Aachener Gaffelbrief

Aachener Gaffelbrief

Aachener Gaffelbrief ist die Bezeichnung für eine historische Verfassung der Freien Reichsstadt Aachen, die erstmals 1450 getroffen wurde und nach mehrmaligen Aktualisierungen bis 1794 Bestand hatte. Der Gaffelbrief spielte eine frühe Rolle in der Demokratisierungsbewegung vor allem der einfachen Bürger und der sich in Zünften organisierenden Gewerbetreibenden, die sich von den mehrheitlich regierenden Patriziern und Aristokraten nicht mehr zeitgemäß vertreten fühlten, und spiegelt dabei auch die historische Entwicklung des Aachener Zunftwesens wider. Die Herkunft des Wortes Gaffel leitet sich von dem Niederdeutschen / Kölschen Wort Gabel ab, womit ursprünglich eine zweizinkige (Fleisch-)Gabel gemeint war.

Inhaltsverzeichnis

Vorgeschichte

Seit der Verleihung der Rechte einer Freien Reichsstadt im Jahre 1166 durch Kaiser Friedrich I. Barbarossa stand an der Spitze Aachens zunächst ein königlicher Beamter. Im Jahre 1250 ging die Leitung auf den Rat über, dem ein Bürgermeister vorstand. Der Rat setzte sich zusammen aus einem so genannten „Erbrat“, der wiederum aus zwei Bürgermeistern, zwei Rent- und Baumeistern, lebenslänglich gewählten Schöffen sowie den Deputierten der neun Aachener Grafschaften des Aachener Reichs bestand. Die Handwerker, welche bis zum Jahre 1428 nur in mehr oder weniger losen „Bruderschaften“ oder auch so genannten „Ambachten“ zusammengeschlossen waren, waren im Stadtrat nicht vertreten.

Auf Grund eines wirtschaftlichen Aufschwungs der handwerklich Tätigen bei gleichzeitiger Misswirtschaft der Stadtverwaltung sowie der Einführung einer Reichssteuer, sahen sich die Bürger nicht mehr zeitgemäß vertreten und klagten Mitbestimmung ein. Es folgten Proteste und Aufruhr. Zugleich organisierten sich die Ambachten per Satzungen und Verordnungen allmählich zu ordnungsgemäßen Zünften. Ab 1437 wurde es lediglich zehn Zünften erlaubt, sechs Mitglieder aus ihren Reihen und nur in besonderen Fällen in den Rat zu entsenden. Schließlich einigte man sich nach jahrelangem erbitterten Streit und heftigen Unruhen auf eine vertraglich geregelte Mitbestimmung, die im Aachener Gaffelbrief des Jahres 1450 erstmalig niedergeschrieben wurde. Diejenigen politisch berechtigten Zünfte, die fortan mit stimmberechtigten Mitgliedern im Rat vertreten waren, wurden seitdem mit „Gaffeln“ bezeichnet und dadurch erhielt das Vertragswerk seinen Namen. So genannte Gaffeln gaben es außerhalb Aachens nur noch in Köln, welche eine ähnliche historische und politische Entwicklung wie in Aachen durchlaufen, ihre ständedemokratische Verfassung aber bereits 1396 in einem so genannten „Verbundbrief“ geregelt hatten, an denen 22 Kölner Gaffeln beteiligt waren.

Mit den folgenden Gaffelbriefen gelang es somit den Aachener Zünften, Schritt für Schritt die Stadt aus einer ehemals aristokratischen Selbstverwaltung in eine demokratische zu verwandeln und damit die Eigenbedeutung für die Region zu stärken. Die Zünfte waren von nun an der zentrale Ansprechpunkt für das gesamte öffentliche Leben und nur durch diese konnte der Bürger politisches Recht und politischen Schutz finden und deshalb wurde jeder Bürger verpflichtet, deren Mitgliedschaft zu erwerben.

Erster Gaffelbrief 1450

Durch den ersten Aachener Gaffelbrief kam es zu einer komplett neuen Zusammensetzung des Aachener Stadtrates, dem ab sofort Deputierte aus elf Zünften angehörten und der jährlich zur Hälfte neu gewählt wurde. Diese elf anerkannten Zünfte bestanden aus der „Sternzunft“, denen ausschließlich nur die Adeligen angehörten und die eine Fortführung des vorherigen alten Erbrates darstellten und aus denen die Schöffen gewählt wurden sowie die „Bockzunft“, die Gesellschaft der Patrizier, in denen die Gelehrten, Ärzte, Juristen, Kaufleute und Beamte sich organisiert hatten. Ferner aus den Zünften der Werkmeister (Tuchfabrikanten und Wollenweber), Brauer, Metzger, Löder (Gerber), Schmiede sowie aus den vier „Gesellschaften“ zum „Löwenberg“, zum „schwarzen Adler“, zum „Pontort“ und zum „Altenstern“, die wiederum aus gehobenen Bürgerschichten und Patriziern bestanden.

