Zweite orthographische Konferenz

Zweite orthographische Konferenz

Auf der Orthographischen Konferenz von 1901 in Berlin (auch II. Orthographische Konferenz genannt) wurde eine gemeinsame deutsche Orthographie aller deutschsprachigen Staaten festgelegt, die zu großen Teilen auf der preußischen Schulorthographie beruhte, aber darüber hinaus auch Vorschläge der Orthographischen Konferenz von 1876 übernahm, die von Preußen noch nicht übernommen worden waren.

Die damals standardisierte deutsche Rechtschreibung wurde in den deutschsprachigen Ländern (Länder des Deutschen Reiches, Österreich, Schweiz) einheitlich verwendet, mit geringen Änderungen abgesehen vom Verdrängen des ß in der Schweiz seit den 1920er Jahren. Die nach der Konferenz noch zahlreich vorhandenen Doppel- und Dreifachformen wurden in unterschiedlichen Hausorthographien beseitigt, insbesondere durch den Buchdruckerduden von 1903. Schon bald nach der Konferenz wurden von verschiedenen Seiten Mängel beklagt und weiterer Reformbedarf gesehen, der aber erst mit der Reform der deutschen Rechtschreibung von 1996 umgesetzt wurde.

Inhaltsverzeichnis

Vorgeschichte

Bestrebungen nach einer Vereinheitlichung der deutschen Rechtschreibung hatten eine lange Vorgeschichte, artikulierten sich aber besonders deutlich nach der Reichsgründung im Jahr 1871. 1876 fanden in Berlin vom 4. bis zum 15. Januar „Verhandlungen zur Herstellung größerer Einigung in der Rechtschreibung“ statt, die vom preußischen Kultusminister Adalbert Falk initiiert wurden und als I. Orthographische Konferenz bekannt wurden. Die Ergebnisse wurden von den Regierungen der einzelnen Länder abgelehnt, sodass es zunächst nicht zu einer einheitlichen Rechtschreibung im deutschen Reich kam.

1879 gab Bayern ein eigenes orthographisches Regelwerk heraus. Auch in Österreich wurde ein eigenes orthographisches Regelwerk herausgegeben, das die Heysesche s-Schreibung verwendete. 1880 folgte Preußen mit einem eigenen Regelwerk, das von dem Germanisten Wilhelm Wilmanns, einem engen Vertrauten Konrad Dudens, für die preußischen Schulen entwickelt wurde (daher auch „Preußische Schulorthographie“ genannt) und sich kaum von dem bayrischen Regelwerk unterschied. Nach den Schulorthographien Preußens und Bayerns wurden auf -iren/-ieren endende Verben einheitlich mit -ieren geschrieben (diese von Rudolf von Raumer vorgeschlagene Vereinheitlichung war auf der I. Orthographischen Konferenz noch verworfen worden). Auf -niß/-nis endende Wörter wurden einheitlich mit -nis geschrieben (auf der I. Orthographischen Konferenz bestätigt). Im gleichen Jahr veröffentlichte Konrad Duden auf der Grundlage dieser beiden Regelwerke sein Wörterbuch mit dem Titel „Vollständiges Orthographisches Wörterbuch der deutschen Sprache – Nach den neuen preußischen und bayerischen Regeln“, das etwa 27.000 Stichwörter enthielt und sich innerhalb eines Jahrzehnts zunächst in Deutschland und dann auch im gesamten deutschsprachigen Raum verbreitete. 1892 wurde der sogenannte Duden als amtliches Wörterbuch in der Schweiz offiziell eingeführt. Damit wurde in den Schulen eine weitgehend einheitliche deutsche Rechtschreibung gelehrt.[1] Die meisten Landesbehörden, mit Ausnahme von Württemberg, verwendeten nach wie vor die alte Rechtschreibung.

Zweite Orthographische Konferenz

Auf Einladung des Reichsinnenministers fanden vom 17.–20. Juni 1901 in Berlin „Beratungen über die Einheitlichkeit der deutschen Rechtschreibung“ statt, die als Zweite Orthographische Konferenz bekannt wurden. Dabei kamen 26 Bevollmächtigte der deutschen Länder und ein österreichischer Kommissar sowie Vertreter einiger Institutionen und des Buchgewerbes zusammen und berieten über die Normierung einer einheitlichen deutschen Orthographie. Neben Staatsbeamten nahmen einige wenige Fachleute teil, darunter Konrad Duden und Wilhelm Wilmanns, die auch schon bei der Ersten Orthographischen Konferenz dabei waren.

Beschlüsse

Es wurden die nachfolgenden Beschlüsse gefasst, die auf dem preußischen Regelschulwerk und dem Wörterverzeichnis aufbauten.

