Zweite industrielle Revolution

Zweite industrielle Revolution

Als zweite industrielle Revolution wird in der wirtschaftsgeschichtlichen Forschung eine zweite Phase der Industrialisierung nach der ersten Industriellen Revolution bezeichnet. Dabei ist die zeitliche Einordnung und die Begriffsdefinition selbst nicht einheitlich. Im Wesentlichen lässt sich eine deutsche und eine angloamerikanische Variante unterscheiden. Die französisch- und deutschsprachige Forschung setzt die zweite industrielle Revolution etwa seit den 1870er und 1880er Jahren mit dem Aufstieg neuer Führungssektoren insbesondere der chemischen Industrie und der Elektrotechnik an. Damit fällt dies in die Phase der Hochindustrialisierung in Deutschland. Die angloamerikanische Variante betont dagegen den Übergang zur Massenproduktion sowie zu neuen industriellen Organisationsformen (Fordismus, Taylorismus) insbesondere seit den 1920er Jahren.

Inhaltsverzeichnis

Begriffsgeschichte

Erstmals formuliert wurde der Begriff der zweiten industriellen Revolution von Georges Friedmann im Jahr 1936. Für ihn war die Nutzung der Elektrizität die entscheidende Neuerung. Später wurde diese Sicht weiter differenziert. Angesichts der ökonomischen und wissenschaftlichen Entwicklung hat Georg Friedmann in den 1960er Jahren von einer dritten industriellen Revolution gekennzeichnet von der Automatisierung und der Nutzung der Atomenergie gesprochen.[1]

Begriff in der deutschen Wirtschaftsgeschichte

Die neuen Industrien basierten auf der Verbindung von Forschung und industrieller Produktion. Es wurden insbesondere chemische und physikalische Erkenntnisse in großem Stil ökonomisch genutzt. Neben den Universitäten unterhielten die Firmen eigene Forschungs- und Entwicklungseinrichtungen. Damit verlor das Erfahrungswissen der Beschäftigten in der Produktion an Bedeutung.[2]

Mit dem raschen Wachstum lösten sie Textilindustrie und Montanindustrie als Leitbranchen ab. Im Gegensatz zur ersten industriellen Revolution, war die deutsche Wirtschaft führend. Hatte sie früher Techniken und Kenntnisse insbesondere aus England importieren müssen, wurde sie nun zum Technologieexporteur. Zu den neuen forschungs- und wissenorientierten Branchen zählten neben der Chemischen Industrie und der Elektrotechnik auch der Maschinenbau und die optische Industrie.[3] Gerade in der pharmazeutischen Industrie entstanden große unternehmenseigene Forschungslabors. Ähnlich war die Entwicklung in der Elektroindustrie. Werner von Siemens, selbst Techniker und Physiker, baute für sein Unternehmen seit den 1860er Jahren ein Labor auf, dass zu einer großen firmeninternen Forschungseinrichtung entwickelte. Wichtig war daneben auch der Kontakt der Wirtschaft zu den Universitäten und den außeruniversitären Forschungseinrichtungen wie der 1887 gegründeten Physikalisch-Technischen Reichsanstalt.[4]

Im Bereich der chemischen Industrie gewannen Soda und Schwefelsäure als Grundlage neuer Produkte wie etwa für den synthetischen Farbstoff Anilin an Bedeutung.[5]

Neben dem bislang dominierenden Energieträger Kohle spielte Erdöl eine wachsende Rolle. Es diente zum Antrieb von Explosionsmotoren (Otto-Motor, Diesel-Motor).

Weiter wurde die Elektrizität im größeren Maßstab genutzt (Generator (ab 1866), Glühlampe, Elektromotor etc.). Durch die Nutzung des elektrischen Stroms verbesserte sich auch die Kommunikation erheblich. Neben der älteren (Telegraphie (ab ca. 1840) trat etwa das Telefon (ab ca. 1880)).

Angloamerikanische Tradition

In Teilen der deutschen Forschung werden die Innovationsschübe der 1920/1930er Jahren als Beginn einer dritten industriellen Revolution aufgefasst. Diese war durch die Rationalisierung der Fertigung durch die Einführung des Fließbands (1913, Ford-Werke) gekennzeichnet.[6]

Vor allem in der angloamerikanischen Forschung wird der Durchbruch zur Massenproduktion und die wissenschaftliche Betriebsführung des Taylorismus/Fordismus dagegen erst als zweite industrielle Revolution bezeichnet. Hintergrund für die Unterschiede ist unter anderem, dass für die USA der erste Weltkrieg kein so entscheidender auch ökonomischer Einschnitt war wie in Europa. In den USA setzte im Übrigen die Massenproduktion von Stahl und der Eisenbahnbau im größeren Stil später ein als in Europa, während der Massenkonsum deutlich eher einsetzte.[7]

Andere Nutzung des Begriffs

In verschiedenen älteren Quellen [8][9] wurde die Phase der zweiten Industriellen Revolution seit etwa 1950 angesetzt. Ihre Grundlage ist die Rationalisierung der industriellen Fertigung durch Automatisierung; eine fortgeschrittene Form von Automatisierung ist die Einführung von Industrierobotern (ab 1970).

