Bestimmtheitsgrundsatz

Bestimmtheitsgrundsatz

Der Bestimmtheitsgrundsatz hat in verschiedenen Rechtsgebieten unterschiedliche Bedeutungen. Im Staatsrecht ist er eine Ausprägung des im Deutschen Grundgesetz garantierten Rechtsstaatsprinzips.

Inhaltsverzeichnis

Bestimmtheitsgrundsatz im Staatsrecht

Prinzip

Der Bürger muss erkennen können, welche Rechtsfolgen sich aus seinem Verhalten ergeben können. Die staatliche Reaktion auf Handlungen muss voraussehbar sein, andernfalls wäre der Bürger der Willkür des Staates ausgesetzt. Damit ist festgelegt, dass vor allem für Gesetzestexte und für Verwaltungsakte, also immer wenn der Staat dem Bürger gegenüber auftritt, eine hinreichend klare Formulierung und eine Bestimmung der Rechtsfolgen Voraussetzung sein muss. Dies steht häufig im Konflikt mit der notwendigen Abstraktheit, mit der vor allem Gesetze formuliert werden müssen, damit sie auch alle relevanten Fälle regeln.

Der Gesetzgeber steht dabei immer wieder vor dem Problem, dass nicht alle erdenklichen Lebenssachverhalte vorausschauend in den Regelungen aufgenommen werden können. Auch auf ungewöhnliche Situationen muss per Gesetz reagiert werden können. Daher sind die meisten Gesetze sehr abstrakt formuliert.

Gesetze im möglichen Konflikt mit dem Prinzip

In der Rechtswissenschaft wird auch bei einigen Gesetzen über deren Vereinbarkeit mit dem Bestimmtheitsgrundsatz diskutiert. Auch das Bundesverfassungsgericht hat schon deutsche Gesetze wegen eines Verstoßes gegen den Bestimmtheitsgrundsatz verworfen.[1][2]

Um die Anwendungsmöglichkeiten eines Gesetzes flexibler zu gestalten, kann man auf so genannte unbestimmte Rechtsbegriffe zurückgreifen. So wird dem Rechtsanwender beispielsweise ein Beurteilungsspielraum eingeräumt oder ein gewisser Ermessenspielraum zuerkannt.

Der Grundsatz im Spannungsfeld zu Analogien

Eine besondere Formulierung des Bestimmtheitsgrundsatzes findet sich nochmals in Art. 103 Abs. 2 GG, der vor allem für Strafgesetze fordert, dass die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt sein muss (nullum crimen, nulla poena sine lege). Daraus wird für das Strafrecht ein weitgehendes Analogieverbot abgeleitet.

Analogien sind in anderen Rechtsgebieten gebräuchlich, um übersehene, von anderen Regelungen nicht erfasste Fälle unter den Tatbestand eines Gesetzes zu fassen, das diesen Fall auch nicht ausdrücklich mitregelt, aber vom Grundgedanken der Regelung eine systematisch stimmige und gerechte Lösung des Falles zulässt. Das entsprechende, vom Wortlaut eigentlich nicht passende Gesetz wird dann "analog" auf den konkreten Fall angewandt.

Im Strafrecht wird die analoge Anwendung von Vorschriften zu Lasten des Täters daher ausgeschlossen, da Analogien eben nicht bestimmt sind, da sie ja nicht ausdrücklich gesetzlich geregelt sind.

Bestimmtheitsgrundsatz im Sachenrecht

Im Sachenrecht bedeutet der Bestimmtheitsgrundsatz, dass beim Erwerb und der Verfügung über dingliche Rechte immer genau bestimmt sein muss, um welche Sache es geht. So ist es etwa nicht möglich, 20% der Schrauben in einer Kiste zu übereignen. In diesem Fall müsste genau bestimmt werden, um welche einzelnen Schrauben es sich handelt. Dieses Prinzip dient der Publizität der dinglichen Rechte. Diese wirken absolut, das heißt, gegenüber jedermann. Daher vereinfacht es den Rechtsverkehr, wenn für jeden immer klar erkennbar ist, wer dingliche Rechte an einer Sache hat.

