’Ndrangheta

’Ndrangheta

Die ’Ndrangheta (Betonung: Ndràngheta) ist die Vereinigung der kalabrischen Mafia, deren Aktionsradius heute ganz Europa, Nord- und Südamerika sowie Russland und Australien umfasst. Mit geschätzten 44 Milliarden Euro Jahresumsatz (2007) gilt die ’Ndrangheta als mächtigste Mafia-Organisation Europas.[1][2]

Die Wurzeln der Organisation reichen weit zurück. Im 19. Jahrhundert entstand sie aus Briganten und Rebellen in den Städten Platì und San Luca. Das Einkommen bestritt man vornehmlich aus Erpressungen und Entführungen. Die Herkunft des Namens ist nicht ganz geklärt. Er könnte aus dem in Teilen Süditaliens gesprochenen griechischen Dialekt Griko stammen und mit griechisch ἀνδραγαθία andragathía „Heldentum, Tugend“ oder ἀνδράγαϑος andrágathos „helden-, tugendhaft“, aus ἀνδρóς andrós „Mann“ und ἀγαθóς agathós „gut“, verwandt sein. Die Auslassung von Anfangsvokalen ist in süditalienischen Dialekten ein häufiges Phänomen.

Inhaltsverzeichnis

Geschichte

Schon 1861 stießen Beamte des neuen italienischen Nationalstaates in Kalabrien auf die Existenz dieser Geheimorganisation. Damals schon erschien die ’Ndrangheta bestens organisiert. Doch alle Versuche des Staates, ihre Macht zu zerstören, schlugen fehl. Die Mitglieder der ’Ndrangheta sind durchweg blutsverwandt.

Auch unter der faschistischen Herrschaft Mussolinis gelang es nicht, diesen kriminellen Organisationen das Handwerk zu legen. Sie passten sich schnell den neuen Zeiten an. Von einer Regionalregierung der ’Ndrangheta, die sozusagen die Organisation nach dem „Führerprinzip“ regiert, gehen die Justizstellen jedoch nicht aus. Vielmehr ist es eine Führung nach föderalem Prinzip. Über Jahrzehnte profitierte die ’Ndrangheta davon, dass sie von den staatlichen Stellen als harmloser als die sizilianische Cosa Nostra und die neapolitanische Camorra erachtet wurde. Das führte nicht zuletzt dazu, dass die ’Ndrangheta zuletzt den für sie unbequemen Politiker Francesco Fortugno vor einem Wahllokal erschoss. Sie gilt heute als das wirtschaftlich stärkste Syndikat und setzt etwa 44 Milliarden Euro um, das sind etwa drei Prozent der italienischen Wirtschaftsleistung.[1] Der Drogenhandel bringt die größten Einnahmen. Durch Auswanderer hat die ’Ndrangheta Zweigstellen in Europa, Nord- und Südamerika, aber auch in Russland, Kanada und Australien.

Organisation

Kalabrien in Italien
Provinz von Reggio Calabria

Nach Erkenntnissen europäischer Drogenermittler stellt die ’Ndrangheta die bedeutendsten Gruppen im europäischen Kokain-Handel, noch vor den kolumbianischen Drogenkartellen. Die Dominanz der ’Ndrangheta ist vor allem darauf zurückzuführen, dass es ihr gelang, Teile des Geschäfts an sich zu reißen, als die sizilianische Cosa Nostra in den 1990er Jahren unter Druck geriet. Weitere wesentliche Ertragsquellen sind Waffenhandel, Geldwäsche und Erpressungen. Das Zentrum der Organisation liegt nach wie vor in Kalabrien in den Provinzen Reggio Calabria und Crotone.

Die ’Ndrangheta zählt aktuell vermutlich etwa 7.000 Mitglieder und umfasst etwa 90 Clans oder Cosche (benannt nach dem sizilianischen Wort für die Artischocke, die als Symbol für den Zusammenhalt stehen soll) wie etwa die Familie Tegano. Im Vergleich zur Cosa Nostra basiert die Mitgliedschaft in der ’Ndrangheta weit stärker auf Blutsverwandtschaft, die einzelnen Mitglieder nennen sich ’ndrinu und der Clan selbst ’ndrina. Der Blutsverwandtschaft ist auch ein größerer Zusammenhalt zu verdanken: Bislang sind erst 157 Kronzeugen aus dieser Organisation ausgestiegen (zum Vergleich: In Sizilien sind es etwa 390). 1998 nahm die deutsche Polizei einen Auftragsmörder des Clans, Giorgio Basile, fest. Er sagte seitdem mehrfach gegen die Organisation aus. Ermittlungen, die 2010 zur Festnahme zahlreicher Mitglieder der ’Ndrangheta führten, ergaben, dass sich mittlerweile eine der Mafia vergleichbare Kontrollgruppe gebildet hat. Eine spezielle Gruppe innerhalb der Organisation sollen die im italienischen Norden tätigen Mitglieder darstellen (Lombardia).[2]