Kritik

Der Begriff der zweiten industriellen Revolution ist umstritten. So betonen Kritiker dieses Konzepts, dass die Bedeutung von Erfindungen und der ökonomischen Nutzung von wissenschaftlichen Erkenntnissen verkennt, dass dieser Aspekt auch schon zuvor nicht unbekannt war. Auch die Ableitung des Begriffs von der Verwendung neuer Materialien wie Leichtmetall, Plastik, Erdöl oder anderes blieb nicht ohne Kritik. Auch in der ersten industriellen Revolution gab es im Grunde synthetische Produkte. Es wurde Kohle zu Koks verwandeln und aus Roheisen Stahl erzeugt. Richtig ist auch für die Kritiker, dass die Schwerindustrie seit den 1870er Jahren ihre Leitfunktion an die Elektroindustrie, die chemischen Industrie, die optische Industrie und den Fahrzeugbau als „Neue Industrien“ abgab.[10]

Einzelnachweise

  1. Johan Hendrick Jacob von der Pott: Sinndeutung und Periodisierung in der Geschichte. Leiden u.a, 1999 S.411
  2. Dick van Lente, Bert Altena: Gesellschaftsgeschichte der Neuzeit 1750-1989 Göttingen, 2009 S.169
  3. Hans-Werner Hahn: Die industrielle Revolution in Deutschland. München, 2005: S. 42
  4. Christian Kleinschmidt: Technik und Wirtschaft im 19. und 20. Jahrhundert. Göttingen, 2007 S.94
  5. Dick van Lente, Bert Altena: Gesellschaftsgeschichte der Neuzeit 1750-1989 Göttingen, 2009 S.169
  6. Toni Pierenkemper: Wirtschaftsgeschichte. Die Entstehung der modernen Volkswirtschaft. Berlin, 2009S.88
  7. Dieter Ziegler: Die industrielle Revolution. Darmstadt, 2005 S.101
  8. dtv-Lexikon, München, 1975, Artikel: "Industrielle Revolution"
  9. Fuchs, Konrad; Raab, Heribert, Hgg.: dtv Wörterbuch zur Geschichte, 3. Auflage, München, 1977, Artikel: "Industrielle Revolution"
  10. Dieter Ziegler: Die industrielle Revolution. Darmstadt, 2005 S.102f.

Siehe auch


Wikimedia Foundation.

Игры ⚽ Поможем сделать НИР

Schlagen Sie auch in anderen Wörterbüchern nach:

  • Industrielle Revolution — Coalbrookdale at night. Ölgemälde von Philipp Jakob Loutherbourg d. J. aus dem Jahr 1801. Coalbrookdale gilt als eine der Geburtsstätten der Industriellen Revolution, da hier der erste mit Koks gefeuerte Hochofen betrieben wurde. Als Industrielle …   Deutsch Wikipedia

  • Erste industrielle Revolution — Mechaniker arbeitet an einer Dampfpumpe (1920), eines der berühmtesten Bilder des sozialdokumentarischen US Fotografen Lewis W. Hine Als Industrielle Revolution wird die schnelle und nachhaltige Umgestaltung der wirtschaftlichen und sozialen… …   Deutsch Wikipedia

  • Industrielle Revolution (Deutschland) — Die industrielle Revolution ist die Phase des Durchbruchs der industriellen Entwicklung in Deutschland. Vorausgegangen waren die hier mitbehandelten Zeiträume der Vor und Frühindustrialisierung. Nachfolgend gelten die Jahrzehnte zwischen den… …   Deutsch Wikipedia

  • Industrielle Revolution in Deutschland — Die industrielle Revolution ist die Phase des Durchbruchs der Industrialisierung in Deutschland, deren Beginn von Hubert Kiesewetter auf 1815[1] und von Friedrich Wilhelm Henning auf 1835 datiert wird.[2] Vorausgegangen waren die Zeiträume der… …   Deutsch Wikipedia

  • Dritte industrielle Revolution — Mikroprozessor Der Begriff digitale Revolution (auch elektronische Revolution) bezeichnet den durch Erfindung des Mikrochips ausgelösten Umbruch, der seit Ausgang des 20. Jahrhunderts einen Wandel sowohl der Technologien als auch (fast) aller… …   Deutsch Wikipedia

  • Revolution — Der Begriff Revolution wurde im 15. Jahrhundert aus dem spätlateinischen revolutio („das Zurückwälzen, die Umdrehung“) entlehnt und zunächst als Fachwort in der Astronomie für den Umlauf der Himmelskörper verwendet. Später wurde das Wort auch… …   Deutsch Wikipedia

  • Revolution ab 1848 im Kaiserreich Österreich — Die Revolution von 1848/49 in Österreich war Bestandteil der bürgerlich demokratisch motivierten Revolutionen, die Anfang 1848 einen großen Teil Mitteleuropas erfasst hatten. Sie war ein relativ eigenständiger Bestandteil der Märzrevolution in… …   Deutsch Wikipedia

  • Soziale Revolution — Der Begriff Revolution wurde im 15. Jahrhundert aus dem spätlateinischen revolutio („das Zurückwälzen, die Umdrehung“) entlehnt und zunächst als Fachwort in der Astronomie für die Umdrehung der Himmelskörper verwendet. Später wurde das Wort auch… …   Deutsch Wikipedia

  • 1848er-Revolution — Jubelnde Revolutionäre nach Barrikadenkämpfen am 18. März 1848 in Berlin Als Deutsche Revolution von 1848/49 – bezogen auf die erste Revolutionsphase des Jahres 1848 auch Märzrevolution – wird das revolutionäre Geschehen bezeichnet, das sich… …   Deutsch Wikipedia

  • 48er-Revolution — Jubelnde Revolutionäre nach Barrikadenkämpfen am 18. März 1848 in Berlin Als Deutsche Revolution von 1848/49 – bezogen auf die erste Revolutionsphase des Jahres 1848 auch Märzrevolution – wird das revolutionäre Geschehen bezeichnet, das sich… …   Deutsch Wikipedia

Share the article and excerpts

Direct link
Do a right-click on the link above
and select “Copy Link”