Eingeschworene Jungfrau

Eingeschworene Jungfrau

Als eingeschworene Jungfrau (engl. Sworn virgin, alb. virgjineshtë) wird auf dem Balkan eine Frau bezeichnet, die unter Absage sexueller Beziehungen und Verzicht auf die Ehe in ihrer Familie die Rolle eines Mannes übernommen hat. Die Frau legte vor den Ältesten der Gemeinde oder des Stammes einen Schwur ab und wurde fortan als Mann behandelt. Sie trug Männerkleidung und Waffen und konnte die Position des Familienoberhaupts übernehmen. Hauptursachen für dieses Verhalten waren die Vermeidung einer ungewollten Ehe oder das Fehlen eines männlichen Familienoberhaupts.

Die eingeschworenen Jungfrauen sind die einzige institutionalisierte Form des Cross-Gender in Europa. Ähnliche Verhaltensweisen sind noch bei einigen indigenen Völkern in Nordamerika und Asien beobachtet worden. In der Gegenwart leben noch einige Dutzend eingeschworene Jungfrauen in Albanien, die alle aus dem traditionalistischen Norden des Landes stammen. In den letzten Jahren ist ihre besondere Lebensweise in den Fokus der wissenschaftlichen Forschung und der Medien geraten. In deutschen Zeitungsartikeln werden sie oft mit dem Neologismus Schwurjungfrau oder als Albanische Mannfrauen bezeichnet.[1]

Inhaltsverzeichnis

Verbreitung

Über die Existenz der eingeschworenen Jungfrauen berichteten westeuropäische Reisende und Forscher zum ersten Mal an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Diese Lebensweise kam bei Albanern, Südslawen und Roma sowie selten auch bei Aromunen und Griechen vor und war nicht an eine bestimmte Konfession gebunden. Sie war auf abgelegene ländliche Regionen beschränkt, wo die Menschen in archaischen Stammes- und Familienverbänden lebten. Während dieses Verhalten bis in das 20. Jahrhundert hinein bei diesen Völkern noch weit verbreitet war, sorgte die gesellschaftliche Modernisierung in den letzten Jahrzehnten für ein weitgehendes Aussterben der Lebensform. Nur in Albanien leben noch etwa 40 eingeschworene Jungfrauen.

Ursachen

Nur durch den symbolischen Übertritt zum männlichen Geschlecht konnte eine Frau in den Stammesgesellschaften Südosteuropas einer arrangierten Verheiratung entgehen. Indem sie fortan als Mann lebte, ersparte sie sich und ihrer Familie die Entehrung, die sonst durch den Bruch eines Eheversprechens unweigerlich eingetreten wäre. Der zweite wichtige Grund für das Leben als eingeschworene Jungfrau war das Fehlen eines männlichen Familienoberhaupts, wodurch die Frauen der Familie schutzlos waren und die betreffende Familie auch keinen Sitz im Rat der Gemeinde oder des Stammes hatte. Wenn kein Sohn die Nachfolge übernehmen konnte, trat eine ledige Tochter an diese Stelle, lebte als Mann und war Familienoberhaupt. Der Mangel an männlichen Familienmitgliedern rührte in den südosteuropäischen Stammesgesellschaften aus der weit verbreiteten Blutrache her, bei der oft alle männlichen Mitglieder einer Familie ausgerottet wurden. Indem eine eingeschworene Jungfrau an die Spitze der Familie trat, konnte das Problem zumindest für eine Generation gelöst werden. Der Fortbestand der Familie war aber nur gesichert, wenn noch minderjährige Jungen lebten, die später an die Stelle ihrer Tante treten konnten.