Ähnlich wie in Sizilien die Kleinstadt Corleone gibt es auch in Kalabrien ein Dorf, das als Hochburg der ’Ndrangheta bezeichnet wird: Platì am Fuße des Gebirges Aspromonte. Das Dorf soll unterirdische Gänge und Kammern mit getarnten oder versteckten Türen haben, die den Mitgliedern des Clans ein Verschwinden bei Gefahr ermöglichen.

Trotzdem versuchte der italienische Staat, immer wieder Herr der Lage zu werden. Beispielsweise stürmten 2003 insgesamt über 1000 Carabinieri das Dorf mit nur 2800 Einwohnern, wobei 131 Verdächtige festgenommen wurden. Am 17. Juli 2007 konnte ein einflussreicher Führer eines ’Ndrangheta-Clans, Giuseppe Bellocco, im Rahmen einer großangelegten Aktion gefasst werden.[3]

Einen der ranghöchsten Führer der Organisation hat die italienische Polizei am 19. Februar 2008 in Reggio Calabria festgenommen.[4]

Die italienische Polizei fasste im April 2010 in Reggio Calabria den siebzigjährigen Giovanni Tegano, ein führendes Mitglied der 'Ndrangheta. Tegano, der seit 17 Jahren auf der Flucht war, gehörte zu den 30 meistgesuchten Verbrechern Italiens. Seit 1995 wurde nach ihm mit einem internationalen Haftbefehl gefahndet. Wegen Mordes, Waffenschmuggels und Bildung einer verbrecherischen Vereinigung war er in Abwesenheit zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt worden.

Am 13. Juli 2010 wurden 300 ’Ndrangheta-Mitglieder bei dem größten polizeilichen Einsatz seit 15 Jahren verhaftet. Bei der Razzia, an der etwa 3000 Justizbeamte beteiligt waren, wurde auch der mutmaßlich höchste ’Ndrangheta-Anführer Domenico Oppedisano gefasst.

Ermittlungen im Zusammenhang mit den Mafiamorden von Duisburg am 15. August 2007 zeigten, dass die ’Ndrangheta auch in Deutschland, insbesondere in Nordrhein-Westfalen mittlerweile über feste Stützpunkte verfügt.[5]

In einer konfiszierten Mafia-Villa in Reggio Calabria widmet sich das Museo della ndrangheta der Dokumentation und Erforschung der ’Ndrangheta.

Die sieben Prinzipien

Nach diesen Regeln funktioniert die ’Ndrangheta angeblich:[6]

  • Umiltà – Demut gegenüber anderen (sogenannten „Ehrenwerten“ und der Bevölkerung)
  • Fedeltà – Uneingeschränkte Treue, deren Bruch mit dem Tod bestraft wird
  • Politica – Geheimsprache zwischen den „Ehrenwerten“, bei der die Wahrheit zu sagen das oberste Gebot ist
  • Falsa Politica – Sprache gegenüber Polizisten und Verrätern, die nie die Wahrheit erfahren dürfen
  • La Carta – Alle wichtigen Ereignisse werden aufgeschrieben
  • Il Lapis – Der Boss ist verpflichtet, eine geheime Chronik zu führen
  • Il Coltello – (wörtlich: Das Messer) Die Interessen der Organisation stehen an erster Stelle und werden mit Androhung des Todes beschützt

Die Anwendung der Prinzipien bedeutet Efferatezza (dt. Grausamkeit) gegenüber den Betroffenen, da deren Menschenrechte missachtet werden.

