Die Kinder der Toten

Die Kinder der Toten

Die Kinder der Toten ist ein 1995 im Rowohlt Verlag veröffentlichter Roman von Elfriede Jelinek, der allgemein als ihr Opus Magnum angesehen wird.

Die Kinder der Toten wurde 1996 mit dem Bremer Literaturpreis ausgezeichnet. Der Roman ist neben dem Internetroman Neid Jelineks umfangreichstes Werk und ist berüchtigt für seine Figurenvielfalt, seine verschlungenen Handlungsstränge und seine ironisch-zeitkritischen Querverweise. Gattungspezifisch ist er dem postmodernen Roman und der Schauerliteratur zuzurechnen. Jelinek selbst bezeichnet ihn als einen „Gespensterroman in der Tradition der gothic novel“.[1]

Der Roman stellt eine intensive Beschäftigung mit der Erinnerung und der Verdrängung des Holocaust dar. Damit einher geht eine assoziative, sprachspielende Schreibweise, welche die lineare Erzählzeit beständig durch geloopte und wiederholte Erzählstränge bricht.

Der Roman nimmt eine einmalige Stellung in der deutschen Literaturgeschichte ein, da alle seine Figuren Untote im Verwesungsstatus sind und in Manier des Splatters als tumbe Zombies vorgeführt werden. Gudrun Bichler, Edgar Gstranz und Karin Frenzel sind die drei Hauptuntoten, sprechunfähig, sexbesessen und brutal. Ihnen steht die Masse der Holocaustopfer gegenüber, die über das Paar Gudrun und Edgar zu neuem Leben gelangen wollen. Dies misslingt, da Gudrun und Edgar ebenfalls untot sind. Das Romansetting versinkt in einer Schlamm-Mure.

Inhaltsverzeichnis

Form

Der Roman ist in 35 Kapitel gegliedert, eingerahmt von Prolog und Epilog. Eröffnet wird der Roman durch eine Danksagung an den sogenannten Satanismusforscher Josef Dvorak und durch eine Mesusa-Grafik des Künstlers Eran Schaerf, deren hebräische Schriftzeichen besagen: „Die Geister der Toten, die solange verschwunden waren, sollen kommen und ihre Kinder grüßen.“[2]

Handlung und Erzählweise

Ausgangspunkt des Romangeschehens bildet im Prolog ein Busunfall in den Bergen. Die auktoriale Beschreibung des Unfallgeschehens lässt ausgerechnet die Unfallursache, die Kollision zweier Busse, aus und widmet sich ausführlich dem traumatisierten Szenario nach dem Unfall. Mit der Beobachtung der Beseitigung der Unfalltrümmer assoziiert die Erzähler-Instanz das emotionslose Wegschaffen der Leichenberge (im Holocaust) – nach ihrer Ermordung. Damit ist im Prolog das Thema gesetzt: Die Nachbereitung der Katastrophe rührt die Ursache nicht mehr an, sondern beschäftigt sich nur mehr mit den 'Aufräumarbeiten'. Der Roman ist demnach eine Anklage an das Vergessen der Ursache des Massenmordens (im Nationalsozialismus) und formuliert ein phantastisches Erinnerungsprojekt, das einen Einlass der ursächlichen Vergangenheit wünscht.

Der Roman spielt, wie beinahe die gesamte Literatur Jelineks, in der Steiermark und in Wien. Schauplätze sind die Pension „Alpenrose“ in der Steiermark, die Wallfahrtskirche Maria Zell, die Berge, Talschluchten und ein Betonbecken im Wald. Schauplätze in Wien sind der Zentralfriedhof, Altbauwohnungen und Keller von Krankenhäusern und der Psychiatrie „Am Spiegelgrund“, Euthanasieanstalt von 1940-1945.

Mit zunehmendem Verlauf verändern sich die zunächst realistisch beschriebenen Orte aber auf phantastische Weise, wie man sie aus romantischen Schauergeschichten kennt, und bilden keinen festen Orientierungspunkt mehr. Die Pension Alpenrose rutscht in eine andere Raum- und Zeitordnung, der Roman nennt sie einen geschlechtlichen „Geschichtsraum“. Im letzten Romandrittel strömen die toten NS-Opfer in die Pension. Die altertümlichen Koffer stapeln sich, auf den Treppen hört man das Stimmengewirr und Fußgetrappel. Im Speisesaal schließlich aber wächst auf dem Mobiliar Menschenhaar, auf den Fensterbänken wachsen Menschennägel. In Momentaufnahmen werden in Wien rauhe Handwäscherinnen, der Abtransport jüdischer Menschen, oder sogenannte Mannequinschülerinnen gezeigt, daneben die vor dem Fernseher gestorbene Mumie eines alten Mannes: Die Zeiten gehen von den 1940er über die 1950er Jahre in die aktuelle Gegenwart über. Topographie und Zeitlichkeit des Romans geraten in Bewegung, die untoten Figuren vervielfachen sich, werden so durch die Zeiten gezerrt. Manchmal sind ihre Bewegungen im Zeitraffer gefangen und fürchterlich schnell. Dann wiederum werden die Figuren Opfer von Vergewaltigungen und Morden, denen sie beobachtend beiwohnen. In wiederkehrender Obsession masturbieren die Figuren, zwingen einander zum Oralsex oder penetrieren den Anderen gewaltsam.