Rechtliche Grundlagen

„Kanuni i Malevet të Shypnís shliron e perjashton: … VIII. Virginat (fêmnat, qi veshen si burrë): S’ veçohen prej grásh tjera, posë qi jânë të lira me nðêjë nðer burra, porsè pá tager zânit e kuvenðit.“

„Das Gesetz der albanischen Berge befreit und nimmt aus: … 8. die Jungfrauen (sog. virgjinat, das sind Mädchen, die Männerkleidung tragen=. Sie werden von den anderen Frauen nicht gesondert behandelt, nur sind sie frei, sich unter den Männern aufzuhalten, aber ohne Stimme (wenn auch Sitz) im Rate;“

Kanun: 12. Buch: Befreiung und Ausnahmen, 1. Kapitel: Teilhaber der Ausnahmen[2]

Die Frau trat vor ein Gremium, dem die zwölf wichtigsten Männer des Dorfes angehörten, und legte einen Keuschheits-Schwur ab. Danach konnte sie Waffen tragen und die Führung der Familie übernehmen. In dieser Rolle wurde sie in der von Männern dominierten Gesellschaft als vollwertiges Mitglied anerkannt und respektiert. Wenngleich die Übernahme der männlichen Rolle formal freiwillig zu erfolgen hatte, spielte häufig der Druck durch die Clanmitglieder eine entscheidende Rolle.[3] Für Nordalbanien werden die Rechte der eingeschworenen Jungfrauen im Gewohnheitsrecht, dem Kanun, geregelt. Sie dürfen sich unter Männern aufhalten und haben einen Sitz im Rat (allerdings ohne Stimmrecht). Außerdem waren sie erbberechtigt.[4] Die Übernahme der männlichen Rechte und Pflichten bedeutete auch, dass die eingeschworenen Jungfrauen die Blutfehden ihrer Verwandten fortführen mussten.

Verhalten

Die eingeschworenen Jungfrauen übernehmen weitgehend die männlichen Verhaltensweisen: Sie kleiden sich wie Männer, tragen Waffen, gehen auf die Jagd und dürfen verschiedene Männern vorbehaltene Privilegien wie beispielsweise Tabak- und Alkoholkonsum in Anspruch nehmen. Die albanische Frage „A je burrnesh?“, gehört in den 1990er Jahren als Begrüßung in Nordalbanien, bedeutet „Bist du so stark wie ein Mann?“[5]

Einzelnachweise

  1. D. Bilefsky: Jungfrauen, die Männer wurden In: Welt am Sonntag Ausgabe vom 29. Juni 2008
  2. Original nach Shtjefën Gjeçov; Leonard Fox (Hrsg.): Kanuni i Lekë Dukagjinit – The Code of Lekë Dukagjini. Gjonlekaj Publishing Company, New York 1989, ISBN 0-9622141-0-8, S. 215.; Übersetzung nach Robert Elsie (Hrsg.): Der Kanun. Dukagjini Publishing House, Peja 2001, S. 261f.
  3. Der Kanun lebt. In: ORF Sendung vom 4. Mai 2008
  4. Der Kanun des Lekë Dukagjini, 12. Buch, 1. Kapitel, Absatz 8: Mädchen, die Männerkleidung tragen S. 206
  5. Susan E. Pritchett Post: Women in Modern Albania: Firsthand Accounts of Culture and Conditions from Over 200 Interviews, McFarland, 1998, ISBN 0-7864-0468-X, S. 57

Literatur

  • René Grémaux: Woman Becomes Man in the Balkans. In: Third Sex Third Gender: Beyond Sexual Dimorphism in Culture and History Gilbert Herdt (Editor), 1996, ISBN 0-942-29982-5
  • Antonia Young: Women Who Become Men: Albanian Sworn Virgins. 2000, ISBN 1-859-73335-2
  • Susan E. Pritchett Post: The Myth of the Burrnesh, paper, 1999, London: Center for South East European Studies
  • Robert Elsie: Sworn Virgin. In: Historical dictionary of Albania (= European historical dictionaries 42) Lanham 2004. ISBN 0-8108-4872-4 S. 405-406.
  • Alice Munro: The Albanian Virgin. In: Open Secrets 1994, ISBN 0-679-43575-1 (dt: Offene Geheimnisse, ISBN 3-608-93371-9, Belletristik)

Weblinks


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