Berlin-Marzahn Rastplatz

Berlin-Marzahn Rastplatz
Petra Rosenberg, Vorsitzende des Landesverbandes Deutscher Sinti und Roma Berlin Brandenburg e.V., hält eine kurze Rede am Gedenkstein.

Als Berlin-Marzahn Rastplatz bezeichnete das nationalsozialistische Regime ein Zwangslager, in das zwischen 1936 und 1943 als Roma und Sinti verfolgte Reichsbürger in Berlin-Marzahn eingesperrt wurden. Eine verbreitete Bezeichnung lautete Zigeunerrastplatz Marzahn. Das Lager diente der „Konzentration“, nämlich der räumlich leichteren Kontrolle und der „Selektion“ nach rasseideologischen Kriterien, der Ausbeutung durch Zwangsarbeit und der Vorbereitung ihrer Deportation in Konzentrationslager und in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau.

Inhaltsverzeichnis

Geschichte des Lagers

Polizeibewachung des Zwangslagers (ein Foto der Rassenhygienischen Forschungsstelle)

Vorgeschichte

Zur Vorbereitung der Olympischen Sommerspiele 1936 in Berlin beschlossen die Berliner Polizei und die Wohlfahrtsverwaltung in Zusammenarbeit mit der NSDAP-Gauleitung, die in Berlin ansässigen Personen, die man als „Zigeuner“ definierte, aus dem Stadtbild zu entfernen. Der Reichsinnenminister empfahl (mit seinem Runderlass zur „Bekämpfung der Zigeunerplage“ vom 6. Juni 1936), „von Zeit zu Zeit bezirksweise oder für ganze Landesteile Razzien auf Zigeuner zu veranstalten“, und erteilte im weiteren Verlauf dem Berliner Polizeipräsidenten von Helldorf, den Auftrag, einen „Landesfahndungstag nach Zigeunern“ durchzuführen. Alle jene, die von den Behörden als „Zigeuner“ betrachtet wurden, gleich, ob in üblichen Wohnungen oder im Wohnwagen lebend, waren festzunehmen und in einem Lager außerhalb der Reichshauptstadt zu internieren. Eine Rechtsgrundlage gab es dafür nicht.[1][2]

Einrichtung des Lagers

Ab Mitte der 1930er Jahre entstand eine größere Zahl von Internierungslagern für Sinti und Roma auf kommunale Initiative. [3]. Als einer der ersten entstand der Zigeunerrastplatz Marzahn im Mai 1936, am Rande von Rieselfeldern nahe dem Marzahner Friedhof (heute in einem Trapez westlich des S-Bahnhofs Raoul-Wallenberg-Straße).[4] Auf diesem ungeeigneten Gelände wurde eine alte Baracke des Reichsarbeitsdienstes aufgestellt, die den Inhaftierten als Unterkunft dienen sollten.

Erste Internierungen

Am 16. Juli 1936 wurden in Berlin und Umgebung die ansässigen Zigeuner, vor allem Sinti, verhaftet und in das Lager Marzahn gebracht. Obwohl am Anfang das Ziel der „Schutz vom nachbarlichen Zusammenleben“ und die „Abwehr ernster sittlicher Gefahren, insbesondere für die Jugend“ sein sollten, wurden während der Aktion sämtliche, bei der Zigeunerdienststelle der Polizei als Zigeuner und Zigeunermischling registrierte Personen verhaftet und eingesperrt. Die Anzahl wurde in der anschließenden Pressemitteilung mit über 600 angegeben.

In den folgenden Monaten konnten einige Familien das Lager verlassen. Teilweise emigrierten sie aus Deutschland, andere zogen jedoch nur aus Berlin fort. Die Zahl der Personen sank am Ende des Jahres 1937 bis auf 400.

Verschärfung der Verfolgung

Mit dem Grunderlass zur vorbeugenden Verbrechensbekämpfung vom 14. Dezember 1937 änderte sich die Lage. Nun konnte gegen die nationalsozialistisch so definierten Kategorien der Berufsverbrecher, Gewohnheitsverbrecher, Gemeingefährliche oder Gemeinschädliche eine Vorbeugungshaft verhängt werden, für die die Kriminalpolizei zuständig war. Roma galten pauschal und grundsätzlich als „gemeinschädlich“ und „asozial“. In der weiteren Folge wurde ein großer Teil der Männer im Zuge der „Aktionen gegen Asoziale“ 1938 im Februar und im Juni bei der Aktion „Arbeitsscheu Reich“ in das Konzentrationslager Sachsenhausen deportiert.[5] Im Ergebnis wurde der Rastplatz überwiegend von Frauen, Kindern und Alten bewohnt. Da ein großer Teil der seit August 1936 in das Lager Gekommenen „fahrende“ Sinti waren, war das Lager im September 1937 mit 150 Wohnwagen überfüllt.

