhalten sind.

Grundriss

Der Grundriss der Kirchen ist häufig ein griechisches Kreuz, z.B. in Santa Comba de Bande, São Frutuoso de Montélios und Santa María de Melque. Über dem Schnittpunkt der Kreuzarme erhebt sich ein quadratischer, turmartiger Aufbau. Bei der Kapelle São Frutuoso de Montélios, die in ihrem Aufbau an das Mausoleum der Galla Placidia in Ravenna erinnert, enden drei Arme in hufeisenförmigen Apsiden. In Santa María de Melque schließt sich an den östlichen Arm eine hufeisenförmige Apsis an. Die Kirchen San Juan de Baños und Santa María de Quintanilla de las Viñas, von der nur noch die Apsis und ein verkürztes Querhaus erhalten ist, entsprechen der Gebäudeform der frühchristlichen Basilika. Sie sind dreischiffig und ihr Grundriss ist ein lateinisches Kreuz (ggf. mit Anbauten Mosteiros). An das Langhaus schließt sich im Osten eine quadratische Apsis an, in San Juan de Baños besaßen ursprünglich auch das südliche und nördliche Querhaus eine Apsis an der Ostseite. Die Eingänge zu diesen Kirchen befinden sich im Westen.

Santa Comba de Bande, Hufeisenbogen und korinthische Kapitelle
Santa María de Melque, Hufeisenbögen und profilierter Fries am Gewölbeansatz
Krypta von San Antolín in der Kathedrale von Palencia

Decken und Gewölbe

Bei den Kirchen mit basilikalem Grundriss tragen Haupt- und Seitenschiffe Holzdecken, die Kreuzarme der Zentralbauten besitzen Tonnengewölbe. Die Apsiden sind mit Tonnengewölben oder Vierteltonnen gedeckt.

Hufeisenbogen

Der Hufeisenbogen kommt in der westgotischen Architektur häufig vor. Er wurde bereits in Syrien und Kleinasien verwendet und findet sich in den frühchristlichen Kirchen der Spätantike. Der Hufeisenbogen wird oft als typisch maurisches Stilelement betrachtet und findet sich in den Bauwerken der mozarabischen Architektur und im maurischen Spanien. Im Unterschied zum mozarabischen Hufeisenbogen ist der westgotische Hufeisenbogen nicht so eng geschlossen und er ist nicht von einer Alfizleiste eingefasst. Auch besitzt der westgotische Hufeisenbogen oft keinen Schlussstein und weist auf beiden Seiten die gleiche Anzahl von Keilsteinen auf. Die unteren Keilsteine sind breiter als die oberen. Laibung und Bogenrücken verlaufen konzentrisch.

Hufeisenbögen wurden für Gurt- und Schildbögen verwendet. Wie in San Juan de Baños oder San Pedro de la Nave stehen sie zwischen Haupt- und Seitenschiffen und verbinden die Apsis mit dem Langhaus. Auf ihnen ruht der Vierungsaufsatz der Zentralbauten wie in Santa Comba de Bande oder Santa María de Melque.

Säulen, Kapitelle und Dekor

San Pedro de la Nave, Daniel in der Löwengrube

Für Säulen und Kapitelle wurden häufig Spolien aus römischer Zeit verwendet. In Santa Comba de Bande sind die Kapitelle Nachahmungen korinthischer Vorbilder. In Santa María de Melque verläuft sowohl außen, unter dem Dachansatz, als auch innen, unter dem Ansatz des Gewölbes, ein schlichter profilierter Fries, der sich auch auf den Kämpfern fortsetzt. In San Juan de Baños zieren Rosetten und Vierpass die Friese des Innenraumes und den Hufeisenbogen des Eingangsportals. In Santa María de Quintanilla de las Viñas sind auch die Keilsteine des Triumphbogens mit einem Fries aus Weinranken, die sich kreisförmig um Trauben, Blätter und Vögel schlingen, versehen. In San Pedro de la Nave verläuft an den Kämpfern ein Fries von Weinranken, Vögeln und menschlichen Köpfen. Ein anderer Fries weist geometrische Motive wie Quadrate und in Taubändern gefasste Kreise mit Weinreben, Blütenblättern und Sonnenrädern auf.

