Überhangsmandat

Überhangsmandat

Überhangmandate können in Wahlsystemen auftreten, die auf einer durch Direktwahl in Wahlkreisen personalisierten Verhältniswahl beruhen, wenn eine Partei mehr Direktmandate erringt, als ihr aufgrund der Sitzverteilung gemäß dem Parteienproporz zustehen würden, sofern dieser Überhang tatsächlich zugeteilt wird.

In der Regel lässt sich nicht sagen, welche Abgeordneten Inhaber von Überhangmandaten sind, sondern nur, dass bei einer Partei eine bestimmte Zahl an Überhangmandaten aufgetreten ist. Überhangmandate können vermehrt auftreten, wenn der Ausgleich zwischen Direktmandaten und Parteienproporz nicht über das gesamte Wahlgebiet stattfindet, sondern in kleineren Einheiten, sei es durch getrennten Verhältnisausgleich (wie etwa im bayrischen Wahlsystem) oder Verrechnung erst nach Unterverteilung der Parteiensitze (wie etwa im Bundestagswahlrecht).

In vielen Konstellationen bekommen vor allem die größeren Parteien Überhangmandate. Aber auch bei kleinen Parteien können Überhangmandate auftreten, wenn sie über ausgeprägte Hochburgen (insbesondere bei Regionalparteien) oder besonders attraktive Persönlichkeiten verfügen, oder das Wahlsystem taktische Wahl per Stimmensplitting ermöglicht.

In gewissem Sinn sind auch Sitze, die von Einzelbewerbern oder Direktbewerbern, deren Partei an einer Sperrklausel gescheitert ist, errungen werden, Überhangmandate, da bei ihnen keine anrechnungsfähigen Parteistimmen existieren. Sofern solche Sitze möglich sind, werden sie aber meist gesondert behandelt und nicht als Überhangmandate bezeichnet.

Inhaltsverzeichnis

Ursachen

Die durch Direktwahl in Wahlkreisen personalisierte Verhältniswahl reserviert einen gewissen Anteil aller Sitze (oft die Hälfte) für Direktmandate und verwendet den Rest zum Verhältnisausgleich zwischen den Parteien. Wenn bei einer Partei das Ungleichgewicht zwischen gewonnenen Direktmandaten und erzielten Parteistimmen so groß ist, dass dieser Rest nicht ausreicht, kommt es zu Überhangmandaten. Im Einzelnen fördern folgende Umstände deren Auftreten:

  • Viele kleine Parteien, die zwar zusammen einen recht hohen Stimmenanteil auf sich vereinen können, aber kaum Direktmandate erringen. Hohe Sperrklauseln können die effektive Zahl an Parteien verringern.
  • Mehr als zwei größere Parteien ähnlicher Stärke, so dass keine Partei einen größeren Stimmenanteil erreichen kann.
  • Hoher Anteil an Direktmandaten. Wenn mehr als die Hälfte der Sitze in den Wahlkreisen bestimmt wird, können selbst in einem Zweiparteiensystem leicht Überhangmandate auftreten.
  • Homogenes Wählerverhalten. Die führende Partei kann dann fast alle Direktmandate erringen, ohne dass sie einen besonders großen Vorsprung vor den anderen Parteien benötigt. Nachdem nur das Wählerverhalten zwischen den Wahlkreisen von Belang ist, lässt sich die Homogenität durch den Wahlkreiszuschnitt steuern. Effektiv homogenes Wählerverhalten kann auch bei einer Regionalpartei vorliegen, die nur in ihren Hochburgen antritt.
  • Geringe Gesamtzahl an Sitzen. Damit sinkt die Wahrscheinlichkeit, dass sich gegenläufige Effekte im Wahlgebiet ausgleichen. Falls der Ausgleich zwischen Direktmandaten und Parteienproporz nicht über das gesamte Wahlgebiet stattfindet, sind die auf die entsprechenden Teilgebiete entfallenden Sitze maßgeblich. Andererseits erlaubt eine geringe Sitzzahl durch die damit größere inhärente Ungenauigkeit der Sitzzuteilungsverfahren eine etwas größere Abweichung, bevor es zum ersten Überhangmandat kommt.
  • Geringe Anzahl an Mandaten pro Wahlkreis. Mehrpersonenwahlkreise sind weniger überhanganfällig als Einerwahlkreise, weil sie schon intern den Parteienproporz zu einem gewissen Grad gewährleisten.
  • Ungleich große Wahlkreise, da in kleineren Wahlkreisen im Schnitt weniger Stimmen zum Mandatsgewinn nötig sind als in größeren. Problematisch ist das vor allem dann, wenn die kleineren Wahlkreise ein einheitliches Wählerverhalten zeigen, zum Beispiel weil es sich um Abwanderungsgebiete handelt oder ganze Regionen systematisch kleinere Wahlkreise erhalten (was etwa durch Unterverteilung von Wahlkreisen innerhalb von vorhandenen Untergliederungen des Wahlgebiets leicht passieren kann).
  • Ungleichmäßige Wahlbeteiligung. Auch bei Wahlkreisen mit geringer Wahlbeteiligung reichen verhältnismäßig wenige Stimmen zum Mandatsgewinn. Häufig geht sie mit Vorlieben für bestimmte Parteien einher und stärkt dann deren Aussicht auf Überhangmandate. Sofern Wahlkreise nach Bevölkerungs- statt Wahlberechtigtenzahl zugeschnitten werden, ist ein hoher Anteil an Nicht-Wahlberechtigten (insbesondere Kinder und Ausländer) gleichbedeutend.
  • Ausgeprägte Hochburgen kleinerer Parteien, wenn diese in einigen Wahlkreisen, zum Beispiel durch besonders zugkräftige Kandidaten, die größeren Parteien knapp schlagen können, ansonsten aber bedeutungslos sind.
  • Sitzzuteilungsverfahren, die überhanganfällige Parteien benachteiligen bzw. nicht bevorzugen. So vermindert etwa das D’Hondt-Verfahren die Aussicht größerer Parteien auf formale Überhangmandate, weil sie ihnen ohnehin mehr Sitze als ein verzerrungsfreies Verfahren zuteilt.

