Abbreviatur (Paläographie)

Abbreviatur (Paläographie)
fol. 34r des Book of Kells mit XPI (=Christi) h (=autem) autem generatio. Die Verwendung der griechischen Buchstaben Chi und Rho ist in mittelalterlichen lateinischen Texten Standard.
Die Abbreviatur „Deleatur“, mit der man noch heute Zeichen oder Textstellen markiert, die gestrichen werden sollen
Lateinische Handschrift des 15. Jahrhunderts mit Abkürzungen

Als Abbreviatur bezeichnet man Schriftzeichen, die als Abkürzung für Silben oder ganze Wörter stehen. Es handelt sich um einen Fachbegriff der Paläographie, der vor allem bei mittelalterlichen Handschriften insbesondere in lateinischer Sprache verwendet wird.

Inhaltsverzeichnis

Varianten

Bereits antike Handschriften verwenden die Prinzipien von Suspension und Kontraktion, die in mittelalterlichen Texten fortgeführt werden:

  • „Suspension“ bezeichnet die Weglassung von Buchstaben am Wortende, die durch Punkt, Überstreichung und Ähnliches ersetzt werden können; insbesondere kann allein die Initiale erhalten bleiben. Zum Beispiel a.d.anno Domini; deb.debet; etc.et cetera.
  • „Kontraktion“ bezeichnet die Weglassung von Buchstaben im Mittelteil, die durch Überstrich ersetzt werden können. Zum Beispiel ihs xpsIesus Christus; ompsomnipotens. Durch die Verwendung der Nomina sacra werden griechische mit lateinischen Lettern vermischt: h, x und p im ersten Beispiel stammen von den Unzialen Grec oncial h.png (η, ê), Grec oncial x.png (χ, ch) und Grec oncial r.png (ρ, r) her.

Entstehung

Neben einer Verwendung von Suspensionen auf Epigraphen nimmt eine solche in juristischen Texten zu. Um der erschwerten Lesbarkeit zu begegnen, wird 535 der Gebrauch dieser sogenannten „notae iuris“ verboten, dauert aber zum Teil bis ins Mittelalter fort.

Ältere Entstehungshypothesen wie die von Ludwig Traube vertretene erklären den Ursprung der Kontraktionen über die sogenannten Nomina sacra. Traube insbesondere führte sie direkt auf das hebräische Tetragramm JHWH für Jahwe zurück. Die damit gemeinten Kurzschreibungen für als heilig betrachtete Personen, Eigenschaften oder Gegenstände (Jesus, Christus, deus, dominus, spiritus etc) jedenfalls nehmen seit dem 2. Jh. n. Chr. zu, insbesondere in jüdisch-christlichen Texten. Dabei ist insbesondere über christliche Texte eine mittelalterliche Rezeption selbstverständlich.

Auch Wörter für profane Gegenstände und Personennamen werden zunehmend nach denselben Prinzipien gekürzt. Jüngere Forschungsmeinungen bestreiten, dass mit den Nomina sacra allein schon das Kontraktionsprinzip erklärt sei.[1]

Funktionen

Abbreviaturen dienen vordergründig der Ersparnis von Zeit und Platz beim Schreiben. Darüber hinaus können sie, wie etwa das Sigel oder das Monogramm, weitere Funktionen erfüllen:

  • „Texte übersichtlicher zu gestalten und dadurch besser lesbar zu machen“
  • „zum Erreichen und Bewahren bestimmter Layoutvorstellungen“
  • „Erzeigen von Reverenz, Ehrfurcht und diplomatischer Höflichkeit“
  • Signal für Professionalität im Schriftverkehr
  • „um Texte künstlich zu verschleiern“
  • „als Zierelemente“[2]

Systematisierungsversuche

Zwar lassen sich weitverbreitete Konventionen benennen und z.B. Adriano Cappelli, dessen Darstellung von 1899 nach wie vor gebräuchlich ist, versucht „[d]as brachygraphische System des Mittelalters“ zu fassen.[3] Viele Abbreviaturen wurden aber von Schreibern individuell gebildet. Daher ist es nicht immer möglich, die Abbreviaturen eindeutig aufzulösen.