An zwei Kapitellen von San Pedro de la Nave sind biblische Szenen dargestellt: Abraham opfert seinen Sohn Isaak und Daniel in der Löwengrube, seitlich die Apostel Petrus, Paulus, Thomas und Philippus. Figürliche Darstellungen findet man auch in Santa María de Quintanilla de las Viñas an den beiden Kämpferblöcken, auf denen der Triumphbogen aufliegt. Auf beiden Seiten halten zwei Engel ein Medaillon mit einer bärtigen Figur. Die rechte Figur ist durch einen Strahlenkranz über dem Kopf und die Inschrift SOL (Sonne) eindeutig bestimmt, die linke Figur mit einer Mondsichel und den Buchstaben LUNA (Mond). SOL und LUNA gelten als Symbol von Christus und Kirche. Auf Steinblöcken in der Apsis sind Figuren dargestellt, die Bücher in den Händen halten und als Evangelisten oder Apostel interpretiert werden. Die figürlichen Szenen gelten als Vorläufer des Skulpturenschmucks romanischer Kapitelle.

Cámara oculta

Wie auch in den Kirchen der asturischen Präromanik und den mozarabischen Kirchen weisen die Kirchen San Pedro de la Nave oder Santa Comba de Bande über der Apsis eine sogenannte cámara oculta, eine verborgene oder blinde Kammer auf. Während diese Kammern in den asturischen Kirchen eine große, oft als Dreierarkade gestaltete Öffnung nach außen besitzen (z.B. San Tirso in Oviedo oder San Pedro de Nora) sind die Kammern der westgotischen Kirchen nur zum Kircheninnenraum geöffnet und nur über eine Leiter zugänglich. Ihre Bedeutung ist nicht geklärt.

Westgotische Bauwerke

Saint-Martin-des-Puits, 9. Jahrhundert
Saint Michel de Sournia, 10. Jahrhundert
Saint-Laurent de Moussan, 9. Jahrhundert

In der französischen Region Languedoc-Roussillon, dem einstigen Septimanien, das auch nach der fränkischen Eroberung des tolosanischen Reiches zum Westgotenreich gehörte, sind noch an Kapellen aus dem 9. und 10. Jahrhundert Merkmale der westgotischen Architektur nachzuweisen.

    • Saint-Georges de Lunas in Lunas (Département Hérault)
    • Saint-Jérôme d'Argelès in Argelès-sur-Mer (Département Pyrénées-Orientales), 10. Jahrhundert
    • Saint-Laurent de Moussan in Moussan (Département Aude), 9. Jahrhundert
    • Saint-Martin de Fenollar in Maureillas-las-Illas (Département Pyrénées-Orientales), 10. Jahrhundert
    • Saint-Martin-des-Puits in Saint-Martin-des-Puits (Département Aude), 9. Jahrhundert
    • Saint-Michel de Sournia in Sournia (Département Pyrénées-Orientales), 10.Jahrhundert
    • Saint-Nazaire de Roujan in Roujan, (Département Hérault), 9./10. Jahrhundert

Siehe auch

Literatur

  • Helmut Schlunk/Theodor Hauschild: Denkmäler der frühchristlichen und westgotischen Zeit, Hispania Antiqua, Verlag Philipp von Zabern, Mainz 1978, ISBN 3-8053-0276-2
  • Jaime Cobreros: Guía del Prerrománico en España, Madrid 2006, ISBN 84-9776-215-0
  • Jacques Fontaine: L'Art Préroman Hispanique, Bd. 1, Zodiaque, La Pierre-qui-Vire, 2. Auflage 1973
  • Jacques Lugand/Jean Nougaret/Robert Saint-Jean: Languedoc Roman, Bd. 1, Zodiaque, La Pierre-qui-Vire, 2. Auflage 1985, ISBN 2-7369-0017-0
  • Pedro de Palol/Max Hirmer: Kunst des frühen Mittelalters vom Westgotenreich bis zum Ende der Romanik, Hirmer Verlag, München 1991, ISBN 3-7774-5730-2

Weblinks

 Commons: Westgotische Architektur – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

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