Lebensbedingungen im Lager

Zwei Männer im Lager

Die Familien litten unter elenden Wohnverhältnissen und durften das Gelände nur mit polizeilicher Erlaubnis verlassen. Den Kindern erteilte man Schulunterricht auf dem Gelände.[4]

Die hygienischen Zustände im Lager waren katastrophal. Für die Menschen gab es lediglich zwei Toilettenanlagen und drei Wasserstellen. Der Bau von Brunnen war wegen der Nähe der Rieselfelder und der damit verbundenen Verseuchung des Wassers unmöglich. Die vorhandene Schule war völlig überbelegt und mit einem Lehrer nur mangelhaft ausgestattet. Vom Kriegsbeginn an wurden viele Inhaftierte als Zwangsarbeiter in der Berliner Industrie eingesetzt. Das Lager Marzahn war kein Konzentrationslager. Es unterstand bis zu seiner Auflösung den Berliner Behörden, die allerdings bei fehlender Kontrolle und mangels Investitionen einer Verelendung und Gefährdung der Sinti und Roma systematisch Vorschub leisteten.

Als das Datum der Auflösung des Lagers ist der 1. März 1943 wahrscheinlich. Bis zu diesem Tag wurde der Auschwitz-Erlass Heinrich Himmlers umgesetzt, nachdem alle „Zigeunermischlinge, Rom-Zigeuner und nicht deutschblütige Angehörige zigeunerischer Sippen balkanischer Herkunft“ nach den jeweiligen Richtlinien auszuwählen und in einer Aktion von wenigen Wochen Dauer in ein Konzentrationslager einzuweisen sind, was im Januar 1943 auf das KZ Auschwitz-Birkenau eingeschränkt wurde.

Rassenforschung und Deportationen

Mutmaßlich in Marzahn (wörtlich: „in einem Lager in der Nähe von Berlin“) führte der Mediziner und Rassenforscher Gerhart Stein Untersuchungen für seine von dem führenden nationalsozialistischen Erbhygieniker und Rassentheoretiker Otmar von Verschuer betreute Dissertation durch.[6] Stein gab auch Hinweise an die preußische Polizei zur Optimierung der Verfolgungsmaßnahmen.[7]

Die Internierten wurden von den Mitarbeitern der von dem Kriminalbiologen und Tsiganologen Robert Ritter geleiteten Rassenhygienischen und bevölkerungsbiologischen Forschungsstelle (RHF) für ein „Zigeunersippenarchiv“ als umfassender Datenbank der mitteleuropäischen Roma kategorisiert. Die Daten bildeten im weiteren Verlauf eine wesentliche Voraussetzung für die Deportation von mehr als 20.000 Roma nach dem sog. Auschwitz-Erlass. Auch Steins Arbeit findet hier Eingang.

Zu den ersten 1943 ins „Zigeunerlager Auschwitz“ deportierten Gruppen gehörten auch die Insassen des Lager, es blieben nur zwei von der RHF als „reinrassig“ begutachtete Familien zurück.[8][4]

Gedenken

1985 wandte sich der Autor und Bürgerrechtler Reimar Gilsenbach, der sich in der DDR für den Einbezug der Minderheit in das nationale Gedenken engagierte, an den Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker mit der Forderung, an den Orten der beiden Zwangslager in Marzahn und in Magdeburg Gedenktafeln zu installieren. In der Folge beschloss das Zentralkomitee der SED die Errichtung von Denkmalen dort. Für die Umsetzung hatten die jeweiligen Bezirksleitungen Sorge zu tragen. Der Bildhauer Jürgen Raue erhielt den Auftrag für Marzahn. Am 12. September 1986 wurde auf dem Parkfriedhof Marzahn, rechts des verlängerten Hauptweges im hinteren Friedhofsteil zum Ausgang Raoul-Wallenberg-Straße, ein Gedenkstein eingeweiht. Teilnehmer der Einweihungsveranstaltung waren Berliner Sinti, Angehörige der FDJ, Pfarrer Bruno Schottstädt der evangelischen Kirchengemeinde Marzahn/Nord sowie Vertreter des Ökumenischen Forums Berlin-Marzahn. Die Presse der DDR berichtete darüber in Bild und Text. Es war die erste Würdigung der Verfolgungsgeschichte der Roma durch staatliche Repräsentanten der DDR. Bereits am 29. Juni 1986 war dem eine Gedenkveranstaltung der evangelischen Kirche an diesem Gedenkort vorausgegangen.[9]

„Vom Mai 1936 bis zur Befreiung unseres Volkes durch die ruhmreiche Sowjetarmee litten in einem Zwangslager unweit dieser Stätte hunderte Angehörige der Sinti. Ehre den Opfern.“

Inschrift des Gedenksteins

Daneben wurde eine Gedenktafel platziert, die die Umstände des Lagers näher erläutert.