Im Fall eines Zweistimmenwahlrechts, bei dem der Wähler eine andere Partei als die des gewählten Direktkandidaten wählen kann, kann solches Stimmensplitting Überhangmandate begünstigen, wenn es im Wahlkreis oder im gesamten Wahlgebiet gleichgerichtet betrieben wird. Neben statistischen Zufällen (bei geringer Zahl an Wählern) gibt es dafür folgende Gründe:

  • Parteien, die über attraktive Persönlichkeiten verfügen, als Partei jedoch weniger Anklang finden.
  • Schlecht informierte Wähler, die glauben, ihre Stimme durch ein Stimmensplitting zwischen zwei Parteien aufteilen zu können.
  • Gut informierte Wähler, die wissen, dass sie mit ihrer Personenstimme oft nur den Direktkandidaten gegen einen Bewerber auf der zugehörigen Parteiliste austauschen können und sie dementsprechend völlig unabhängig von ihren Parteipräferenzen vergeben.
  • Wahlsysteme, die Überhangmandate nicht oder nur unzureichend ausgleichen und dem Wähler dadurch die Möglichkeit geben, sein Stimmengewicht zu erhöhen, indem er Überhangmandate durch taktische Wahl gezielt provoziert.
  • Parteien, die keine oder wenige Direktkandidaten aufstellen und ihre Wähler so zu einem Stimmensplitting zwingen. Wo es das Wahlrecht nicht unterbindet, können sie ihre Direktkandidaten stattdessen als „Unabhängige“ oder mittels einer Tarnpartei antreten lassen.

Umgang mit Überhangmandaten

Überhangmandate bedeuten zunächst eine widersprüchliche Sitzverteilung, die mit zusätzlichen Regeln im Wahlrecht aufgelöst werden muss. Hierfür kommen folgende grundsätzliche Möglichkeiten in Betracht:

