Wilhelm Murr

Wilhelm Murr
Wilhelm Murr

Wilhelm Murr (* 16. Dezember 1888 in Esslingen am Neckar; † 14. Mai 1945 in Egg) war ein nationalsozialistischer Politiker. Von Februar 1928 bis zu seinem Tod war er Gauleiter der NSDAP in Württemberg-Hohenzollern, von März bis Mai 1933 außerdem Staatspräsident und dann bis 1945 Reichsstatthalter in Württemberg.

Inhaltsverzeichnis

Leben

Murr wuchs in Esslingen in ärmlichen Verhältnissen auf und verlor im Alter von 14 Jahren beide Eltern. Er besuchte die Volksschule bis zur 7. Klasse. Nach einer kaufmännischen Ausbildung und Berufstätigkeit absolvierte er von 1908 bis 1910 den Militärdienst und arbeitete dann als kaufmännischer Angestellter bei der Maschinenfabrik Esslingen. Im Ersten Weltkrieg war er an allen Fronten eingesetzt, brachte es bis zum Rang eines Vizefeldwebels und erlebte das Kriegsende 1918 verletzt im Lazarett in Cottbus.

Murr engagierte sich im Deutschnationalen Handlungsgehilfen-Verband (DHV), einer rechtskonservativen und antisemitischen Angestelltengewerkschaft, der er schon vor dem Krieg beigetreten war. Dort kam er in Berührung mit den Schriften des Antisemiten Theodor Fritsch, dessen Ansichten er sich weitgehend zu eigen machte. Zur gleichen Zeit war er Mitglied im Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbund.[1] Der NSDAP trat er im Sommer 1923 und nach dem zeitweiligen Verbot der Partei erneut im August 1925 bei. An seinem Arbeitsplatz, der Maschinenfabrik Esslingen, rekrutierte er eifrig neue Kampfgenossen. Eine Arbeiterzeitung kritisierte im September 1927, Murrs einzige Aufgabe dort sei es, „Hakenkreuzler in den Betrieb zu schmuggeln“. Aus dieser Zeit rührt auch seine Bekanntschaft mit Richard Drauz, dem späteren NSDAP-Kreisleiter Heilbronns, den Murr später oft protegierte.

Nach heftigen innerparteilichen Querelen konnte der Esslinger NSDAP-Ortsgruppenleiter Murr, der hier wie auch später durch rücksichts- und skrupellose Methoden auffiel, schließlich den amtierenden NSDAP-Gauleiter Eugen Munder von der Macht verdrängen. Im Februar 1928 ernannte ihn Hitler zum Gauleiter der NSDAP in Württemberg-Hohenzollern. Einer seiner Rivalen, den er dabei ausbooten konnte, war der spätere württembergische Ministerpräsident Christian Mergenthaler, der Murr auch später in Machtkämpfen immer wieder unterlag. Durch strikte Hörigkeit gegenüber Hitler und der Parteiführung gegenüber gelang es Murr, seine Stellung in Württemberg zu festigen. Bei der Reichstagswahl 1930, in welcher der NSDAP mit einer Steigerung des Stimmenanteils von 2,6 auf 18,3 % erstmals ein Durchbruch gelang, wurde Murr zum Reichstagsabgeordneten der NSDAP für den Wahlkreis 31 (Württemberg) gewählt. Im Oktober desselben Jahres gab er seine Tätigkeit in der Maschinenfabrik Esslingen auf und wurde hauptberuflich für die Partei tätig. Die Mitgliederzahlen und die Finanzsituation der NSDAP in Württemberg verbesserten sich. Ab Anfang 1931 konnte Murr ein eigenes Propagandablatt herausbringen, den NS-Kurier, in dem er bis 1945 zahlreiche Leitartikel veröffentlichte, die nicht durch geistige Brillanz auffielen, aber getreulich die offizielle Parteilinie wiedergaben.

Nach der Machtergreifung wählte ihn der Württembergische Landtag am 15. März 1933 unter nationalsozialistischem Druck zum württembergischen Staatspräsidenten und Nachfolger seines politischen Feindes Eugen Bolz. Murr übernahm zugleich das Innen- und Wirtschaftsministerium. Am 6. Mai 1933 wurde Murr in die neu geschaffene Position des Reichsstatthalters in Württemberg berufen; das Amt des württembergischen Staatspräsidenten wurde abgeschafft, der Landtag jeder Funktion beraubt. Sein Rivale Mergenthaler, seit Frühjahr 1932 schon Landtagspräsident, wurde Ministerpräsident, Kult- und Justizminister. Murrs offensichtliche intellektuelle Defizite wurden als Volksnähe verbrämt, der Reichsstatthalter in der Propaganda als „Mann aus dem Volk“ ausgegeben. Joseph Goebbels hingegen bezeichnete Murr in einem Tagebucheintrag vom 31. Juli 1933 als „Parvenü“. Nach seiner Berufung zum Reichsstatthalter erhielt Murr im Mai 1933 die Ehrenbürgerschaft zahlreicher Städte und Gemeinden; in Böblingen war er schon seit März 1933 Ehrenbürger.