Insbesondere spielt der Bestimmtheitsgrundsatz bei der Übertragung von Kreditsicherheiten eine große Rolle. Bei allen Sicherheitenverträgen muss das sog. Spezialitätenprinzip beachtet werden. Danach müssen die zu bestellenden Sicherheiten nicht nur für Sicherungsgeber und Sicherungsnehmer, sondern objektiv auch für Dritte (schlimmstenfalls der Insolvenzverwalter) genau bezeichnet (individualisiert) und von anderen, nicht haftenden gleichartigen Gegenständen unterscheidbar sein; dabei müssen einfache äußere Abgrenzungskriterien gewählt werden.[3] Sachen müssen so bestimmt bezeichnet sein, dass jeder Kenner des Vertrages sie unschwer von anderen unterscheiden kann.[4] Der Bestimmtheitsgrundsatz ist erfüllt, wenn die typischen Merkmale jeder Sicherheit umfassend beschrieben wurden, so dass eine spätere Identifizierung auch für Dritte ohne größeren Aufwand und ohne Zweifel möglich ist. Erforderlichenfalls sind Skizzen und Standorthinweise oder andere Anlagen den Sicherheitenverträgen beizufügen. Die Bestimmtheit dient neben diesen Abgrenzungsfragen auch dem Schutz anderer Gläubiger.

Bestimmtheit ist regelmäßig bei der Sicherungsübereignung von Sachgesamtheiten erforderlich, die im Bestand wechseln.[5] An Bestimmtheit fehlt es dann, wenn zur Klarstellung außerhalb des Vertrages liegende Umstände mit herangezogen werden müssen.[6] Nicht erforderlich ist, dass die Sachen des Sicherungsgebers und Vorbehaltswaren räumlich voneinander getrennt werden. Es kann vielmehr vereinbart werden, dass das Anwartschaftsrecht am Sicherungsgut auf die Bank übergehen soll.[7] Der Bestimmtheitsgrundsatz ist gewahrt, wenn alle Gegenstände in einem Raum übereignet werden.[8] Soll jedoch ein Teil einer größeren Menge in einem Raum übereignet werden, bedarf es einer eindeutigen Abgrenzung gegenüber dem nicht übereigneten Teil.[9] Hierzu ist erforderlich, dass Markierungen zeigen, auf welche Gegenstände sich die Übereignung erstreckt.[10]

Der sachenrechtliche Bestimmtheistgrundsatz kann nicht ohne weiteres auf Forderungen angewandt werden, weil die Sicherungsabtretung im Schuldrecht des BGB geregelt ist. Nach herrschender Meinung genügt bereits die einfache Bestimmbarkeit der abgetretenen Forderungen. Die Abtretung (bestehender oder künftiger) Forderungen ist wirksam, wenn die abgetretene Forderung eindeutig bestimmt oder zumindest im Augenblick ihres Entstehens nach Gegenstand und Umfang bestimmbar ist.[11] Notwendig und ausreichend ist die Bestimmtheit im Zeitpunkt der Entstehung der Sicherheit (Forderungen, Warenbestand). Bei antizipierten Zessionen (Mantel- und Globalzession) muss Bestimmbarkeit im Zeitpunkt der Abtretungserklärung vorliegen, sodass jedenfalls dann einer Wirksamkeit der Abtretung künftiger Forderungen nichts entgegensteht, wenn die Geschäftsunterlagen zweifelsfreien Aufschluss über das rechtliche Schicksal der zedierten Forderungen geben. Es handelt sich hierbei nicht um eine Frage der Rechtswirksamkeit der Abtretung, sondern ihrer Beweisbarkeit.[12]

Fehlt es bei Kreditsicherheiten an der Bestimmtheitserfordernis, sind die entsprechenden Sicherheitenbestellungen nichtig.

Einzelnachweise

  1. Beispiel für das Verwerfen von Gesetzen aufgrund des Bestimmtheitgrundsatzes: das Volkszählungsgesetz 1983 war laut BVerfG so unverständlich formuliert, dass "der auskunftspflichtige Bürger die Auswirkungen dieser Bestimmung nicht mehr zu übersehen vermag". Veröffentlicht in BVerfGE − Entscheidungssammlung des BVerfG, Band 65, S. 1 und 165
  2. Weiteres Beispiel für das Verwerfen von Gesetzen aufgrund des Bestimmtheitgrundsatzes: BVerfGE, Band 100, S. 313/360
  3. BGH WM 1992, 398
  4. BGH NJW 1994, 133
  5. BGH WM 1963, 504
  6. BGH NJW 1958, 945
  7. BGH WM 1958, 1024
  8. BGH NJW 1996, 2654
  9. BGH NJW 1984, 803
  10. BGH WM 1977, 218
  11. BGH NJW 2000, 276
  12. BGH NJW 1978, 358

Literatur

  • Tiedtke, "Bestimmtheit der zu übereignenden Sachen bei teilweiser Sicherungsübereignung von Sachgesamtheiten - Neue Tendenzen in der Rechtsprechung des BGH", WiB 1995, S. 197

Siehe auch

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