Überhangmandate zusätzlich vergeben
Hierbei vergrößert sich das Parlament um die Zahl der Überhangmandate; der Parteienproporz wird entsprechend gestört. Vorteil ist die Einfachheit der Lösung.
Parlament vergrößern
Wenn man die Zahl der zu vergebenden Sitze erhöht und das Verteilungsverfahren danach wiederholt, sinkt dadurch die Wahrscheinlichkeit von Überhangmandaten. Faktisch wird damit der Anteil der Direktmandate reduziert. Die so zusätzlich an die anderen Parteien vergebenen Sitze nennt man Ausgleichsmandate.
Offensichtlicher Nachteil hierbei ist die Aufblähung des Parlaments. Wenn Überhang bei kleinen Parteien auftritt, kann eine Vervielfachung seiner Größe nötig sein, um Überhangmandate komplett zu vermeiden, was in der Regel zur Erschöpfung von Listen und damit zur Verzerrung des Parteienproporz führt; im Extremfall (Wahlkreisgewinner ohne eine einzige Parteienstimme) kann der Überhang mit dieser Methode allein gar nicht aufgelöst werden. Viele Wahlgesetze sehen deshalb eine Maximalgröße vor und wechseln für darüberhinausgehenden Überhang zu einer anderen Methode.
Aufgrund der inhärenten Ungenauigkeit der Sitzzuteilungsverfahren verändern sich in der Regel die Sitzanteile zwischen den Parteien leicht, wobei es sowohl zu einer Verbesserung als auch Verschlechterung in Bezug auf die Idealwerte der Wahlgleichheit kommen kann. Die in der Praxis häufige Regelung, nach der die Sitzzahl schrittweise genau bis zu dem Punkt erhöht wird, an dem keine Partei mehr überhängt, führt allerdings zu einer leichten systematischen Bevorzugung der am stärksten überhängenden Partei bzw. deren Wähler.
Zu beachten ist in diesem Fall auch die Möglichkeit, dass es infolge des Alabama-Paradoxons zu negativen Ausgleichsmandaten kommen kann, wenn das verwendete Sitzzuteilungsverfahren nicht konsistent ist (z.B. Hare/Niemeyer im Gegensatz zu Sainte-Laguë). Ebenso können dann die Überhangmandate wieder aufleben, wenn das Parlament weiter vergrößert wird, etwa um eine ungerade Sitzzahl zu erreichen.
Überhangmandate nicht zuteilen
Nachteil hierbei ist, dass man die Repräsentanz der betroffenen Wahlkreise antasten muss, sei es durch völligen Verlust deren Vertreter oder durch Bestellung des Zweitplatzierten (der wiederum ein Überhangmandat verursachen könnte). Dafür bleiben Parteienproporz und Parlamentsgröße unverändert.
Um diese Möglichkeit durchführen zu können, müssen zunächst die Wahlkreisgewinner der betroffenen Partei in eine Reihenfolge gebracht werden, um zu bestimmen, welche davon kein Mandat erhalten. Dafür kommt eine Fülle von Kriterien in Betracht, etwa die absolute Zahl deren Stimmen, ihr relativer Stimmenanteil, ihr Vorsprung vor den Mitbewerbern, die Wahlbeteiligung oder das Los.
Sitze von nicht überhängenden Parteien nehmen
Hierbei bleibt die Parlamentsgröße wie bei der Nichtzuteilung erhalten, jedoch wird der Parteienproporz noch stärker als bei der zusätzlichen Vergabe von Überhangmandaten verzerrt. Andererseits wird in die Repräsentanz der Wahlkreise auch insofern nicht eingegriffen, als ihr relatives Gewicht zu den restlichen Mandaten gleich bleibt.
Für die Entscheidung, welche Parteien gegenüber der verhältnismäßigen Sitzverteilung wie viele Sitze abgeben müssen, sind wiederum viele Methoden denkbar. Falls man analog zur Vergrößerung des Parlaments vorgeht und es so verkleinert, dass sich unter Einbeziehung des (in der Regel dadurch vergrößerten) Überhangs die vorgegebene Größe ergibt, treten bei inkonsistenten Verfahren ähnliche Paradoxien auf. Insbesondere ist es dann möglich, dass die gewünschte Gesamtzahl auf diese Weise allein gar nicht erreicht werden kann.

Interne Überhangmandate

Komplexer stellt sich die Lage dar, wenn das Wahlgebiet unterteilt ist und die den Parteien zustehenden Sitze in einem zweiten Schritt jeweils auf die einzelnen Teilgebiete verteilt werden. Dann können bei jeder dieser Unterverteilungen Überhangmandate auftreten, die es bei der Oberverteilung an die Parteien noch nicht gegeben hat. Man spricht hierbei von internen im Gegensatz zu externen Überhangmandaten.

Im Prinzip eröffnen sich dabei erneut die oben beschriebenen Möglichkeiten, wobei aber nun die Teilgebiete das sind, was zuvor die Parteien waren. Wo zuvor das Parlament vergrößert worden ist, erhält nun die betreffende Partei zusätzliche Sitze, wodurch auch der Parteienproporz verzerrt wird. Wo zuvor der Parteienproporz beeinträchtigt war, ist es nun der Regionalproporz (zunächst innerhalb der Parteien und in der Folge tendenziell auch in der Gesamtsicht, wo das Idealverhältnis aber durch die addierten Ungenauigkeiten der Unterverteilungen ohnehin schon deutlich gestört sein kann).