Als Murr 1938 erfuhr, dass der Bischof von Rottenburg, Joannes Baptista Sproll, sich nicht an der Volksabstimmung über die Angliederung Österreichs vom 10. April beteiligt hatte, inszenierte er mit Zeitungsartikeln und organisierten Demonstrationen eine Kampagne gegen Sproll, die den Behörden den Anlass lieferte, den Bischof des Landes zu verweisen und nach Bayern zu vertreiben.

Zu Kriegsbeginn im September 1939 wurde Murr zum Reichsverteidigungskommissar im Wehrkreis V ernannt, was ihm einen Machtzuwachs bescherte. Wichtige Bereiche des Militärs und der Zivilverwaltung unterstanden ihm nun direkt oder mussten sich de facto mit ihm arrangieren. Ohne Zustimmung Murrs oder seiner Beauftragten konnte in Württemberg praktisch nichts mehr geschehen. Der Mord an den Juden und an den Geisteskranken konnte wegen Murrs bedingungsloser Ausführung der Befehle von Führer und Partei in Württemberg reibungslos vonstatten gehen.

Nach zunehmenden Fliegerangriffen auf Stuttgart hatte Murr 1943 erste Vorahnungen eines bösen Endes. Er bereitete zwar Evakuierungsmaßnahmen für Stuttgart vor, ließ sich aber äußerlich nichts anmerken und blieb in der Öffentlichkeit das getreue Sprachrohr von Hitler und Goebbels. Auch als sich Ende Januar 1944 Murrs einziger Sohn Winfried, bei der Waffen-SS in Belgien eingesetzt, im Alter von 21 Jahren erschoss, um einem Kriegsgerichtsverfahren wegen Vergewaltigung zuvorzukommen, stellte Murr seine bedingungslose Loyalität dem Führer gegenüber nicht in Frage und versicherte Hitler am 1. März, weiter in dessen Dienst zu stehen.

Vor und nach Kriegsende

Die im Dezember 1944 bekannt gewordenen Evakuierungspläne, die vorsahen, die Stuttgarter Bevölkerung in 20-Kilometer-Tagesmärschen nach Südosten zu führen und die Stadt zu zerstören, gab Murr im März 1945 auf. Am 10. April rief er noch zur Verteidigung der Stadt bis zum Äußersten auf und verbot am 13. April unter Androhung von Exekution und Sippenhaft das Zerstören von Panzersperren und Hissen von weißen Fahnen. Er selber hingegen floh am 19. April unter falschem Namen zusammen mit seiner Frau und weiteren Begleitern aus Stuttgart. Über das ehemalige Kloster Urspring bei Schelklingen, Kißlegg, Wangen im Allgäu, Kressbronn am Bodensee und weitere Stationen gelangte der Flüchtlingstross in das Große Walsertal. Bis zum 12. Mai blieben Murr, seine Frau und zwei Adjutanten auf der Biberacher Hütte und wechselten dann in eine Almhütte oberhalb von Schröcken über. Dort wurden sie am Morgen des 13. Mai von französischen Soldaten festgenommen, denen gegenüber sich Murr als Walter Müller ausgab. Die Verhafteten wurden zunächst nach Schoppernau, dann nach Egg gebracht, wo sich zuerst Murrs Frau und dann Murr selbst durch mitgeführte Giftampullen umbrachten. Beide wurden auf dem Friedhof von Egg beerdigt.

Die amerikanischen Besatzer hatten Murr auf eine Liste potenzieller Kriegsverbrecher (List of Potential War Criminals under Proposed US Policy Directives) gesetzt und fahndeten nach ihm. Schon bald schöpften Amerikaner und Franzosen den Verdacht, Murr könne tot sein, und nahmen zusammen mit der württembergischen Polizei Ermittlungen auf, die sie nach Egg führten. Am 16. April 1946 wurde das Grab von „Walter Müller“ und seiner Frau geöffnet. Sein früherer Zahnarzt konnte Murr anhand seines Gebisses eindeutig identifizieren.

Am 13. Oktober 2011 wurde bekannt, dass die Stadt Böblingen Murr die Ehrenbürgerschaft aberkennen will.[2]

Siehe auch

Literatur

  • Paul Sauer: Wilhelm Murr. Hitlers Statthalter in Württemberg. Silberburg-Verlag, Tübingen 1998, ISBN 3-87407-282-7
  • Joachim Scholtyseck: „Der Mann aus dem Volk“. Wilhelm Murr, Gauleiter und Reichsstatthalter in Württemberg-Hohenzollern. In: Die Führer der Provinz. NS-Biographien aus Baden und Württemberg. 2. Auflage, Studienausgabe. Universitäts-Verlag Konstanz, Konstanz 1999, ISBN 3-87940-679-0 [ISBN 3-87940-566-2 (1. Aufl.)] (Karlsruher Beiträge zur Geschichte des Nationalsozialismus. Bd. 2). S. 477–502, 878
  • Frank Raberg: Biographisches Handbuch der württembergischen Landtagsabgeordneten 1815–1933. Kohlhammer, Stuttgart 2001, ISBN 3-17-016604-2, S. 595. 

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Uwe Lohalm: Völkischer Radikalismus. Die Geschichte des Deutschvölkischen Schutz- und Trutz-Bundes. 1919–1923. Leibniz-Verlag, Hamburg 1970, ISBN 3-87473-000-X. S. 314.
  2. Wilhelm Murr fällt aus dem Stadtgedächtnis.

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