„Auf einem ehemaligen Rieselfeld nördlich dieses Friedhofs richteten die Nazis im Vorfeld der Olympischen Spiele 1936 einen « Zigeunerrastplatz » ein, auf dem Hunderte Sinti und Roma gezwungen wurden zu leben. Zusammengepfercht in düstere Baracken fristeten die Lagerbewohner ein elendes Dasein. Harte Arbeit, Krankheit und Hunger forderten ihre Opfer. Willkürlich wurden Menschen verschleppt und verhaftet. Demütigende « rassenhygienische Untersuchungen » verbreiteten Angst und Schrecken. Im Frühjahr 1943 wurden die meisten der « Festgesetzten » nach Auschwitz deportiert. Männer und Frauen, Greise und Kinder. Nur wenige überlebten.“

Inschrift der Gedenktafel

Seit 1986 findet jährlich eine vom Ökumenischen Forum Berlin-Marzahn e. V. und dem Landesverband deutscher Sinti und Roma Berlin-Brandenburg organisierte Gedenkveranstaltung statt. Ein Platz an der Stelle des ehemaligen Lagers wurde nach Otto Rosenberg benannt.[10] Seine Tochter Petra Rosenberg spricht jedes Jahr zur Gedenkveranstaltung am Stein.

Literatur

  • Ute Brucker-Boroujerdi, Wolfgang Wippermann: Das „Zigeunerlager“ Marzahn. In: Wolfgang Ribbe (Hrsg.): Berlin-Forschungen III, Berlin 1987, S. 189-201.
  • Raimar Gilsenbach: Hitlers erstes Lager für „Fremdrassige“. Ein vergessenes Kapitel der Naziverbrechen. In: Pogrom 17/122 , 1986, S. 15-17.
  • Guenter Lewy: Rückkehr nicht erwünscht. Die Verfolgung der Zigeuner im Dritten Reich. Propyläen, 2001, ISBN 978-3549071410.
  • Ewald Hanstein: Meine hundert Leben – Erinnerungen eines deutschen Sinto. Aufgezeichnet von Ralf Lorenzen. Mit einem Geleitwort von Henning Scherf. Donat Verlag, Bremen 2005, ISBN 978-3-934836-94-5.
  • Otto Rosenberg: Das Brennglas. Knaur Verlag, 1998
  • Michael Zimmermann: Rassenutopie und Genozid. Die nationalsozialistische Lösung der „Zigeunerfrage“. Hamburg 1996.

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Michael Zimmermann, Rassenutopie und Genozid. Die nationalsozialistische Lösung der „Zigeunerfrage“. Hamburg 1996, S. 85
  2. Wolfgang Benz: Das Lager Marzahn. Zur nationalsozialistischen Verfolgung der Sinti und Roma und ihrer anhaltenden Diskriminierung. In: Helge Grabitz, Klaus Bästlein, Johannes Tuchel (Hrsg.): Die Normalität des Verbrechens. Bilanz und Perspektiven der Forschung zu den nationalsozialistischen Gewaltverbrechen. (Festschrift für Wolfgang Scheffler zum 65. Geburtstag). Berlin 1994, S. 260.
  3. Michael Zimmermann: Rassenutopie und Genozid. Die nationalsozialistische Lösung der „Zigeunerfrage“. Hamburg 1996. S. 93-100.
  4. a b c David Koser et al.: Zigeunerlager Marzahn. In: Hauptstadt des Holocaust. Orte nationalsozialistischer Rassenpolitik in Berlin, Berlin 2009, Ort 38, S. 157.
  5. Michael Zimmermann: Rassenutopie und Genozid. Die nationalsozialistische Lösung der Zigeunerfrage. Hamburg 1996, S. 114.
  6. So ausweislich des Gutachtens von Verschuer in der Dissertationsakte. Siehe: Peter Sandner: „Rassenanthropologische“ Forschung des Verschuer-Schülers Gerhart Stein. In: Fritz Bauer Institut (Hrsg.): Beseitigung des jüdischen Einflusses …. In: Antisemitische Forschung, Eliten und Karrieren im Nationalsozialismus. Campus, Frankfurt a. M. 1999, ISBN 3593360985, S. 80–84.
  7. Peter Sandner: „Rassenanthropologische“ Forschung des Verschuer-Schülers Gerhart Stein. In: Fritz Bauer Institut (Hrsg.): „Beseitigung des jüdischen Einflusses ...“. Antisemitische Forschung, Eliten und Karrieren im Nationalsozialismus. Campus, Frankfurt a. M. 1999, ISBN 3593360985, S. 80–81
  8. Reimar Gilsenbach: Oh Django, sing deinen Zorn. Sinti und Roma unter den Deutschen. Berlin 1993, S. 145.
  9. Michaela Baetz, Heike Herzog, Oliver von Mengersen: Die Rezeption des nationalsozialistischen Völkermords an den Sinti und Roma in der sowjetischen Besatzungszone und der DDR. Eine Dokumentation zur politischen Bildung. Herausgegeben vom Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma, Heidelberg 2007, S. 111ff. Online-Fassung.
  10. Pressemitteilung Bezirksamt Marzahn-Hellersdorf, 17. Dezember 2007, Online-Fassung
52.55138888888913.546388888889

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