Wo der Regionalproporz gegenüber der Repräsentanz der Wahlkreise und dem Parteienproporz als deutlich nachrangig betrachtet wird, aber dennoch nicht auf Regionallisten und damit Unterverteilungen verzichtet werden soll, bietet sich für die Unterverteilungen insbesondere die Lösung „Sitze von nicht überhängenden Regionen nehmen“ an. Man nennt dies interne Kompensation.

Überhangmandate im Bundestagswahlrecht

Personalisierte Verhältniswahl

In der Bundesrepublik Deutschland kann es bedingt durch das Wahlsystem zu so genannten Überhangmandaten kommen. Hat eine Partei innerhalb eines Bundeslandes mehr Direktmandate, als ihr nach Zweitstimmen Mandate des Landeskontingents zustünden, entstehen Überhangmandate. Diese sind Sitze einer Partei im Bundestag, die über den Anteil, der nach Verhältniswahlrecht nach dem Zweitstimmenanteil vergeben wird, hinausgehen. Durch diese Überhangmandate erhöht sich die Zahl der Abgeordneten im Bundestag.

Der Bundestag setzt sich aus den Wahlkreiskandidaten, die durch die Erststimme (Mehrheitswahlrecht/Direktkandidat) gewählt werden, und den Politikern einer jeweiligen Partei, die durch die Zweitstimme (Verhältniswahlrecht/Listenkandidaten) gewählt werden, zusammen. Durch die Zweitstimme werden die Parteien gewählt und somit die Anzahl der auf jede Partei entfallenden Mandate im Bundestag bestimmt. Die Hälfte der insgesamt 598 zur Verfügung stehenden Mandate wird nun zunächst von den 299 Wahlkreisgewinnern der jeweiligen Parteien besetzt (Erststimmenwahl). Diese Wahlkreisgewinner werden im Bundestag als Direktmandate bezeichnet. Weitere Plätze, die jeder Partei entsprechend ihrem Zweitstimmenanteil zustehen können, werden normalerweise mit den Parteimitgliedern gemäß einer Liste aufgefüllt, die die Partei festlegt. Somit vermindert im Allgemeinen jedes gewonnene Direktmandat einer Partei die Anzahl der ihr verbleibenden Listenmandate.

Wenn jedoch eine Partei innerhalb eines Bundeslandes über die Erststimmen mehr Wahlkreise gewonnen hat, als ihr nach Zweitstimmen zukommen würden, kommt es zu „Überhangmandaten“. So gewinnt diese Partei, je nach Anzahl der Überhangmandate, zusätzliche Sitze im Bundestag hinzu. Ein Ausgleich zugunsten der anderen Parteien, der die jeweilige Sitzzahl dem Zweitstimmenverhältnis wieder anpassen würde, findet bei Bundestagswahlen nicht statt, wohl aber bei einigen Landtagswahlen.

Beispiel: Bei der Bundestagswahl 1994 gewann die CDU in Baden-Württemberg alle 37 Wahlkreise und somit 37 Direktmandate. Nach der Berechnung der Sitzverteilung über die Zweitstimmen standen der CDU in Baden-Württemberg jedoch nur 35 Mandate zu: Es entstanden zwei Überhangmandate. Insgesamt gab es 1994 16 Überhangmandate (zwölf für die CDU, vier für die SPD). Die Gesamtzahl der Sitze im Bundestag erhöhte sich entsprechend.

Scheidet ein mit Direktmandat ausgestatteter Abgeordneter, der aus einem Land mit Überhangmandaten in den Bundestag eingezogen ist, während der Legislaturperiode aus, rückt für ihn kein Kandidat von der Landesliste oder aus dem Wahlkreis nach (Nachrücker-Urteil).

Beispiel: Durch den Tod der Abgeordneten Anke Hartnagel aus Hamburg – wo die SPD bei der Bundestagswahl 2002 sechs Direktmandate errungen hatte, obwohl ihr nur fünf Listenplätze zugestanden hätten – verringerte sich die Größe der SPD-Fraktion (und damit die des ganzen Bundestags) um einen Abgeordneten, weil Frau Hartnagels Platz nicht nachbesetzt wurde.

