Grenzgang Biedenkopf

Grenzgang Biedenkopf
Ansichtskarte vom Grenzgang in Biedenkopf 1900
Werbung für den Grenzgang 1907, Federzeichnung von Otto Ubbelohde

Der Grenzgang in Biedenkopf ist ein historisches Heimatfest, welches alle sieben Jahre in der mittelhessischen Kleinstadt Biedenkopf stattfindet. Die Stadtgrenze wird an drei Tagen im August (zuletzt 2005) von den Bewohnern und ihren Gästen kollektiv erwandert. Sie führt durch die Wälder des Rothaargebirges und das Lahn-Tal.

Inhaltsverzeichnis

Geschichte

Grenzgangs-Zimmer im Hinterlandmuseum

Im Mittelalter (urkundlich 1693 erstmals erwähnt) kam es zwischen der Stadt und ihren Nachbargemeinden immer wieder zu Grenzstreitigkeiten um die zahlreichen Waldungen. Gelegentlich wurden dabei die Grenzmarkierungen zu Ungunsten der Stadt versetzt. Um die korrekte Lage dieser Markierungen zu überprüfen, fand daher alle sieben Jahre eine Grenzbegehung statt. Neben den Bürgern der Stadt waren auch die Verantwortlichen der Nachbargemeinden zugegen, um Unstimmigkeiten direkt vor Ort klären zu können.

Nachdem im 18. Jahrhundert die Markierungen durch schwere Grenzsteine ersetzt und im 19. Jahrhundert Kataster entstanden waren, verlor die Grenzbegehung ihren eigentlichen Zweck, wandelte sich aber ab 1839 zu einem in der Region beliebten Volksfest. Weitere Feste folgten in den Jahren 1848, 1857 und 1864. Wegen einer Missernte wurde der im Jahre 1871 geplante Grenzgang auf 1872 verschoben. Im Jahre 1879 fand aus mangelndem Interesse kein Grenzgang statt. Aufgrund des Einsatzes engagierter Bürger, die 1881 ein Grenzgangs-Komitee gründeten, wurde der Grenzgang 1886 wieder durchgeführt. Aus diesem Jahr stammt die Stadtfahne. Seither sollte der 7-jährige Turnus eingehalten werden, sofern nicht Krieg oder wirtschaftliche Not einer Durchführung widersprachen. Aber schon der nächste Grenzgang musste wegen einer erneuten Missernte von 1893 auf 1894 verschoben werden. Dem folgten die Grenzgänge 1900 und 1907. Der Beginn des Ersten Weltkriegs verhinderte den Grenzgang 1914. Wegen der Inflation und den daraus resultierenden wirtschaftlichen Probleme musste auch der Grenzgang 1921 abgesagt werden. 1928 und 1935 fanden wieder Grenzgänge statt. Aufgrund des Zweiten Weltkrieges entfiel der Grenzgang 1942. Der Grenzgang 1949 musste wegen der zuvor erfolgten Währungsreform und der noch anhaltenden wirtschaftlichen Probleme der Nachkriegszeit auf 1950 verschoben werden. Aus diesem ersten Grenzgang nach dem Zweiten Weltkrieg stammt das seither beliebte Grenzgangslied, das mit der Zeile beginnt „Aus Traum und Nacht, ist unser Grenzgang erwacht“. Dem 7-jährigen Turnus folgend fand der nächste Grenzgang 1956 statt. Seither konnte dieser Turnus ungebrochen beibehalten werden; es folgten Grenzgänge in den Jahren 1963, 1970, 1977, 1984, 1991, 1998 und 2005.

Der Grenzgang findet jeweils am dritten August-Wochenende statt; daher ist das nächste Grenzgangsfest für den 16.–18. August 2012 geplant.

Das Grenzgangs-Zimmer im Hinterlandmuseum bietet einen Einblick in die Geschichte des Grenzgangs in Biedenkopf.

