Ängstliche (vermeidende) Persönlichkeitsstörung

Ängstliche (vermeidende) Persönlichkeitsstörung
Vergleichende Klassifikation nach
ICD-10   DSM-IV
F60.6 Ängstlich (vermeidende) Persönlichkeitsstörung 301.82 Vermeidend-Selbstunsichere Persönlichkeitsstörung
ICD-10 online DSM IV online

Die ängstlich (vermeidende), auch selbstunsichere Persönlichkeitsstörung ist gekennzeichnet durch Gefühle von Anspannung und Besorgtheit, Unsicherheit und Minderwertigkeit. Es besteht eine andauernde Sehnsucht nach Zuneigung und Akzeptiertwerden, eine Überempfindlichkeit gegenüber Zurückweisung und Kritik mit eingeschränkter Beziehungsfähigkeit. Die betreffende Person neigt zur Überbetonung potentieller Gefahren oder Risiken alltäglicher Situationen bis zur Vermeidung bestimmter Aktivitäten.

Inhaltsverzeichnis

Beschreibung

Charakteristisch für vermeidende Persönlichkeiten ist, dass sie sich unsicher, gehemmt, unattraktiv und minderwertig fühlen und aus Angst vor Kritik, Zurückweisung und Verspottung soziale Kontakte meiden. Dabei geraten sie nicht selten in soziale Isolation. Ihr geringes Selbstvertrauen wird von anderen meist positiv oder gar nicht gesehen, weil sie sich nicht in den Vordergrund drängen, bescheiden, "pflegeleicht" und verlässlich sind. Schon früh macht sich bei ihnen eine belastende soziale Gehemmtheit bemerkbar, Unfähigkeitsgefühle, Überempfindlichkeit gegenüber negativer Kritik, Schüchternheit, leichtes Erröten und schnelle Verlegenheit. Eine hohe Sensibilität und Erregbarkeit sind angeboren. Sie können dabei in einen Konflikt zwischen Bindungs- und Autonomiebedürfnis verfallen. Einerseits sehnen sie sich nach Nähe und Sicherheit, andererseits vermeiden sie enge Beziehungen.

Betroffene Kinder z. B. fallen entweder durch ein schnell reizbares und überdrehtes ("cranky") Interaktionsmuster oder aber durch ein verschlossenes und in sich gekehrtes Verhalten auf. Zudem könnten sie von den Eltern zurückgewiesen und abgewertet werden, ebenso von Freunden und anderen nahe stehenden Personen. Das könnte zur Folge haben, dass sich die zunächst nur von außen erfahrbaren Zurückweisungen und Abwertungen zunehmend in Selbstabwertung und Selbstentfremdung verkehren. Freundschaften und soziale Bindungen könnten dadurch kontinuierlich abgesetzt werden. Zusätzlich unterschätzen sie ihre eigenen interpersonellen Fähigkeiten und haben in Stresssituationen oft ungünstige, negative und selbstbezogene Gedanken.

Ihr Verhalten ist Ausdruck von Angst und Hilflosigkeit gegenüber den elterlichen Erziehungspraktiken; später Entfremdung und feindselige Reaktionen. Eltern werden als unterdrückend, feindselig-einengend und wenig einfühlend erlebt (siehe auch: Doppelbindungstheorie).

Die gelegentlich irreführend selbstsichere Erscheinung ist eine Art "äußere Maske" als Folge einer darunterliegenden chronischen Anspannung zum Schutz der leicht aktivierbaren Vulnerabilität.

Es entsteht bei ihnen eine ständige Angst und Anspannung, die zum Rückgang von sozialen Kompetenzen führen. Dies wiederum erzeugt einen Teufelskreis, so dass sie sich entweder gar nicht mehr auf soziale Beziehungen und berufliche Aufgaben einlassen oder nur noch dann, wenn sie sich sicher sind, dass sie dabei nicht verletzt werden. Ständige Selbstzweifel plagen sie. In Gesprächen mit anderen halten sie keinen Augenkontakt, sondern fixieren andere Regionen des Gegenübers oder Gegenstände im Raum. Für neue Erfahrungen oder alternative Möglichkeiten sind sie immer weniger bereit. In sozialen Kontakten wirken sie unzufrieden, gequält, distanziert, der Redefluss ist zu zäh und stockend.

Potentielle Partner müssen bei ihnen oft jahrelange "Prüfungen" durchlaufen, um wirklich intim zugelassen zu werden. Beziehungen sind daher selten und oft konfliktbeladen. Sie provozieren Beziehungszusammenbrüche und damit eine Wiederholung der Befürchtungen.

Die gehemmte Persönlichkeitsstörung lässt sich weiter in zwei Subtypen aufteilen, deren Verteilung etwa identisch ist.

  • kühl-distanziert
Die eine Gruppe lässt sich als "kühl-distanziert und sozial-vermeidend" ("cold-avoidant") beschreiben. Sie haben Probleme, warme Gefühle auszudrücken, und sind misstrauisch anderen gegenüber.
  • nachgiebig-ausnutzbar
Charakteristisch für die "nachgiebig-ausnutzbare" ("exploitable-avoidant") Gruppe ist, dass sie sich von anderen ausgenutzt fühlen und es ihnen Probleme macht, anderen Grenzen aufzuzeigen.

