Geschichte der Psychotherapie

Geschichte der Psychotherapie

Obwohl die Geschichte der „modernen“ Psychotherapie erst Anfang des 20. Jahrhunderts begann und Sigmund Freud zugeschrieben wird, findet sich eine „Beziehungsgestaltung mit dem Ziel der Linderung seelischer/emotionaler Leiden“ in allen bekannten Kulturen. Die unten genannten Psychotherapeutischen Paradigmen sind die in der heutigen akademischen und außerakademischen Forschung sowie in der Versorgung von Menschen mit psychischen Krankheiten die gängigsten und anerkanntesten.

Inhaltsverzeichnis

Frühgeschichte

In vielen Kulturen war und ist die Idee der psychischen Störung nicht vorhanden oder – weit häufiger – in religiöse Kontexte eingebunden. Manche psychischen Störungen wurden als Folge (dämonischer) Besessenheiten oder Flüche verstanden. Dementsprechend wurden die „Psychotherapien“ oft von Priestern, Schamanen oder Philosophen durchgeführt. Einige der genannten Kriterien treffen auf die damaligen „Behandlungen“ durchaus zu, wie z. B. dass Störungen/Krankheiten behandelt werden sollten, dass entsprechende (explizite oder implizite) Vereinbarungen vorlagen und die Behandlungsmethoden auf dem Hintergrund der kulturell gültigen Theorien erfolgten.

Nicht immer klar davon abzugrenzen waren die „medizinischen Behandlungen“ der Frühzeit. Von den Jägern und Sammlern bis zum heutigen Tage wurde aus schamanischer Medizin, die tief in Religion und Mystizismus verankert war, die „moderne Medizin“ und als Ziel die evidenzbasierte Medizin (siehe Medizingeschichte). Die medizinische Behandlung psychischer Störungen umfasste über viele Jahrtausende sowohl die Ausführung bestimmter Rituale oder Verhaltensweisen, als auch die Verabreichung von Wirkstoffen (Drogen) aus Pflanzen (Phytopharmaka), Tieren oder Mineralien. Erste Darstellungen von psychischen Störungen verfasste bereits ca. 400 Jahre vor unserer Zeitrechnung der griechische Arzt Hippokrates. Sein Werk enthält Beschreibungen von Depressionen und Wahnvorstellungen, aber auch von Betrunkenheit und Delirien. Zur Ursache für all diese Störungen erklärte er, wie für alle anderen Krankheiten auch, ein Ungleichgewicht zwischen den Körperflüssigkeiten.

Wenige Jahrhunderte später, im Mittelalter, war das Wissen um die Existenz von psychischen Erkrankungen nahezu komplett verloren gegangen. Stattdessen hielt man die Erkrankten für vom Teufel oder Geistern besessen, sperrte sie ein und traktierte sie mit meist wirkungslosen, teilweise grausamen Behandlungsmethoden. Erst im späten 18. Jahrhundert belebte der französische Arzt Philippe Pinel mit neuen Methoden die medizinische Behandlung „seelischer“ Störungen neu. Aus diesem Neuanfang entwickelte sich die Tradition der modernen Psychiatrie, bei der heute deutliche Überschneidungen mit der erst später entstandenen Psychotherapie bestehen. →Geschichte der Psychiatrie

