Blutrache

Blutrache
Demonstration der albanischen Nichtregierungsorganisation Mjaft! gegen die Blutrache. Auf dem Transparent steht Genug der Blutrache

Die Blutrache oder Vendetta ist ein Prinzip zur Sühnung von Verbrechen, bei dem Tötungen oder andere Ehrverletzungen durch Tötungen gerächt werden. Sie stellt die Ultima Ratio der Konfliktbewältigung innerhalb der Fehde dar.

Hierbei straft die Familie des Opfers den Täter und seine Familie oftmals auch aus der Absicht heraus, die vermeintlich verlorene Familienehre wiederherzustellen. Unter Familie ist dabei mancherorts nicht nur die biologische Verwandtschaft zu verstehen, sondern auch ein Clan oder eine Verbrecherbande. Ein Ausgestoßener, für den sein Clan keine Blutrache üben würde, ist in diesem System schutzlos.

In Süditalien wird die Blutrache als „Vendetta“ bezeichnet. In Albanien regelt der Kanun (örtliche gewohnheitsmäßige Vorschrift) die Blutrache.

Inhaltsverzeichnis

Archaische Wurzeln

Die Blutrache ist ein wesentliches Element vieler archaischer Gewohnheitsrechts-Ordnungen auf der ganzen Welt. Theoretisch gilt hierbei das Talionsprinzip: Es weist das Opfer oder seine Vertreter an, dem Täter „Gleiches mit Gleichem“ zu vergelten beziehungsweise dessen Vergehen zu sühnen („Wie du mir, so ich dir“). Dies darf jedoch nicht mit der Formulierung Auge für Auge aus der Tora verwechselt werden, denn diese bezieht sich ausdrücklich nur auf die Verhältnismässigkeit der Mittel und stellt daher eine ausdrückliche Abkehr von der Vergeltung mit gleichen Mitteln dar. Vielmehr wird in der Tora gefordert, dass der Preis der Wiedergutmachung dem Schaden bei Körperverletzung angemessen sein muss. Der Ehrenkodex der Blutrache verlangt aber, auch nicht „ein Mehr“ heimzuzahlen. Durch den Tod des Mörders sollte der Konflikt beendet werden. Dabei ist es nicht unüblich, dass beide Familien unter Hinzuziehung eines Schlichters oder eines Richters in einem Treffen das Vorgehen abklären. Allerdings gibt es auch Berichte von Blutrache, die sich über viele Jahre hinzieht.

In der Tradition verschiedener Völker ist die Strafe dagegen oftmals schlimmer als das vorangegangene Verbrechen. Die Blutrache kann dann zu langen, blutigen Auseinandersetzungen führen, wenn, da die bestrafte Familie meist Rache für die Strafe nimmt, die andere Familie wiederum dafür Rache nimmt.

Das erste Verbot der Blutrache findet sich bereits in verschiedenen babylonischen Gesetzessammlungen (ca. 2000 V.d.Z.) wie dem Codex Hammurapi und dem Codex Eschnunna (ca 3000 V.d.Z.)

Textbeispiel aus dem Codex Hammurapi:

§196 Wenn ein Bürger ein Auge eines (anderen) Bürgers zerstört, soll man ihm ein Auge zerstoeren.

Für Palastangehörige wird allerdings keine Metapher gewählt, sondern ein genauer Preis festgesetzt:

§198 Wenn er ein Auge eines Palastangehörigen zerstört oder einen Knochen eines Palastangehörigen bricht, so soll er eine Mine Silber zahlen.

Auge für Auge ist also keine Aufforderung zur Rache, sondern eine rhetorische Figur der bildhaften Sprache jener fernen Zeiten.

Vorkommen in der Neuzeit

Das neuzeitliche Vorkommen der Blutrache ist nicht fest an bestimmte Gebiete gebunden. Auf dem Balkan, zum Beispiel in Griechenland auf Kreta und in Mani (Peloponnes), im Norden Albaniens[1] und in einigen Ländern des ehemaligen Jugoslawiens wie im Kosovo und Montenegro, in östlichen Teilen der Türkei (kan davası: „Blutstreit“) und bei den Tschetschenen wird die Blutrache zum Teil noch heute praktiziert. Das Clansystem der Somali in Nordostafrika beinhaltet ebenfalls Blutrache-Elemente.

Vendetta ist der italienische Begriff für Blutrache. Sie ist die in Süditalien vorkommende Variante des Talions, so in Sizilien, in Kalabrien und auf Sardinien (als Vindicau). Auch im französischen Korsika ist dieser Begriff das Synonym für die bis ins 19. Jahrhundert belegte Blutrache.

In den 1990er Jahren war insbesondere Nordalbanien wegen Blutrache und Ehrenmorden in die Schlagzeilen geraten. Die Täter halten sich aber meist nicht mehr an die detaillierten Vorschriften des mündlich überlieferten Gewohnheitsrechts Kanun, das unter anderem die Blutrache regelte. In Albanien wird die Blutrache als Gjakmarrje bezeichnet. In den Jahren 2004 bis 2006 wurden im nordalbanischen am stärksten betroffenen Gebiet Qark Shkodra aber nur noch ein oder zwei Blutrache-Morde pro Jahr registriert,[2] wobei die amtlichen Zahlen aber in Frage gestellt werden.[3]

Blutrache und rechtsstaatliche Gesetzgebung sind nicht vereinbar. Migranten aus den Gebieten in denen Blutrache vorkommt bringen mit anderen Sitten immer auch ihre Vorstellung von Ehrgefühl mit, so dass es auch in Westeuropa zu verschiedenen Blutrache-Fällen kam. Westliche Gerichte beurteilen diese Selbstjustiz in der Regel als Mord oder Totschlag.

Dichtung und Romane

Literatur

  • Jonas Grutzpalk: Blood Feud and Modernity. Max Weber’s and Émile Durkheim’s Theory. In: Journal of Classical Sociology 2 (2002); S. 115-134.[1]
  • Karl Kaser: Familie und Verwandtschaft auf dem Balkan. Analyse einer untergehenden Kultur. Wien 1995, ISBN 3205-9834-59; Einzelfälle (Međugorje): S. 230 ff.
  • Péter Krasztev: The Price of Amnesia. Interpretations of Vendetta in Albania. In: Journal for Politics, Gender and Culture. 1(2002), Heft 2, S. 33-63.
  • Klementin Mile/Albanian Institute for International Studies: Gjakmarrja: Mes Kanunit dhe Shtetit (The Blood Feud: Between Kanun and State). Tirana 2007.
  • Die Tora in jüdischer Auslegung Ex 20,19-21,36 Literarische Auslese: S. 249, ISBN 978-3-579-05493-3 (Band II)

Weblinks

Wiktionary Wiktionary: Blutrache – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen
 Wikisource: Kaukasische Civilisation – A. M., illustriert, in Die Gartenlaube (1867), Heft 29

Einzelnachweise

  1. http://oe1.orf.at/highlights/120041.html Bericht über die Blutrache in Albanien
  2. Klementin Mile/Albanian Institute for International Studies: Gjakmarrja: Mes Kanunit dhe Shtetit, Tirana 2007 – gestützt auf Auskünfte der Polizei des Qarks Shkodra
  3. Thomas Fuster: Albaniens vom Leben ausgesperrte Kinder. In: Neue Zürcher Zeitung. Nr. 133, 12. Juni 2010, S. 9.

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