Dieser neu aufgestellte Stadtrat gliederte sich auf in einen kleinen und einen großen Rat. Dem insgesamt 40 Personen starken kleinen Rat gehörten neben zwei Ratsherren aus jeder der elf Zünfte noch zwei Bürgermeister (von ihnen wurde einer aus den Schöffen und einer aus der Bürgerschaft gewählt), zwei Schöffenmeister (meist die dienstältesten Schöffen), ein Kanzler (Schreiber), zwei Kürschöffen, zwei Werkmeister und neun „Christoffeln“ an, wie die Gesandten aus den neun Grafschaften genannt wurden. Der kleine Rat beschäftigte sich mit der Stadt und Landeshoheit und bildete das Ober- und Appellationsgericht. Dem großen Rat wurden zusätzlich noch vier weitere Ratsherren aus den elf Zünften zugestanden und er umfasste somit 84 Mitglieder. Er war unter anderem für das Allgemeinwesen zuständig, richtete über Leben und Tod und wählte die neuen Ratsmitglieder.

Darüber hinaus regelte der Gaffelbrief die Voraussetzungen für eine Wahlzulassung zum Stadtrat, die Wahlperioden sowie die Abstimmungsregeln bei den jeweiligen Sitzungen. Ferner legte er neben den Rechten der Zünfte deren öffentliche und der Allgemeinheit dienende Pflichten fest wie beispielsweise die Brandbekämpfung oder das örtliche Militärwesen.

Zweiter Gaffelbrief 1513

In der Folgezeit, vor allem ab 1477, versuchten die Patrizier, ihre Stellung wieder zu ihren Gunsten auszubauen und noch vorhandene Gesetzeslücken zu ihren Gunsten auszunutzen. Dazu beschlossen sie mit Hilfe kaiserlicher Privilegien durch Friedrich III., dass sowohl der Schöffenstuhl, der sich ausnahmslos aus Adeligen zusammensetzte, als auch die Ratsverwandten aus den neun Grafschaften ihren Dienst lebenslänglich versehen und dagegen nur noch die Ratsvertreter der Gaffeln jährlich zur Hälfte erneuert werden sollten. Dies führte zu unerlaubten Absprachen, Manipulationen und Abhängigkeiten sowie einer schleichenden Aushöhlung des ersten Gaffelbriefes. Ebenso wurden Maßnahmen blockiert, die eine Steuerentlastung des Bürgertums bewirken und gleichzeitig die Schuldenlast der Stadt tilgen sollten. Zugleich vermehrte sich auf der anderen Seite durch neu formierte Berufsgruppen die Anzahl der Zünfte, bzw. durch Eingliederung weiterer handwerklicher Betriebe in bestehende Zünfte, so genannten „Splissen“, deren Zusammensetzung und Stärke. Dies alles führte erneut zu massiven Unruhen, die zu Entlassungen oder gar Verhaftungen einiger korrupter Ratsherren führte und teilweise bis zum Reichskammergericht in Wetzlar weitergeleitet werden mussten. Diese Situation mündete schließlich am 15. Februar 1513 in einer neuen vertraglichen Übereinkunft, dem zweiten Aachener Gaffelbrief.

In diesem Verfassungsvertrag wurde geregelt, dass der Gaffelbrief von 1450 zum einen wieder bekräftigt werden sollte und zum anderen aber durch die Einbeziehung der Zünfte der Bäcker, Kupfermeister (angeregt vor allem durch die Familie Amya), Krämer, Zimmerleute, Schneider, Pelzer und der Schuster mit ihren jeweiligen Splissen bei gleichzeitigem Ausscheiden der vier oben erwähnten Gesellschaften das Handwerk durch nun insgesamt 12 Gaffeln wieder stärker vertreten waren. Die neue Zusammensetzung der jetzt 44 Ratsherren beim kleinen Rat gliederte sich nun wie folgt: je zwei Bürger-, Rent- (von denen einer immer der abgestandene Bürgermeister war), Werk-, Wein- und Baumeister, sechs Akzise-Verwalter, auch Neumänner genannt, sowie je zwei Vertreter aus den 14 Gaffeln. Die Ratsherren wurden bis auf die Neumänner und die Rent-, Wein-, Baumeister, deren Wahlperiode auf drei Jahre angehoben worden war, wieder jährlich zur Hälfte neu gewählt. Zusätzlich blieben dem Rat die beiden ausgetretenen Bürgermeister als so genannte „abgestandene“ konsultativ erhalten, konnten aber ein Jahr später wieder als offizielle Bürgermeister erneut gewählt werden. Beim großen Rat kamen schließlich, wie bereits im ersten Gaffelbrief festgelegt, weitere vier Vertreter der 14 Zünfte hinzu. Die Sitzordnung schrieb vor, dass an einem erhöhten Tisch die beiden regierenden Bürgermeister Platz nahmen, neben ihnen zwei Syndici und der Ratsseskretär, jeweils ohne Stimmrecht. Dann folgten die beiden abgestandenen Bürgermeister, die beiden Sternherren, die beiden Werk-, Rent-, Wein- und Baumeister, die beiden Ratsherren vom Bock sowie die sechs Neumänner und schließlich die Vertreter der Gaffeln.

