Bionik

Bionik
Flügel für Flugapparate
(Zeichnung von Leonardo da Vinci)
Steinhuder Hecht als U-Boot-Vorlage
Flügelenden-Optimierung Spiroid

Die Bionik (auch Biomimikry, Biomimetik oder Biomimese) beschäftigt sich mit der Entschlüsselung von „Erfindungen der belebten Natur“ und ihrer innovativen Umsetzung in der Technik. Die Bionik ist ein interdisziplinärer Bereich, in dem Naturwissenschaftler und Ingenieure sowie bei Bedarf auch Vertreter anderer Disziplinen wie etwa Architekten, Philosophen und Designer zusammenarbeiten.

Der englische Begriff bionics wurde vom amerikanischen Luftwaffenmajor Jack E. Steele 1960 auf einer Konferenz in der Wright-Patterson Air Force Base in Dayton, Ohio, geprägt. Das deutsche Kofferwort Bionik setzt sich aus Biologie und Technik zusammen und bringt damit zum Ausdruck, wie für technische Anwendungen Prinzipien verwendet werden können, die aus der Biologie abgeleitet werden. Die Bionik ist systematisches Lernen von der Natur und steht damit in Abgrenzung zur reinen Naturinspiration.

Die „Gegenrichtung“ zur Bionik, also die Unterstützung der Biologie durch andere (technische) Wissenschaftsbereiche, wird Bio-… genannt (Bioinformatik, Biophysik, (teilweise) Biochemie, ...).

Inhaltsverzeichnis

Details

Im englischen Sprachraum beschränkt sich die Bedeutung von bionic zumeist auf die Konstruktion von Körperteilen oder - allgemeiner - einer Kombination von Biologie und Elektronik (auch im Zusammenhang mit der Idee des Cyborgs). Das, was im deutschen Sprachraum mit Bionik bezeichnet wird, entspricht im Englischen oft dem Begriff biomimetics oder manchmal auch biomimicry. Da viele Autoren sich der sprachlichen Problematik bewusst sind, werden mittlerweile die beiden Begriffe Bionik und Biomimetik meist als Synonyme verwendet.

In der Bionik werden für technische Probleme gezielt Lösungen in der Biologie gesucht (Bionik als top-down-Prozess, Analogie-Bionik). Alternativ werden Prinzipien von biologischen Modellsystemen produktunabhängig abstrahiert (vom biologischen Vorbild losgelöst), die dann als Ideenvorlage für vorher nicht festgelegte technische Problemlösungen dienen können (Bionik als bottom-up-Prozess, Abstraktions-Bionik). Nachdem diese neuen Prinzipien in der Technik etabliert sind, können die Anwendungen in jedem geeigneten Bereich stattfinden. Diese Herangehensweisen werden auch dadurch begründet, dass im Laufe der Evolution viele biologische Lösungen optimiert wurden.

Als historischer Begründer der Bionik wird häufig Leonardo da Vinci angeführt, der beispielsweise in seinem Manuskript Über den Vogelflug den Vogelflug analysierte und versuchte, seine Erkenntnisse auf Flugmaschinen zu übertragen. Das erste deutsche Patent im Bereich Bionik wurde 1920 Raoul Heinrich Francé für einen „Neuen Streuer“ nach dem Vorbild einer Mohnkapsel erteilt (Dt. Patentamt, Nr. 723730). Kurz darauf entstand eine weitere nützliche Erfindung nach dem Vorbild der Kletten. Das Prinzip wurde von dem Schweizer Wissenschaftler George de Mestral entdeckt. Er nutzte die Eigenschaft der Klettfrucht, um den Klettverschluss zu erfinden. Allerdings hat sich die Bionik erst in den letzten Jahrzehnten insbesondere aufgrund neuer und verbesserter Methoden (Rechnerleistung, Produktionsprozesse) zu einer etablierten Wissenschaftsdisziplin entwickelt.