  • In heimischen Wörtern sollte das h nach t grundsätzlich fallen (Tal, Tür statt Thal, Thür). In Fremdwörtern wie Thron und Theater wurde die th-Schreibung beibehalten.
  • Auslautendes ß in Wörtern auf -niß wurde zu -nis wie in Geheimnis, da diese Silbe nicht betont wird. Die bereits 20 Jahre zuvor beschlossene Änderung wurde somit bestätigt.
  • Fremdwörter sollten konsequenter in das deutsche Schriftsystem integriert werden. Dies führte jedoch nicht zu einer weitgehenden Ersetzung von c durch k oder z, sondern vielmehr konnten tausende von Fremdwörtern auf zwei Arten geschrieben werden. (z. B. Accent neben Akzent, central neben zentral, social neben sozial.). Bei vielen anderen Fremdwörtern waren ebenfalls zwei Schreibweisen möglich (z. B. Shawl neben Schal, Guitarre neben Gitarre, Liqueur neben Likör). In einigen Fällen waren sogar drei Schreibweisen möglich (z. B. Compagnie neben Kompagnie und Kompanie, detto neben ditto und dito, desinficieren neben desinfizieren und deſinfizieren). Einzelne Fremdwörter konnten sogar auf vier Arten geschrieben werden (z. B. Baccheus neben Bacchius, Bakcheus und Bakchius). In einzelnen Fällen wurde eine einheitliche Schreibweise festgelegt (z. B. Redakteur statt Redacteur, Literatur statt Litteratur, Droge statt Drogue).
  • Fremdwörter auf -iren sollten einheitlich mit -ieren geschrieben werden (z. B. regieren, addieren). Dadurch wurde eine weitere, etwa 20 Jahre lang in der Schule gelehrte, Änderung bestätigt.
  • Beim c in deutschen Ortsnamen war man ebenfalls nicht konsequent; einerseits einigte man sich auf Kassel statt Cassel, Köln statt Cöln und Köthen statt Cöthen, andererseits blieb man bei den Schreibweisen Coburg, Cottbus usw., obwohl auch für diese Städte eine Schreibung mit K schon recht verbreitet war, abzulesen an Berliner Straßennamen.
  • Regelungen auf Basis des phonetischen Prinzips (d. h. Anpassung der Rechtschreibung an die Aussprache) wurden außer bei der Schreibung von Fremdwörtern kaum umgesetzt. (z. B. Epheu wurde zu Efeu.)
  • In vielen Fällen wurden Doppelschreibungen zugelassen (vgl. oben, außerdem z. B. Brennessel neben Brennnessel, Morgens neben morgens, Britte neben Brite, Beete neben Bete, Sahlweide neben Salweide, mit nichten neben mitnichten, teigicht neben teigig). Bei auf -ie und -ee endenden Wörtern gab es im Plural zwei mögliche Schreibweisen (z. B. Monarchieen neben Monarchien, Alleeen neben Alleen). (Erst in den folgenden Jahren wurde die Zulassung mehrerer Schreibungen eingeschränkt, nicht zuletzt auch durch die Zusammenfassung des allgemeinen Dudens mit dem Buchdruckerduden 1915, den Konrad Duden 1903 erstmals veröffentlicht hatte.)
  • Bezüglich der Worttrennung am Zeilenende wurde festgelegt, dass pf und dt immer, st (in den Fällen, in denen nach den Regeln des Fraktursatzes ein langes s gesetzt wird) jedoch nie getrennt werden dürfen (z. B. kämp-fen, Verwand-te, lu-stig). Vorher durfte dt nicht getrennt werden, während pf und st nur getrennt werden durften, wenn ihnen ein Vokalbuchstabe voranging (z. B. trop-fen, aber käm-pfen; Verwan-dte; lus-tig, aber dur-stig). Eine aus einem einzelnen Buchstaben bestehende Silbe sollte besser nicht abgetrennt werden, jedoch war dies nicht verboten.
  • Ein weiterer Punkt waren Veränderungen, die die Verteilung von rundem und langem s betrafen.
  • Zur Getrennt- und Zusammenschreibung und zur Zeichensetzung (Interpunktion) wurden keine Regeln formuliert.
  • Auf weitergehende Neuerungen, wie sie bei der gescheiterten Ersten Orthographischen Konferenz geplant waren, wurde verzichtet, um das gewohnte Schriftbild nicht zu sehr zu verändern. Zudem befürchteten die Konferenzteilnehmer, dass einzelne Landesregierungen nicht zustimmen würden. Daher wurde z. B. auf die Einführung der Heyseschen s-Schreibung verzichtet und die Adelungsche s-Schreibung beibehalten. Österreich opferte „im Interesse der Einheitlichkeit“ die eigene Regelung.

Diese Beschlüsse wurden im Laufe des Jahres 1902 durch die Regierungen Deutschlands, Österreichs und der Schweiz in amtliche Regelungen umgesetzt. Der Deutsche Kaiser Wilhelm II. war anfangs gegen einen Gebrauch der neuen Rechtschreibung durch die Behörden. Er ließ sich jedoch überzeugen und stimmte im Dezember 1902 der amtlichen Verwendung zu, bestand aber bis 1911 darauf, dass ihm vorgelegte Schriftstücke in der alten Rechtschreibung geschrieben sein mussten.

