Gerichtsorganisation in der Türkei

Gerichtsorganisation in der Türkei

Die Gerichtsbarkeit der Türkei (Türk Yargı Sistemi) ist entsprechend Artikel 138 der Verfassung unabhängig und unterliegt keinerlei Weisung. Zuständig für Personalfragen und die disziplinarrechtliche Kontrolle der Gerichte ist der Hohe Richter- und Staatsanwälterat.[1]

Das türkische Gerichtswesen besteht bei Straf- und Zivilsachen grundsätzlich aus zwei Instanzen: Tatsacheninstanz und Revision (temyiz). Eine Berufung existiert momentan lediglich bei der Verwaltungsgerichtsbarkeit.

Das Militär verfügt über eine eigene Gerichtsbarkeit (siehe auch Militärkassationshof und Hoher Militärverwaltungsgerichtshof).

Inhaltsverzeichnis

Verfassungsgericht

Das Verfassungsgericht (Anayasa Mahkemesi) hat drei Hauptaufgaben:

  1. Die Überprüfung von Gesetzen und Verordnungen mit Gesetzeskraft (Art. 150 und 152 der Verfassung)
  2. Die Funktion als Staatsgerichtshof (Yüce Divan) nach Art. 148 der Verfassung
  3. Das Verbot von politischen Parteien (Art. 148)[2]

Eine Verfassungsbeschwerde, die in Deutschland über 90 Prozent der Arbeit des Verfassungsgerichts ausmacht, ist nach türkischem Recht nicht vorgesehen. Aus diesem Grunde hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte für Bürger der Türkei eine große Bedeutung.

Die Verwaltungsgerichtsbarkeit

Erste Instanz

  • Verwaltungsgerichte (İdare Mahkemeleri), bestehen aus mehreren Richtern, Berufungsinstanz: Regionalverwaltungsgericht
  • Steuergerichte (Vergi Mahkemeleri), bestehen aus mehreren Richtern, Berufungsinstanz: Regionalverwaltungsgericht

Zweite Instanz

  • Regionalverwaltungsgerichte (Bölge Idare Mahkemeleri), bestehen aus drei Richtern, Berufungsinstanz: Verwaltungsgerichtshof
  • Staatsrat (Danıştay): Der Staatsrat der Türkei ist sowohl als erste, wie auch als zweite Instanz für per Gesetz bestimmte Angelegenheiten zuständig.

Die ordentliche Gerichtsbarkeit

Erste Instanz

Die Strafgerichtsbarkeit

Allgemeine Gerichte
  • Friedensgerichte (Sulh Ceza Mahkemeleri): Diese Gerichte sind mit einem Einzelrichter besetzt und verhandeln Bagatelldelikte. Nach dem Gesetz 5235 gehören dazu Strafsachen, bei denen eine Geldstrafe oder eine maximale Haftstrafe von bis zu 2 Jahren vorgesehen ist.
  • Strafkammern (Asliye Ceza Mahkemeleri): Diese Gerichte sind mit einem Einzelrichter besetzt und verhandeln mittelschwere Strafsachen, die nicht in das Aufgabengebiet der Friedensgerichte oder Großen Strafkammern fallen.
  • Große Strafkammern (Ağır Ceza Mahkemeleri): Diese Gerichte sind mit drei Richtern besetzt und verhandeln schwere Strafsachen. Neben ein paar speziell den Kammern zugeordneten Delikten und mit Ausnahme aller als terroristisch (politisch) eingestuften Vergehen sind die Großen Strafkammern für Straftaten zuständig, bei denen das Mindeststrafmaß 10 Jahre beträgt.
Besondere Gerichte
  • Staatssicherheitsgerichte (Devlet Güvenlik Mahkemeleri, DGM): siehe Staatssicherheitsgericht (Türkei)
  • Verkehrsgerichte (Trafik Mahkemeleri): Diese Gerichte sind zuständig für Verstöße gegen das türkische Straßenverkehrsgesetz (Karayolları Trafik Kanunu).
  • Devisengerichte (Döviz Mahkemeleri): Diese Gerichte sind zuständig für Verstöße gegen das türkische Währungsschutzgesetz (Türk Parasının Kıymetini Koruma Hakkında Kanun).

Es gibt darüber hinaus weitere Sondergerichte wie die so genannten Kindergerichte (Çocuk Mahkemeleri) und Strafgerichte zu gedanklichen und gewerblichen Rechten (Fikri ve Sınai Haklar Ceza Mahkemeleri). Ebenso wie die Arbeitsgerichte sind die meisten Sondergerichte landesweit noch im Aufbaustadium.