Diese phantastische, zugleich obszön-brutale Art einer Öffnung der Gegenwart für die Vergangenheit durch ein Zulassen von traumatisierten Erinnerungen und umgekehrt einer Öffnung der Vergangenheit für die Gegenwart durch die Totenwiederkehr wird durch das Zitieren von mythischen Erzählungen des Aufdeckens von verborgener Wahrheit im diskursiven Kontrapunkt erzählerisch begleitet. So zitiert Jelinek diejenigen Varianten abendländischer Erzählung, die eine Erlösung sowie die Wahrheit im nekromantischen Abstieg zu den Toten und im Aufstieg zum Licht finden. Es wird die christliche Erlösung durch die leibliche Auferstehung der Toten zu Gott, der Abstieg von Orpheus in den Hades, der Aufstieg zum Licht der Erkenntnis wie es Platons Höhlengleichnis vorgibt, sowie das Aufdecken der Wahrheit im Modell der Apokalypse vor dem Hintergrund postmoderner, medialgesteuerter Gegenwart im ironischen Überzug Jelinekscher Kritik gezeigt. Die zitierten Erzählungen, die Sinnbilder abendländischer Erkenntnisfindung im Grenzgang zwischen Leben und Tod darstellen, benutzt der Roman, indem er sie mit seinem Erinnerungsprojekt kurzschließt.

Die 35 Kapitel werden dabei durchaus durch Spannungsbögen zusammengehalten, in welche die untoten Figuren eingebunden sind. Als Höhepunkte des Romans lassen sich die Eintritte der Untoten in eine andere Dimension begreifen, wenn sie einer neuerlichen Vervielfältigung erschrocken begegnen. Grausame Spannung bieten die Totensexkapitel zwischen Edgar und Gudrun, wenn die Figuren im Sex verwesend zerfallen. Die einzelnen Kapitel sind dabei in Absätze gegliedert, die einer Figur oder einem Figurenpaar zugeordnet sind. Die Erzählperspektive allerdings wechselt auch innerhalb eines Satzgefüges vom Auto-Kommentar einer Ich-Instanz, zum Kommentar eines Wir-Kollektivs zu einem auktorialen Erzählstil. Ein Kapitel hat meist einen diskursiven Schwerpunkt, der auf den Ebenen des metaphorischen Sprechens verbildlicht wird. (Karin Frenzel flattert beispielsweise mit Flügeln, wenn die Erzählung von der Nicht-Entfaltbarkeit gepanzerter Persönlichkeitsstrukturen handelt. D.h. die Metaphorik der Sprache wird rückübersetzt und handlungsstiftend.) Diesem Geschehen, das sich aus den – hier so genannten – 'Sprachflächen’ ergibt, werden die Figuren und Schauplätze zugeordnet, was mit den Vervielfältigungen der Figuren und Orte einhergeht. Im letzten Romandrittel allerdings bestimmt ein stetiger Wechsel der Perspektiven und Sprachflächen die Folge der Absätze und Kapitel.

Intertextuelle Bezüge

Der Roman gewinnt seine besondere Qualität aus seinen vielschichtigen Text- und Sprachebenen. Intertextuelle Bezüge bestehen unter vielen anderen zur Bibel, insbesondere zum 5. Buch Mose, zu Martin Heideggers Deutung von Platons Höhlengleichnis,[3] zu Hans Leberts Roman Die Wolfshaut, zu Paul Celans Todesfuge,[4] und zur Österreichischen Nationalhymne. Ebenso werden zahlreiche Filme zitiert - bekanntester ist der Horrorfilm Carnival of Souls von Herk Harvey. In seinen kritischen Kommentaren referiert der Roman auf Personen des öffentlichen Lebens aus der Zeit des Nationalsozialismus bis zur Romangegenwart, darunter ranghohe Politiker, Prominente aus der Sport- und Unterhaltungsbranche, sowie Germanisten und Schriftsteller.