Psychotherapiegeschichte

  • Psychoanalyse: Aus der Medizin und insbesondere der Psychiatrie entwickelte sich die Psychotherapie etwa zeitgleich mit der „modernen (empirischen) Psychologie“, deren Anfang in Wilhelm Wundts psychophysikalischen Experimenten ab ca. 1860 gesehen wird. Die ersten genuin psychotherapeutischen Methoden werden Sigmund Freud zugeschrieben (obwohl er auf den Arbeiten von Franz Anton Mesmer, Jean-Martin Charcot und Pierre Janet aufbaute, siehe den Artikel Die Entdeckung des Unbewussten). Freud begann Ende des 19. Jahrhunderts, sich mit psychischen Störungen zu befassen, und entwickelte aus seinen Forschungen die Psychoanalyse. Er lehrte seine Methodik und bildete im Laufe der Zeit viele Psychoanalytiker aus, die die Psychoanalyse weiterentwickelten oder zum Teil auch veränderten (u. a. Alfred Adler, Wilhelm Reich [siehe auch unter „Körperpsychotherapie“] und C. G. Jung).
  • Verhaltenstherapie: Ebenfalls am Ende des 19. Jahrhunderts entwickelte sich vor allem an amerikanischen Universitäten aus einem radikal positivistischen Standpunkt der sogenannte Behaviorismus, der spekulative Konstrukte wie z.B. „psychische Struktur“ und „psychische Dynamik“ kategorisch ablehnte. Die „Behavioristen“ (u. a. Edward Thorndike, John B. Watson und später Burrhus Frederic Skinner) entwickelten anhand von experimentell entwickelten Lerntheorien die ersten Vorläufer der Verhaltenstherapie (siehe Konditionierung). In den 1980er Jahren fand in den verhaltenstherapeutischen Instituten die sogenannte „kognitive Wende“ statt, bei der erstmals auch in der Verhaltenstherapie Introspektion, Gedanken und Emotionen stärker in die Therapie einbezogen wurden. Daraus entwickelte sich neben spezifischen Richtungen der Verhaltenstherapie (Rational Emotive Therapie nach Ellis, Kognitive Therapie nach Beck) eine insgesamt erweiterte Verhaltenstherapie.
  • Klientenzentrierte Psychotherapie: Bereits 1938 begann der amerikanische Psychologe Carl Rogers in seinen Psychotherapien die sogenannte Klientenzentrierte Psychotherapie zu praktizieren (die auch vielfach zu den humanistischen Psychotherapieverfahren gezählt wird). Im deutschsprachigen Raum wurde die Gesprächspsychotherapie, wie sie auch genannt wurde, vor allem durch das Ehepaar Reinhard und Annemarie Tausch bekannt.
  • Humanistische Psychotherapie, Gestalttherapie und Körperpsychotherapie: Im Jahr 1951 begründeten Fritz und Laura Perls und Paul Goodman die eher hermeneutisch-phänomenologisch orientierte und auf eine Förderung der Selbstwahrnehmung und Aufmerksamkeit des Patienten sich selbst gegenüber (im Engl.:„awareness“) abzielende Gestalttherapie. Diesem und nachfolgend entwickelten Therapieverfahren gemeinsam ist ein Menschenbild, das die Annahme auch „innerpsychischer“ oder unbewusster Prozesse beinhaltet. Sie gründen sich auf der sog. „humanistischen Psychologie“. Diese bemüht sich, in ihre Theorien den Menschen als ganzes einzubeziehen, sieht ihn als Beziehungswesen sowie als für sich selbst verantwortliches und entscheidendes Individuum. Aus diesem Grund ist das Ziel aller humanistischen Psychotherapien, das „gute Wesen“ des Menschen zu fördern. Eine Weiterentwicklung dieses Ansatzes besteht in der Einbeziehung des Körpers in die Diagnose und den psychotherapeutischen Prozess, wie sie schon der Psychoanalytiker Wilhelm Reich praktizierte. Modernste neurologische Forschungen (Spiegelneuronen, Damasio) erhärten diesen Ansatz der Körperpsychotherapie.
  • Systemische Therapie: Etwa parallel zur Entwicklung des Behaviourismus forschten Psychotherapeuten und auch Sozialpädagogen weltweit an den Zusammenhängen zwischen psychischen Störungen und familiären Bedingungen. Vor allem in der Behandlung der Schizophrenien wurde in den 1960er Jahren in unterschiedlichen Instituten an familientherapeutischen oder „systemischen“ Konzepten gearbeitet. Hieraus entwickelte sich die Systemische Therapie und Familientherapie, mit ihren unterschiedlichen Ausprägungen (Strukturelle oder Strategische Familientherapie, Mehrgenerationenfamilientherapie, Lösungsorientierte Therapie). Der gemeinsame Nenner der Systemischen Therapien liegt in der Annahme, Psychische Probleme entstünden als Symptom in größeren menschlichen Systemen (z. B. Familien) und seien am einfachsten auch in diesem Zusammenhang versteh- und veränderbar, auch wenn Einzelpersonen (Indexpatienten) als „Symptomträger“ auftreten. Inzwischen werden systemische Therapien sowohl als eigenständige Behandlungsmethode gelehrt, als auch in andere Therapieformen integriert. So gibt es sowohl tiefenpsychologische als auch humanistische als auch verhaltenstherapeutische Formen der Familientherapie.
  • Neuere Entwicklungen: In den 1980er Jahren entstanden mehrere neue Therapieverfahren, vor allem für die Behandlung von Ängsten und traumatischen Erinnerungen (z. B. EMDR nach Shapiro und Somatic Experiencing nach Levine). Zum Teil beruhen diese Methoden, die meist der Körperpsychotherapie zugeordnet werden, auf dem Bemühen, die „Achtsamkeit“ (im engl. Sprachgebrauch: „Awareness“, vgl. Gestalttherapie) des Klienten auf seine emotionalen und körperlichen Reaktionen zu stärken, zum Teil – unter anderem beeinflusst durch asiatische Philosophien (Zen Buddhismus, Traditionelle Chinesische Medizin [="TCM"]) – arbeiten sie mit der Annahme eines „Energiesystems“ im menschlichen Körper (die sogenannte „Energetische Psychologie“), und zum anderen nutzen sie neuere Erkenntnisse der bildgebenden Neurophysiologie, um psychotherapeutische Veränderungen zu erleichtern. Diese neuen Therapieverfahren sind teilweise wissenschaftlich noch nicht abgesichert und teilweise umstritten.