Die Zivilgerichtsbarkeit

Allgemeine Gerichte

Die türkische Zivilgerichtsbarkeit kennt folgende Gerichtstypen:

  • Zivile Friedensgerichte (Sulh Hukuk Mahkemeleri): Diese Gerichte sind mit einem Einzelrichter besetzt und verhandeln Zivilsachen mit geringem Streitwert. Zudem sind sie unabhängig vom Streitwert für Mietvertragsstreitigkeiten aller Art (z.B. Räumungsklagen), die Ausstellung von Erbscheinen, Adoptionsbewilligungen, Bestätigungen von Rechtsgeschäften zwischen Kindern und Eltern und die Auflösung von Eigentümergemeinschaften zuständig.
  • Zivilkammern (Asliye Hukuk Mahkemeleri): Diese Gerichte sind mit einem Einzelrichter besetzt. Sie verhandeln Zivilsachen mit höherem Streitwert. Unabhängig vom Streitwert sind sie zuständig für Insolvenzverfahren und Verstöße gegen die Persönlichkeitsrechte.
  • Handelsgerichte (Asliye Ticaret Mahkemeleri): Diese Gerichte sind mit drei Richtern besetzt. Sie sind zuständig für alle Handelsklagen. Es gibt Handelsgerichte nur in größeren Städten. In Städten ohne Handelsgerichte sind die Zivilkammern zuständig.

Die Streitwertgrenze lässt sich nicht genau bestimmen, da sie inflationsbedingt wechselt.

Besondere Gerichte
  • Arbeitsgerichte (İş Mahkemeleri): Sie entsprechen den deutschen Arbeitsgerichten.
  • Verbrauchergerichte (Tüketici Mahkemeleri): Diese Gerichte sind zuständig für Streitigkeiten im Rahmen des türkischen Verbraucherschutzgesetzes (Tüketicinin Korunması Hakkında Kanun)
  • Vollstreckungsgerichte (İcra Mahkemeleri): Diese Gerichte sind mit einem Einzelrichter besetzt. Sie überprüfen die Arbeit der Vollstreckungsbehörden.
  • Familiengerichte (Aile Mahkemeleri): Diese Gerichte gibt es in Provinzen (il) und Landkreisen (ilçe) mit mehr als 100.000 Einwohnern. Sonst entsprechen sie deutschen Familiengerichten.
  • Gerichte für geistiges Eigentum und gewerblichen Rechtsschutz (Fikri ve Sınai Haklar Mahkemeleri): Diese Gerichte sind mit drei Richtern besetzt. Es gibt sie nur in größeren Städten. Sie sind zuständig für Streitigkeiten aus dem Gesetz über das geistige Eigentum (Fikir ve Sanat Eserleri Kanunu) und dem gewerblichen Rechtsschutz.

Zweite Instanz

  • Regionsgerichte (Bölge İdare Mahkemeleri): Im Zuge der Reformen für den Beitritt in die Europäische Union wurde am 1. Juni 2005 mit den Regionsgerichten (bölge adliye mahkemeleri) eine Berufungsinstanz (istinaf mahkemesi) eingeführt, die noch in die Praxis umgesetzt werden muss.
  • Kassationshof (Yargıtay): Revisionsinstanz ist stets der Kassationshof der Türkei.

Kompetenzkonfliktgericht

Das Kompetenzkonfliktgericht entscheidet als erste und letzte Instanz über Kompetenzstreitigkeiten zwischen den ordentlichen Gerichten, Verwaltungsgerichten und Militärgerichten.

Anmerkungen

  1. Nach Artikel 159 der Verfassung hat der Justizminister den Vorsitz in diesem Rat. Zu den Mitgliedern gehört der Staatssekretär im Justizministerium, drei Mitglieder des Plenums im Kassationshof und zwei Mitglieder des Staatsrats, die unter je drei Kandidaten für jeden Posten vom Staatspräsidenten gewählt werden. Aufgrund dieser Zusammensetzung und durch die Unterbringung dieses Gremiums in Räumlichkeiten des Justizministeriums ist eine erhebliche Einflussnahme der Politik - ähnlich wie in Deutschland - möglich.
  2. Eine deutsche Übersetzung der Verfassung im pdf Format

Literatur

Weblinks


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