Diese Aachener Verfassung hatte in den folgenden Jahren trotz verschiedener Krisen wie beispielsweise den Aachener Religionsunruhen und deren Einfluss auf die religiöse Zusammensetzung des Stadtrates, regionalen Wirtschaftskrisen aber auch dem großen Stadtbrand von Aachen im Jahre 1656 und seinen Folgen dauerhaften Bestand.

Dritter Gaffelbrief 1681

Im dritten und letzten offiziellen Gaffelbrief vom 21. Januar 1681 wurden auf Grund der positiven Erfahrungen der letzten Jahre im Prinzip keine grundlegenden Änderungen gegenüber seinen Vorläufern vorgenommen. Er stellte vielmehr auf Grund der operativen Erfahrungswerte eine Erläuterung und Ergänzung dar und vertiefte im Besonderen die Befugnisse des Stadtrates sowie den Modus der Ratswahlen. So wurde beispielsweise festgelegt, dass nur ein Bürger aus ehelicher Geburt, mit einwandfreiem Leumund und welcher keine Heirat mit einer „zweifelhaften Person“ eingegangen war, wahlberechtigt war. Ferner musste er mindestens 25 Jahre alt sein und durfte keinem „fremden Herrn“, damit waren Nicht-Aachener gemeint, als Diener, Befehlsempfänger oder Lehnspflichtiger dienen. Ebenso durfte er auch nur von der Gaffel aufgestellt werden, welcher er auf Grund seiner Berufstätigkeit hauptsächlich angehörte. Die Zünfte selbst konnten keine weiteren Änderungen zu ihren Gunsten mehr durchsetzen, da aus gewerblicher Sicht ihre Blütezeit vorerst überschritten war.

Dieser Gaffelbrief galt nun für die nächsten mehr als 100 Jahre als Verfassung von Aachen, wobei sich aber ab 1786 erneut eine zunehmende Aufweichung durch Postenschieberei und damit verbundener Machtzunahme durch Vetternwirtschaft besonders innerhalb der gehobenen Schicht bei gleichzeitiger wirtschaftlicher Schwächung der Gaffeln erfolgte. Dies führte wiederum zu erheblichen und gewalttätigen Unruhen und Aufständen, diesmal eher innerhalb der Parteienlandschaft selbst, die sich in eine „Alte“ und „Neue Partei“ aufgespaltet hatte, und weniger zwischen den Zünften und den Etablierten. Diese stetig wechselhafte Situation dauerte bis 1792 an und ging als „Aachener Mäkelei“ in die Geschichte der Stadt Aachen ein. Noch im gleichen Jahr legten zwölf Zünfte und ein Teil des Rates zur Abstellung der dauerhaften Streitpunkte einen neuen und aktualisierten vierten Gaffelbrief als Entwurf vor, der sogar vom Immerwährenden Reichstag in Regensburg sowie von der Vogtei zu Jülich befürwortet wurde, zu dessen Erörterung und Beschlussfassung es aber in der Folge nicht mehr kam. Durch den Einmarsch der Franzosen in jenem Jahr im Rahmen des Ersten Koalitionskrieges und deren Besetzung des linken Rheinufers sowie die nachfolgende Übernahme des Munizipalitätswesen für das Arrondissement d’Aix-la-Chapelle ab 1794 wurde diese Phase der politischen Instabilität beendet und Aachen erlebte in den nächsten Jahrzehnten eine erneute Zeit des wirtschaftlichen Aufschwungs und der politischen Stabilität.

Literatur

  • Alex Hermandung: Das Zunftwesen der Stadt Aachen bis zum Jahre 1681, La Ruellesche Accidenzdruckerei, 1908
  • Christian Quix: Historisch-topographische Beschreibung der Stadt Aachen und ihrer Umgebung, S. 141 ff., Verlag M. DuMont-Schauberg, Köln und Aachen 1829
  • Johann Heinrich Kaltenbach: Der Regierungsbezirk Aachen, Wegweiser für Lehrer, Reisende und Freunde der Heimatkunde, Aachen, 1850 Auszüge bei GenWiki

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