Aktivitäten im Ausland

Mittlerweile hat die ’Ndrangheta ihre Heimat auch verlassen und ist global tätig; dabei sind vor allem Deutschland und die Benelux-Staaten besonders stark betroffen. Die als Mafiamorde von Duisburg bekannt gewordenen Verbrechen vom Juni 2007, bei denen sechs Italiener getötet wurden, erregten großes Medieninteresse. Sie waren die ersten Morde dieses Ausmaßes, die die ’Ndrangheta im Ausland verübt hatte.[7] In einem Spiegel-Interview vom 19. August 2008 sprach ein Pate allerdings davon, dass es sich bei den Morden um keine Fehde handelte, sondern eine Abspaltung innerhalb der Gesellschaft verhindert werden sollte.[8] Um Nicola Di Girolamo, der 'Ndrangheta treu zu Diensten, bei der Wahl 2008 in den römischen Senat zu hieven, hatte sich die kalabrische Mafia-Organisation vornehmlich in Stuttgart von Italienern Blanko-Wahlzettel beschafft und zugunsten des angeblichen Auslandsitalieners Di Girolamo gefälscht.[9]

Literatur

  • Enzo Fantò (Hrsg.): Massomafia. ’Ndrangheta, politica e massoneria dal 1970 ai giorni nostri. Koinè, Rom 1997, ISBN 88-8106-010-8.
  • Stefano Morabito (Hrsg.): Mafia, ’Ndrangheta, Camorra nelle trame del potere parallelo. Gangemi, Rom 2005, ISBN 88-492-0896-0.
  • Letizia Paoli: Mafia Brotherhoods – Organized Crime, Italian Style, Oxford: UP 2003, ISBN 0-19-515724-9.
  • Andreas Ulrich: Das Engelsgesicht. Die Geschichte eines Mafia-Killers aus Deutschland. Goldmann, München 2007, ISBN 978-3-442-12973-7.
  • Gudrun Dietz: Die ’Ndrangheta. Wiley-VCH, Weinheim 2011, ISBN 978-3-527-50455-8.

Filme

  • Das dunkle Business der ’Ndrangheta. Dokumentation, Frankreich, 58 Min., Regie: Agnès Gattegno, Produktion: BFC Productions, arte France, Erstsendung: 16. Dezember 2008,[10]
  • Das Gesetz des Schweigens - Auf den Spuren der Mafia in Italien. Dokumentation, 2008, 45 Min., Regie: Antje Pieper.
  • Deutschland im Visier. Das geheime Netz der kalabrischen Mafia. Dokumentation, Deutschland, Italien, 2008, 45 Min., Regie: Christian Gramstadt und Markus Rosch, Produktion: BR, Erstsendung: 2. April 2008,[11]
  • ’Ndrangheta - Das blutige Business einer Mafia. Frankreich, 2008, 90 Min., Regie: Corradino Durruti, Produktion: arte, Erstausstrahlung: 5. Juni 2008,[12]
  • Im Netz der Mafia - Auf den Spuren der Mörder von Duisburg. Dokumentation, Deutschland, 2008, 45 Min., Regie: Ulrike Brödermann und Philipp Zahn, Produktion: ZDF, Erstsendung: 19. August 2008,[13]
  • Uomini d'onore. Dokumentation, Italien, 2009, 72 Min., Regie: Francesco Sbano. Die Dokumentation ist im Jahre 2009 auch auf DVD erschienen.

Weblinks

 Commons: 'Ndrangheta – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien
Wikinews Wikinews: ’Ndrangheta – in den Nachrichten

Einzelnachweise

  1. a b SPON/Reuters: Kalabrien – Polizei schnappt Mafia-Boss in Bunker, 10. Mai 2009
  2. a b Annette Langer, Kampf gegen die 'Ndrangheta - Polizei nimmt Hunderte Mafiosi fest, Spiegel Online vom 13. Juli 2010.
  3. „Italienische Polizei verhaftet Mafiaboss Bellocco. Eine zehnjährige Flucht ist zu Ende“ (nicht mehr online verfügbar), tagesschau, 17. Juli 2007
  4. "Super-Boss" der kalabrischen Mafia festgenommen. AFP, 19. Februar 2008
  5. Tobias Piller, ’Ndrangheta auch in Deutschland stabil. FAZ.net vom 15. August 2008
  6. dazu die Grafik unter „Treue bis in den Tod. Die sieben Prinzipien der ’Ndrangheta“, Spiegel Online, 15. August 2007
  7. „Italienische Regierung: Morde von Duisburg eine Mafia-Fehde“, Deutsche Welle, 15. August 2007
  8. Pate der Mafia - In Deutschland fühlen wir uns sehr wohl, Spiegel, 19. August 2008
  9. „Das Mafia-Kolosseum zu Stuttgart“, Kontext Wochenzeitung, 15. Mai 2011, Die ’Ndrangheta in Stuttgart
  10. Inhaltsangabe von arte, hier aufrufbar seit dem 3. September 2011
  11. Inhaltsangabe der ARD
  12. Inhaltsangabe von arte
  13. Inhaltsangabe des ZDF

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