Bei der Entwicklung technischer Funktionselemente waren parallele Entwicklungen in der Natur nicht immer bekannt. So wurde das Fachwerk ohne Kenntnis der Feinstruktur der Knochenbälkchen entwickelt. Da keinerlei Übertragung stattfand, spricht man bei solchen formellen oder funktionellen Übereinstimmungen von Entsprechungen und nicht von Bionik.

Biomimetik oder Bionik als Wissenschaftsdisziplin sucht dagegen gezielt nach Strukturen in der Natur, die technisch als Vorbilder von Bedeutung sein können. Diese Vorgehensweise kann häufig als reine Analogiensuche bezeichnet werden. Sie erlaubt allerdings meist nur kleinere Innovationssprünge, da die technische Anwendung bereits erkennbar sein muss.

Computerrendering des Lotus-Effektes

Alternativ können durch biologische Grundlagenforschung bestimmte Struktur- oder Organisationsprinzipien beschrieben werden, die erst danach als geeignet für eine Übertragung in die Technik erkannt werden. So werden etwa anhand der Untersuchung des Knochenaufbaus neue Fachwerkskonstruktionen entwickelt. Auch führten die Erkenntnisse über die Unbenetzbarkeit und Selbstreinigung bestimmter pflanzlicher Oberflächen erst später zur Entwicklung so unterschiedlicher industrieller Produkte wie Fassadenfarbe, Dachziegel und Markisen mit dem so genannten Lotus-Effekt.

Das Bionic Learning Network ist ein Forschungsverbund des Unternehmens Festo mit Hochschulen, Instituten und Entwicklungsfirmen. Ziel der Initiative ist, durch die Anwendung der Bionik neuartige Technologieträger hervorzubringen.

Als Meilenstein der Bionik gilt Ingo Rechenbergs Vortrag auf der gemeinsamen Jahrestagung der WGLR und DGRR im September 1964 in der Berliner Kongresshalle mit dem Titel: „Kybernetische Lösungsansteuerung einer experimentellen Forschungsaufgabe“. Hier führte er das mittlerweile berühmt gewordene Darwin-im-Windkanal-Experiment vor, in dem eine zur Zickzackform gefaltete Gelenkplatte sich evolutionär zur ebenen Form geringsten Widerstands entwickelt.

Teilgebiete

Die Bionik kann in verschiedene Teilgebiete unterteilt werden:

  • Konstruktionsbionik
Vergleichen von Konstruktionselementen und deren Integrationen
  • Sensorbionik
Untersuchen der Systeme zur Reizaufnahme
  • Strukturbionik
Analyse biologischer Strukturelemente
  • Bewegungsbionik
Untersuchung von Antriebsmechanismen, Oberflächeneinfluss und Strömungsanpassung
  • Neurobionik
Beobachtung natürlicher Informationsübertragung und Übertragung auf informatische Systeme
  • Baubionik
Untersuchung kompletter Konstruktionen von Lebewesen oder ihrer Produkte
  • Gerätebionik
Umsetzung natürlicher Gerätekonstruktionen
  • Verfahrensbionik
Biologische Verfahren wie z. B. Photosynthese werden untersucht
  • Klimabionik
Suche nach Systemen zur passiven Lüftung, Kühlung oder Heizung
  • Anthropobionik
Studium tierischer Bewegungen, oft zur Verwendung in der Robotik
  • Evolutionsbionik
Übertragung der Evolutionsverfahren auf Forschung (experimentelle Versuchs-Irrtums-Entwicklung)

Vorgehensweisen

Otto Lilienthal am 16. August 1894

Bionik als „top-down-Prozess“ (Analogie-Bionik)

  1. Definition des Problems
  2. Suche nach Analogien in der Natur
  3. Analyse der Analogien in der Natur
  4. Suche nach Lösungen für das Problem mit den gewonnenen Erkenntnissen aus der Natur