Überhangmandate traten bereits bei der ersten Bundestagswahl auf, bis einschließlich 1990 spielten sie nur bei der Wahl Konrad Adenauers zum Bundeskanzler eine Rolle, da die Mehrheiten ansonsten klar waren. 1994 traten Überhangmandate erstmals in großem Maße auf: zwölf für die Unionsparteien und vier für die SPD. Die Union konnte damit ihren knappen Vorsprung stabilisieren. Dies rief eine Reihe von Überlegungen über ihre Verfassungsmäßigkeit hervor. Das Bundesverfassungsgericht erklärte jedoch (mit 4:4 Stimmengleichheit im Zweiten Senat) die proporzverzerrende Wirkung der Überhangmandate für verfassungskonform.[1]

Verfassungsrechtlich problematisch erscheint insbesondere die Tatsache, dass beim Bundestagswahlsystem durch ein Zusammenwirken von Überhangmandaten mit der Verteilung der Sitze auf die Landeslisten ein so genanntes negatives Stimmgewicht auftreten kann. In diesen Situationen kommt es zu einer Umkehrung der Abhängigkeit der Sitzverteilung von der Stimmabgabe, entweder würden weitere Stimmen für eine Partei diese einen Sitz kosten oder Stimmverluste dieser einen Sitz bescheren. Stimmen würden sich demnach gegen den Willen der Wähler auswirken, s. ein Beispiel für negatives Stimmgewicht bei der Bundestagswahl 2002, bei der die SPD einen Sitz mehr erhalten hätte, wenn sie 50.000 Zweitstimmen weniger in Brandenburg bekommen hätte. An der Zahl der in Brandenburg direkt gewonnenen Sitze, davon ein Überhangmandat, hätte sich nichts geändert, dafür wäre der Bremer Landesliste ein Sitz mehr zugefallen. Für den Wähler ist nicht absehbar, ob seine Stimmabgabe sich günstig oder ungünstig für die gewählte Partei auswirkt, da dies von einer für ihn zufälligen Konstellation abhängt.

Um zu klären, ob solche zufälligen Mehrheitsfindungen in einem personalisierten Verhältniswahlrecht verfassungsgemäß sind, wurden mehrere Wahlprüfungsbeschwerden zu den Bundestagswahlen 1998, 2002 und 2005 beim Bundesverfassungsgericht erhoben. Das Gericht verkündete am 3. Juli 2008 in zwei Verfahren zur Prüfung der Bundestagswahl 2005 sein Urteil, dass die jetzige Vergabe der Überhangmandate wegen des Phänomens des negativen Stimmgewichts verfassungswidrig ist. Dem Gesetzgeber wurde eine Frist bis Juni 2011 eingeräumt, so dass zur Bundestagswahl 2009 noch ein Mal die alte Regelung greifen könnte.[2]

Zwei Mechanismen, um viele Überhangmandate zu erzielen

Die zwei Mechanismen zur Erhöhung der Zahl der Überhangmandate sind:

  1. Sieg in vielen Wahlkreisen
  2. sehr wenige Parteistimmen

Die Regelung der Überhangmandate ermöglicht Wählern, die ein Bündnis unterstützen wollen, Spielraum für strategisches Wählen. Ein Wähler der beispielsweise eine rot-grüne Koalition bevorzugt, sollte seine Erststimme rationalerweise der SPD geben, um damit den Einzug des Direktkandidaten der SPD in den Bundestag zu erleichtern, mit der Zweitstimme aber für die Liste der Grünen stimmen und damit auf Überhangmandate für die SPD spekulieren. Dieses Ticketsplitting kann potentiell, das heißt, wenn es von vielen Wählern, die einer Koalition anhängen, angewandt wird, erhebliche Auswirkungen auf die Zusammensetzung des Bundestages haben. In der Diskussion über das dritte Wahlgesetz von 1956 äußerte die SPD Befürchtungen, dass diese Möglichkeit, die die spezifische Form der deutschen personifizierten Verhältniswahl bietet, von Anhängern einer schwarz-gelben Koalition massiv genutzt werden könne und diese Koalition in der Zukunft über wesentlich mehr Sitze verfügen würde, als es ihrem Zweitstimmenanteil proportional entsprochen hätte.

In der Theorie ist die Regelung der Überhangmandate daher ein Konstruktionsdefizit des deutschen Wahlsystems, so dass immer wieder die Möglichkeit der Einführung von Ausgleichsmandaten zur Kompensation diskutiert wurde. In der Praxis aber sind Überhangmandate historisch kaum von Bedeutung gewesen (s. o.), da ein solches strategisch motiviertes Ticketsplitting nie in einem bedeutenden Ausmaß durchgeführt wurde, sei es aus auf Grund von klaren Parteipräferenzen oder schlicht auf Grund von Unwissenheit.

Einzelnachweise

  1. BVerfGE 95, 335 – Überhangmandate II
  2. Tagesschau.de: Wahlrecht in Teilen verfassungswidrig; Vollständiger Text des Urteils auf www.bundesverfassungsgericht.de

Weblinks


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