Zeitgeschichtliche Hintergründe

Die Kinder der Toten umfasst alle Themen aus Jelineks literarischem Werk (Kritik an den Arbeits- und Geschlechterverhältnissen, an Rassismus und Antisemitismus) und steht für ihr politisches Engagement gegen rechtspopulistische Tendenzen.

Der Roman wurde pünktlich zum 50-jährigen Jubiläum des Endes des Zweiten Weltkriegs veröffentlicht. Mit seinem Fokus auf die Erinnerung der Shoah reagiert er auf die politischen Debatten zum Erbe des Faschismus wie sie in Österreich seit Mitte der 1980er Jahre geführt werden. Ausgelöst durch die Affäre um die Wahl des damaligen österreichischen Bundespräsidenten Kurt Waldheim, ehemaliges Mitglied der SA, wurde die Opferdoktrin Österreichs öffentlich diskutiert. Mit dem Staatsvertrag von 1955 begriff sich Österreich nicht als eigentliches Täterland, sondern als Opfer des Nationalsozialismus. Erst 1991 hat der damalige Bundeskanzler Franz Vranitzky offiziell die Täterschaft Österreichs im Nationalsozialismus eingeräumt und die Opferlegende revidiert.

Das aufarbeitende Gedenken des Faschismus und ein institutionalisiertes Erforschen der Vernichtung der Juden oder des Euthanasie-Programms gehören deswegen zu den jüngeren Anliegen der Österreichischen Republik. Der Roman begleitet kritisch diesen Umbruch im österreichischen Gedenken, wenn er künstlerische Ausdrucksweisen für das Feld sucht, welches sich zwischen Vranitzkys Revidierung der sog. Opferlüge und dem bedrohlichen Aufstreben des rechtspopulistischen FPÖ-Frontmanns Jörg Haider aufspannte. Jörg Haider konnte seine Macht bis ins Jahr 2000 soweit ausbauen, dass die FPÖ Regierungspartei wurde, woraufhin Österreich von der EU mit Sanktionen verwarnt wurde. Jelineks Roman fängt also das gärende politische Klima Österreichs Anfang der 1990er Jahre ein und liefert einen kritischen Abgesang auf die scheinbare Wende im Gedenken.

Rezensionen

  • Radisch, Iris: Maxima Moralia. In: DIE ZEIT Nr. 38 vom 15. September 1995.online auf zeit.de
  • Janke, Pia: Werkverzeichnis Elfriede Jelinek. Wien 2004.

Sekundärliteratur

  • Birkmeyer, Jens: Elfriede Jelinek. Tobsüchtige Totenwache. In: Eke, Norbert Otto / Steinecke, Hartmut: Shoah in der deutschsprachigen Literatur. Berlin 2006.
  • Gsoels-Lorensen, Jutta: Elfriede Jelinek's "Die Kinder der Toten": Representing the Holocaust as an Austrian Ghost Story. In: Germanic Review. Volume 81, No 4, Herbst 2006.
  • Janz, Marlies: "Die Geschichte hat sich nach 45 entschlossen, noch einmal ganz von vorne zu beginnen..." Elfriede Jelineks Destruktion des Mythos historischer 'Unschuld'. In: Bartens, Daniela und Pechmann, Paul (Hg.): Elfriede Jelinek. Die internationale Rezeption. Dossier Extra. Wien 1997.
  • Just, Rainer: Zeichenleichen - Reflexionen über das Untote im Werk Elfriede Jelineks. 23. Mai 2007
  • Joachim Lux: Die Heimat, der Tod und das Nichts. 42.500 Zeichen über die Heimatdichterin Elfriede Jelinek: kurz und bündig. In: Arbeitsbuch Elfriede Jelinek. Theater der Zeit, Juli 2006 (PDF)
  • Mertens, Moira: Die Ästhetik der Untoten. Berlin 2008 Magisterarbeit
  • Schnell, Ralf: "Ich möchte seicht sein" – Jelineks Allegorese der Welt: "Die Kinder der Toten". In: Waltraud Wende (Hg.): Nora verläßt ihr Puppenheim. Autorinnen des zwanzigsten Jahrhunderts und ihr Beitrag zur ästhetischen Innovation. Stuttgart/ Weimar 2000.
  • Vogel, Juliane: "Keine Leere der Unterbrechung" – Die Kinder der Toten oder der Schrecken der Falte. In: Modern Austrian Literature. Vol. 39, No. 3/4, 2006.
  • Dies.: Lob der Oberfläche. Zum Werk von Elfriede Jelinek. München 2010.
  • Weiler, Sylvia: Elfriede Jelinek ermittelt. Zur Genese einer literarischen 'Ästhetik des Widerstreits' im Spiegel der "Ermittlung" und der "Ästhetik des Widerstands. In: Michael Hofmann u.a.: Peter Weiss Jahrbuch für Literatur, Kunst und Politik im 20. Jahrhundert. Bd. 11. St. Ingbert 2002.
  • Wilson, Ian W.: Greeting the Holocaust's Dead? Narrative Strategies and the Undead in Elfriede Jelinek's "Die Kinder der Toten". In: Modern Austrian Literature. Vol. 39, No. 3/4, 2006. S. 27-55