Cappellis Systematisierung schlägt eine Einteilung in sechs Typen vor:

  1. durch Abbrechung
  2. durch Kontraktion
  3. durch Abkürzungszeichen mit eigener Bedeutung
  4. durch Abkürzungszeichen mit veränderlicher Bedeutung
  5. durch übergeschriebene Buchstaben
  6. durch konventionelle Zeichen[3]

Leo Santifaller schlug in einer Darstellung von „Abkürzungen in den ältesten Papsturkunden (788–1002)“ eine abweichende Klassifikation vor. Zunächst unterscheidet er nach den verwendeten Zeichen:

  1. Punkt
  2. Häkchen
  3. Verbindung von Punkt und Häkchen
  4. Strich
  5. Besondere Abkürzungszeichen

Schließlich listet er als Abkürzungstypen:

  1. Tironische Noten
  2. Notae iuris: c für cum, ee für esse, qd für quod etc.
  3. Nomina sacra
  4. Suspension und Kontraktion

Abgrenzungen

  • „Abkürzung“ hat einen weiteren Begriffsumfang, da sich „Abbreviatur“ in fachsprachlicher Verwendung speziell auf Konventionen für abkürzende Schreibungen in mittelalterlichen Manuskripten u. dgl. bezieht. In engerer Verwendung meint „Abkürzung“ zudem nur die Kürzung am Wortschluss.
  • „&“ für „und“ oder „ß“ für „sz“ sind keine Abbreviaturen, sondern Ligaturen.
  • Moderne Abbreviaturschriften wurden seit dem 18. Jahrhundert entwickelt.

Literatur

  • Adriano Cappelli (Hrsg.): Lexicon abbreviaturarum. Wörterbuch lateinischer und italienischer Abkürzungen wie sie in Urkunden und Handschriften besonders des Mittelalters gebräuchlich sind, dargestellt in über 14.000 Holzschnittzeichen. 2. verbesserte Auflage. J.J. Weber, Leipzig 1928 (http://inkunabeln.ub.uni-koeln.de/vdibProduction/handapparat/nachs_w/cappelli/cappelli.html, abgerufen am 4. Januar 2010). (6. A. Mailand: Hoepli 1961, Nachdruck u.a. 2006) (nach wie vor verwendetes Standard-Nachschlagewerk)
  • Alphonse Chassant: Dictionnaire des abbreviations latines et françaises du moyen-âge, 5. A. Paris 1884, Faksimiles
  • Paul Arnold Grun: Schlüssel zu alten und neuen Abkürzungen, Wörterbuch lateinischer und deutscher Abkürzungen des späten Mittelalters und der Neuzeit; mit historischer und systematischer Einführung für Archivbenutzer, Studierende, Heimat- und Familienforscher u.a., 1966, Nachdruck Limburg/Lahn: Starke 2002.
  • E. Latham: A dictionary of abbreviations, contractions and abbreviative Signs, New York 1916
  • Cesare Paoli: Le abbreviature nella paleografia latina nel Medioevo. Saggio metodico pratico, Florenz 1891 / Die Abkürzungen in der lateinischen Schrift des Mittelalters, Ein methodisch-praktischer Versuch, Innsbruck 1892, Nachdruck Hildesheim: Gerstenberg 1971.
  • Auguste Pelzer: Abbréviations latines médiévales. Supplement au dizionario di abbreviature latine ed italaine de Adriano Cappelli, Louvain/Paris 1966
  • Olaf Pluta: Abbreviationes, Version 2.1, CD-ROM 2002.
  • Jürgen Römer: Geschichte der Kürzungen. Abbreviaturen in deutschsprachigen Texten des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, Göppinger Arbeiten zur Germanistik 645, Göppingen 1997.
  • Ludwig Traube: Lehre und Geschichte der Abkürzungen, in: Ders. (hgg. Paul Lehmann, Franz Boll): Vorlesungen und Abhandlungen 1: Zur Paläographie und Handschriftenkunde, München 1909, 129-156.
  • Johann L. Walther: Lexicon diplomaticum. Abbreviationes syllabarum et vocum in diplomatibus et codicibus, Göttingen 1745-1747, Nachdruck Olms, Hildesheim 2006, ISBN 978-3-487-04574-0.

Einzelnachweise

  1. Vgl. A. H. Paap: Nomina Sacra in the Greek Papyri of the first five centuries A. D., the Sources and Some Deductions, Papyrologica Lugduno Batava 8, Leiden: Brill 1959. Zum Vorstehenden auch P. Ladner: Art. Abkürzungen, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 1, 41-43.
  2. Vorstehende fünf Funktionen sämtlich nach Jürgen Römer: Geschichte der Kürzungen, Abbreviaturen in deutschsprachigen Texten des Mittelalters und der früher Neuzeit, Göppinger Arbeiten zur Germanistik, Göppingen 1997.
  3. a b Cappelli: Lexicon abbreviaturarum, 2. A., S. ix

Weblinks


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