Aufgrund der vielen Doppelformen entstanden in den folgenden Jahren mehrere Hausorthographien. Insbesondere der bereits oben erwähnte Buchdruckerduden prägte das Schriftbild zahlreicher Veröffentlichungen, darf jedoch nicht mit der amtlichen Regelung gleichgesetzt werden.

Einstufung als Reform

Es wird unterschiedlich beurteilt, ob die Zweite Orthographische Konferenz von 1901 als eine Rechtschreibreform eingestuft werden kann, die als Präzedenzfall für die Reform der deutschen Rechtschreibung von 1996 gelten kann. Der Reformkritiker Theodor Ickler schreibt dazu: »Die „Rechtschreibreform von 1901“ – eine Legende: Unter Fachleuten ist bekannt, daß die um 1900 übliche Rechtschreibung nach der Zweiten Orthographischen Konferenz (1901) keineswegs „reformiert“, sondern im Gegenteil gegen willkürliche Veränderungen unter staatlichen Schutz gestellt wurde. Das hat insbesondere Wolfgang Kopke in seiner hervorragenden Dissertation (1995) noch einmal genau nachgewiesen.«[2] Auch der ehemalige Reformer Horst Haider Munske stellt im Zusammenhang mit der Rechtschreibreform von 1996 hierzu fest: „Diese Rechtschreibreform ist nach Art und Umfang der vorgesehenen Änderungen tatsächlich eine Reform, ein wesentlicher Eingriff in die Struktur der Schriftnorm des Deutschen. Und sie ist die allererste Rechtschreibreform in der deutschen Sprachgeschichte. Denn im Jahre 1901 war praktisch nur der geltende Usus sanktioniert worden. Deshalb genügte hierfür eine einmalige Konferenz von drei Tagen.“[3]

Konrad Duden schreibt im Vorwort zum Duden von 1902 (7. Aufl., S. IVf): „Wenn nämlich auch ihr [d. h. der darin beschriebenen Rechtschreibung‘] Hauptvorzug darin besteht, daß sie überhaupt da ist und allgemeine Gültigkeit hat [damit lobt er die geschaffene Vereinheitlichung], so hat sie doch auch, und zwar nicht nur gegenüber den vielen alten Orthographieen [sic!], sondern auch gegenüber der bisherigen Schulorthographie, nicht gering anzuschlagende Verbesserungen aufzuweisen. Dadurch, daß sie das th und das ph aus allen Wörtern deutschen Ursprungs beseitigt und ferner der Anwendung deutscher Lautbezeichnung, insbesondere des k und z statt des c, des sch statt des ch in den Fremdwörtern weitgehende Zugeständnisse gemacht hat, hat sie auf dem Wege, den die Entwicklung der deutschen Rechtschreibung seit Rudolf von Raumers Widerspruch gegen die Reformen der historischen Schule eingeschlagen und verfolgt hat, einen nicht unerheblichen Fortschritt gemacht. Indem ich von ‚einem Fortschritt‘ spreche, deute ich schon an, daß nach der Meinung derer, die an dem Zustandekommen der neuen, einheitlichen Rechtschreibung mitgearbeitet haben, jetzt keineswegs für alle Zeiten ein Stillstand eintreten soll.“

Siehe auch

Literatur

  • Dieter Nerius (Hrsg.): Die orthographischen Konferenzen von 1876 und 1901. Reihe „Documenta Orthographica“, Abteilung B, Band 5. Hildesheim, Zürich, New York: Georg-Olms-Verlag, 2002. 332 S., gebunden. ISBN 3-487-11444-5.
  • Hiltraud Strunk (Hrsg.): Dokumentation zur Geschichte der deutschen Orthographie in Deutschland in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Band 1. Reihe „Documenta Orthographica“, Abteilung B, Band 7.1. Hildesheim, Zürich, New York: Georg-Olms-Verlag, 2006. 391 S., gebunden. ISBN 3-487-13186-2.
  • Johannes Meyer: Die Abweichungen der neuen von der alten Rechtschreibung nebst Übungsaufgaben, Diktaten und einem Wörterverzeichnis. Für den Schul- und Selbstunterricht bearbeitet... Verlag von Carl Meyer (Gustav Prior), Hannover, Berlin, 6./7. Aufl. 1902.
  • Konrad Duden: Orthographisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Leipzig, Wien: Bibliographisches Institut, 7. Aufl., 1902

Einzelnachweise

  1. Christian Stang. 125 Jahre Duden. Das »Volkswörterbuch« feiert Geburtstag. (Online, PDF, 709 kB)
  2. Theodor Ickler: Regelungsgewalt. Hintergründe der Rechtschreibreform. Leibnitz-Verlag, St. Goar, 2004, ISBN 3-93115-518-8, S. 67 (Online, PDF, 1,9 MB).
  3. Eroms/Munske (Hg.): Die Rechtschreibreform: Pro und Kontra, Berlin, 1997, ISBN 3-503-03786-1, S. 154 f.

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