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Grohotolsky, Ernst (Hg.): Provinz sozusagen. Graz: Droschl 1995, S. 63.
  2. Schnell, Ralf (2000); Klettenhammer, Sieglinde (1998); Meyer, Verena u. Koberg, Roland: elfriede jelinek. Ein Portrait. (2006)
  3. Heidegger, Martin: Platons Lehre von der Wahrheit. Frankfurt/Main 1997. (4. Aufl.)
  4. Celan, Paul: Die Gedichte. Frankfurt/Main 2005.

Wikimedia Foundation.

Игры ⚽ Нужно решить контрольную?

Schlagen Sie auch in anderen Wörterbüchern nach:

  • Die Legende der Wölfin Asena — Die Legende um die Wölfin Asena ist der Abstammungsmythos der, in chinesischen Quellen als T u chüeh bezeichneten Aschina, des herrschenden Clans der Göktürken. Es sind viele Versionen dieser Geschichte in Zentralasien verbreitet. Die ältesten… …   Deutsch Wikipedia

  • Kinder der Erde — Die Kinder der Erde ist ein sechsbändiger Romanzyklus der Autorin Jean M. Auel rund um die Heldin Ayla. Ayla, als Waise von einem der vereinzelten Clans aufgezogen und zur Heilerin ausgebildet, findet den schwer verletzten Jondalar. Sie rettet… …   Deutsch Wikipedia

  • Die Säulen der Erde — (engl. Original The Pillars of the Earth, erschienen 1990) ist ein historischer Roman von Ken Follett, der im mittelalterlichen England des 12. Jahrhunderts spielt. Die Geschichte der Kathedrale von Salisbury gilt als Vorbild für den Roman.[1]… …   Deutsch Wikipedia

  • Die Kinder Húrins — (englischer Originaltitel: The Children of Húrin) ist ein auf der unvollendeten Geschichte Narn I Chîn Húrin (deutsch: Die Geschichte der Kinder Hurins) des englischen Schriftstellers J. R. R. Tolkien basierender Roman. Es wurden unterschiedliche …   Deutsch Wikipedia

  • Die Söhne der Großen Bärin — ist ein Indianer Roman Hexalogie von Liselotte Welskopf Henrich, welcher besonders in der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) sehr erfolgreich war und auch heute noch viele Anhänger hat. Zunächst erschien 1951 eine einbändige Ausgabe Die… …   Deutsch Wikipedia

  • Die Kinder Hurins — Die Kinder Húrins (englischer Originaltitel: The Children of Húrin) ist ein auf die unvollendete Geschichte Narn I Chîn Húrin (deutsch: Die Geschichte der Kinder Hurins) des englischen Schriftstellers J. R. R. Tolkien basierender Roman. Es wurden …   Deutsch Wikipedia

  • Die Gewehre der Frau Carrar — ist ein Theaterstück von Bertolt Brecht aus dem Jahr 1937. Inhaltsverzeichnis 1 Entstehung 2 Handlung 3 Hintergrund 4 Deutschsprachiges Hörspiel …   Deutsch Wikipedia

  • Die Kinder des Wüstenplaneten — Dune – die erste Trilogie beschäftigt sich mit den ersten drei Büchern aus dem Dune Zyklus von Frank Herbert. Inhaltsverzeichnis 1 Inhalt 1.1 Übersicht 1.2 Der Wüstenplanet Band 1 (Dune) 1.2.1 Vorgeschichte 1.2.2 …   Deutsch Wikipedia

  • Die Rache der Sith — Filmdaten Deutscher Titel: Star Wars: Episode III – Die Rache der Sith Originaltitel: Star Wars: Episode III – Revenge of the Sith Produktionsland: USA Erscheinungsjahr: 2005 Länge: 134 Minuten Originalsprache …   Deutsch Wikipedia

  • Die Nibelungen – Der Fluch des Drachen — Filmdaten Deutscher Titel: Der Ring der Nibelungen Originaltitel: Ring of the Nibelungs Produktionsland: USA, Deutschland, Italien, Vereinigtes Königreich Erscheinungsjahr: 2004 Länge: 177 Minuten …   Deutsch Wikipedia

Share the article and excerpts

Direct link
Do a right-click on the link above
and select “Copy Link”