Es handelt sich bei den beiden Gruppen um Idealtypen. In der Praxis ist eine scharfe Trennung nur schwer möglich, sodass es zu Mischtypen kommt.

Klassifizierung nach ICD und DSM

ICD-10

Der Code lautet F60.6 wofür mindestens vier der folgenden Eigenschaften oder Verhaltensweisen vorliegen müssen:

  1. andauernde und umfassende Gefühle von Anspannung und Besorgtheit;
  2. Überzeugung, selbst sozial unbeholfen, unattraktiv oder minderwertig im Vergleich mit anderen zu sein;
  3. übertriebene Sorge, in sozialen Situationen kritisiert oder abgelehnt zu werden;
  4. persönliche Kontakte nur, wenn Sicherheit besteht, gemocht zu werden;
  5. eingeschränkter Lebensstil wegen des Bedürfnisses nach körperlicher Sicherheit;
  6. Vermeidung beruflicher oder sozialer Aktivitäten, die intensiven zwischenmenschlichen Kontakt bedingen, aus Furcht vor Kritik, Missbilligung oder Ablehnung.

Überempfindlichkeit gegenüber Ablehnung und Kritik können zusätzliche Merkmale sein.

DSM-IV

Ein tief greifendes Muster von sozialer Gehemmtheit, Insuffizienzgefühlen und Überempfindlichkeit gegenüber negativer Beurteilung. Der Beginn liegt im frühen Erwachsenenalter und die Störung manifestiert sich in verschiedenen Situationen. Der Code lautet 301.82, wobei mindestens vier der folgenden Kriterien erfüllt sein müssen:

  1. vermeidet aus Angst vor Kritik, Missbilligung oder Zurückweisung berufliche Aktivitäten, die engere zwischenmenschliche Kontakte mit sich bringen,
  2. lässt sich nur widerwillig mit Menschen ein, sofern er/sie nicht sicher ist, dass er/sie gemocht wird,
  3. zeigt Zurückhaltung in intimen Beziehungen, aus Angst beschämt oder lächerlich gemacht zu werden,
  4. ist stark davon eingenommen, in sozialen Situationen kritisiert oder abgelehnt zu werden,
  5. ist aufgrund von Gefühlen der eigenen Unzulänglichkeiten in neuen zwischenmenschlichen Situationen gehemmt,
  6. hält sich für gesellschaftlich unbeholfen, persönlich unattraktiv und anderen gegenüber unterlegen,
  7. nimmt außergewöhnlich ungern persönliche Risiken auf sich oder irgendwelche neuen Unternehmungen in Angriff, weil dies sich als beschämend erweisen könnte.

Korrelation mit anderen Krankheiten

Zur Therapie müssen betroffene Personen richtig diagnostiziert werden, indem die Symptome gegenüber anderen Krankheiten abgegrenzt werden, um Fehldiagnosen zu vermeiden. Selbstunsichere Persönlichkeiten ziehen sich aktiv zurück, vermeiden also bewusst soziale Beziehungen, im Gegensatz zu schizoiden Persönlichkeiten, die sich passiv zurückziehen. Der größte Unterschied zwischen beiden Störungen ist, dass erste ein geringes Selbstvertrauen und Angst vor anderen Menschen und deren Zurückweisungen haben, zweitere hingegen sind demgegenüber gleichgültig. Ein Hauptproblem bei der Differenzialdiagnostik liegt in der erheblichen Kriterienüberlappung zur sozialen Phobie. Sozialphobiker haben meist eng umschriebene Ängste (z.B. vor Prüfungen, öffentliche Reden, etc.), während die von ängstlichen Persönlichkeiten auf unterschiedlichste Situationen weiter ausgedehnt ist. Daraus lässt sich schließen, dass es sich möglicherweise nicht nur um fließende Übergänge zwischen beiden Störungsbildern handelt, sondern dass sie auf einer Dimensionierung der sozialen Ängstlichkeiten liegen könnten, deren Extrem die selbstunsichere Persönlichkeitsstörung ist.

Behandlung

Die Wahl der Therapie sollte vom Patienten mitbestimmt werden und es sollten ihm/ihr genügend Möglichkeiten eingeräumt werden, die eigenen Unsicherheiten und Widersprüche zu erkennen. Durch Training sozialer Kompetenzen sowie durch Stärkung des Selbstbewusstseins können Betroffene profitieren. Dafür können verschiedene Techniken wie gezielte Hilfestellungen, Verhaltensrückmeldungen, Rollenspiele oder Video-Feedback genutzt werden. Allerdings werden Gefühle der Einsamkeit und mögliche Depressionen nicht dadurch aufgearbeitet. Um diese zu bekämpfen, braucht es viel Zeit (u. U. über die Therapie hinaus)- sie verringern sich oft durch steigende (positive) soziale Kontakte. Die Einübung prosozialer Autonomie ist der einsichtsorientierten Therapie überlegen. Pharmazeutika können in Ausnahmefällen genutzt werden, stellen aber auf keinen Fall ein zentrales Therapiemittel dar.

Siehe auch

Literatur

  • Ulrich Stangier, Thomas Heidenreich, Monika Peitz: Soziale Phobien. BeltzPVU, April 2003, ISBN 362127541X
  • Peter Fiedler: Persönlichkeitsstörungen. BeltzPVU, 19. September 2001, ISBN 3621274936

Weblinks

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