Beispiele

  • Flugzeug: Otto Lilienthal und die Gebrüder Wright beobachteten den Flug (Lokomotion) großer Vögel, und optimierten damit ihre Prototypen.
  • Fallschirm: Frucht des Wiesenbocksbarts
  • Winglets an den Enden der Tragflächen von Flugzeugen: große Wirbel an den Flügelspitzen von Flugzeugen bedingen einen hohen Treibstoffverbrauch, der durch den Einsatz von Winglets um rund fünf bis sechs Prozent reduziert werden kann. Untersuchung von Flügeln segelnder/gleitender Vögel als Flugzeug-Analogie. Beschreibung der Handschwingen von bestimmten Vogelarten (etwa Bussard, Kondor und Adler), die statt eines großen Wirbels mehrere kleinere verursachen und damit insgesamt weniger Energie verbrauchen. Herstellung künstlicher Flügel mit mehreren Wirbelablösestrukturen (Winglets). Flugzeugkonstrukteure haben die Winglets zu einem Schleifenprofil am Flügelende (split-wing loop) weiterentwickelt (Spiroid). Das Beispiel zeigt, dass am Ende einer Optimierung deren bionische Herleitung nicht immer sichtbar sein muss.
  • Entwicklung neuartiger Profile von Autoreifen: Biologisches Vorbild sind etwa Katzenpfoten, die sich bei Richtungswechsel verbreitern und so eine größere Kontaktfläche zum Untergrund haben.
  • Spinnenartige Roboter, deren Beine autonome Steuerungsfunktionen haben und die dadurch zentral gesteuerten Robotern überlegen sind.

Bionik als „bottom-up-Prozess“ (Abstraktions-Bionik)

  1. Biologische Grundlagenforschung: Biomechanik und Funktionsmorpholgie von biologischen Systemen
  2. Erkennen und Beschreiben eines zu Grunde liegenden Prinzips
  3. Abstraktion dieses Prinzips (Loslösung vom biologischen Vorbild und Übersetzung in nicht-fachspezifische Sprache)
  4. Suche nach möglichen technischen Anwendungen
  5. Entwicklung technischer Anwendungen in Kooperation mit Ingenieuren, Technikern, Designern usw.

Beispiele

  • Unbenetzbarkeit und Selbstreinigung bestimmter biologischer Oberflächen: Die Beobachtung und nähere Untersuchung der Tatsache, dass von einem Blatt der Lotuspflanze praktisch alle wasserlöslichen Substanzen abperlen, führte zu Patenten für extrem schlecht benetzbare und selbstreinigende Oberflächenstrukturen (etwa für eine neue künstliche Oberfläche als Fassadenfarbe), dem Lotuseffekt. Siehe auch: Wachse auf Pflanzenblättern, beispielsweise von der Lotusblume, Kohlrabi usw.
  • Strukturoptimierung von Bauteilen (CAO und SKO): Wuchsformen von Bäumen oder Knochen
  • Riblet-Folien: Bei schnell schwimmenden Haien besteht die Hautoberfläche aus kleinen, dicht aneinander liegenden Schuppen. Auf diesen Schuppen befinden sich scharfkantige feine Rillen, die parallel zur Strömung ausgerichtet sind. Diese mikroskopisch kleinen Rillen bewirken eine Verminderung des Reibungswiderstands. Dieser widerstandsvermindernde Effekt ist in allen turbulenten Strömungen, also auch in Luft wirksam. Flugzeuge können mit einer speziellen Folie beklebt werden (so genannte Riblet-Folie), die auf ihrer Oberseite über eine ähnliche Struktur verfügt und so den Luftwiderstand des Flugzeugs senkt. Die wissenschaftliche Grundlage entstammt Untersuchungen an fossilen Haien und deren „Schuppen“.
  • Der Klettverschluss wurde nach dem Vorbild der Klettfrüchte entwickelt (George de Mestral, 1956).
  • Schwarmintelligenz und Ameisenalgorithmus übertragen Verhaltensweisen von Insekten und anderen, in Gemeinschaft oder größeren Gruppen lebenden Tieren in technische Bereiche.

Entsprechungen von technischen Entwicklungen und Natur

Regentropfen als Vorbild für die Lupe

Siehe auch

Literatur

Weblinks

Wiktionary Wiktionary: Bionik – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen

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