Psychotherapie in der DDR

Die Anfänge bis in die 50er Jahre waren im Wesentlichen von sowjetischer Psychotherapie beeinflusst, die vorwiegend mit suggestiven und Entspannungsmethoden wie Hypnose oder Autogenem Training arbeitete, und blieb der Psychiatrie untergeordnet.[1] Die Gesprächstherapien gewannen an Universitäten den größten Einfluss. 1978 war es Ärzten möglich, einen „zweiten Facharzt“ im Fachbereich Psychotherapie zu erwerben. Eine methodische und standardisierte Weiterbildung gab es bis 1985 nicht. Die einzige Weiterbildungsmöglichkeit bestand in der klinischen Erfahrung. Da die Psychotherapeuten oft in Kliniken angestellt waren, kam eine Spezialisierung in der Regel zu kurz. Später, in den 1980er Jahren, fanden vermehrt Einzelsitzungen und die Therapie auch außerhalb der Kliniken statt. Die Psychotherapie etablierte sich zunehmend und wurde von Psychologen übernommen, die nicht in erster Linie Mediziner waren. 1989 wurde der „Facharzt für Psychotherapie“ anerkannt.[1]

Die meisten der in der DDR tätigen Psychotherapeuten bezeichnen sich selber als der DDR gegenüber als „kritisch“ eingestellt, machen eine „gegnerische Haltung“ geltend oder bezeichnen sich als Verfolgte, und streiten ab, mit dem Staat zusammengearbeitet zu haben. Dennoch kann ausgeschlossen werden, dass eine freie Berufs- und Forschungsausübung ohne „Gegenleistung“ erfolgte. Aus den zugänglichen Stasiakten geht hervor, dass führende Psychotherapeuten in der DDR als informelle Mitarbeiter für die Stasi tätig waren und unter Missachtung ihrer beruflichen Schweigepflicht ihre Patienten wie auch Kollegen aushorchten um diese Informationen dem Staat weiterzugeben. Bislang ist das Ausmaß der Verstrickung der Psychotherapeuten der DDR mit der Stasi unklar..[2]

Siehe auch

Literatur

Einzelnachweise

  1. a b Inge Frohburg: Vergessene Daten - Zur Entwicklung der Psychotherapie in der DDR. Psychotherapeuten Journal 3/2004.
  2. Dr. phil. Marion Sonnenmoser: Psychotherapie in der DDR: Versunkene Welt. Deutsches Ärzteblatt, Ausgabe März 2009, Seite 115.

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