Vorbereitungen

Gegen Ende des Vorjahres eines Grenzgangs findet eine Mitgliederversammlung des Grenzgangsvereins statt, in der darüber entschieden wird, ob der Grenzgang „'naus geht“. Nach Ostern des Grenzgangsjahres ruft das Grenzgangskomitee dazu auf, Männergesellschaften und Burschenschaften zu bilden. Faktisch werden selten neue Gesellschaften gebildet, sondern die von vorherigen Grenzgängen bestehenden Gesellschaften beginnen damit, sich regelmäßig in ihren Stammlokalen zusammen zu finden, um sich für das bevorstehende Fest zu rüsten. Sie wählen ihre Führer; dabei richtet sich die Anzahl der Führer nach der Gesamtzahl der Männer bzw. Burschen: pro 30 Mitgliedern wird ein Führer gewählt. Weiterhin werden Schriftführer, Rechner und Fahnenträger gewählt und Reiter benannt. Weitere auszufüllende Rollen sind meist Damen- bzw. Mädchen-Führer, Fassmeister und Platzwart. In Versammlungen der Männer- und Burschenführer, der Reiter und des Komitees werden die Offiziellen gewählt: Bürgeroberst, Männerhauptmann, Burschenoberst, Burschenhauptmann, Mohr und Wettläufer.

Die Männergesellschaften sind nach Stadtteilen bzw. Straßen benannt. Die Zugehörigkeit eines Bürgers zu einer Männergesellschaft richtet sich im Allgemeinen nach seinem Wohnsitz. Zum Teil trifft das auch für die Burschen und Burschenschaften zu, traditionell ist diese Zuordnung aber freier.

Die Versammlungen der Gesellschaften verlaufen meist recht humorvoll. Anlässe unterschiedlicher Art werden genutzt, um die Kassen der Gesellschaften zu füllen. Ziel dabei ist, dass während der Grenzgangstage die Bürger und Burschen für die notwendige Getränkeversorgung nicht zahlen müssen.

Ein Höhepunkt in der Vorbereitungszeit der Gesellschaften stellt die „Schleifenüberreichung“ dar. In einer gemeinsamen Veranstaltung von Bürgern und Frauen bzw. Burschen und Mädchen wird in festlicher Atmosphäre eine von den Frauen bzw. Mädchen erstellte „Schleife“ an die Fahne der Gesellschaft angebracht. Diese „Schleife“ ist meist ein textiler, streifenförmiger, kunstvoll bestickter Wimpel. Damit wird die Verbundenheit der Frauen zu der Männergesellschft bzw. der Mädchen zu „ihrer“ Burschenschaft bekundet.

Bei einem „Musikreiten“ werden die Pferde der Offiziere an ungewohnte Klänge der Musikkapellen und das Peitschenknallen der Wettläufer gewöhnt.

In den letzten Tagen vor dem Grenzgangsfest wird die Stadt geschmückt. Unter anderem werden Girlanden aus Fichtenlaub gebunden und in den Straßen und an den Häusern angebracht.

Das Finale der Vorbereitungszeit findet am Vorabend des ersten Grenzgangstags statt, dem sogenannten „Kommers“. Am Mittwochabend findet man sich am Marktplatz und in den umliegenden Straßen ein, um in zwangloser Atmosphäre erste Begegnungen mit angereisten Besuchern und Musikkapellen zu machen.

Verlauf

Die Stadtgrenze Biedenkopfs wird an drei Tagen abgegangen. An jedem Tag wird am frühen Morgen die Bevölkerung der Stadt durch Böllerschüsse vom Schloßberg geweckt. Die Männergesellschaften und Burschenschaften werden unter Musikbegleitung aus ihren Stadtteilen zur Aufstellung auf den Marktplatz geführt. Am ersten Tag finden dort Ansprachen und eine Totenehrung statt. Ansonsten gleichen sich die Rituale an den drei Tagen: Die Gesellschaften mit ihren Führern und Reitern formieren sich auf dem Marktplatz, die Führer melden die Anzahl der erschienen Bürger und Burschen ihren Hauptmännern, die wiederum den Obersten die Gesamtzahl der erschienen Bürger und Burschen melden. Nach dem Kommando „Grenzgang Marsch!“ formiert sich ein Zug aller Beteiligten zum Beginn der Stadtgrenze. Der Zug wird angeführt von den den Sappeuren, der Stadtfahne, dem Bürgeroberst, sowie dem Mohren und den zwei Wettläufern. Dem folgen die Männergesellschaften und die Burschenschaften mit ihren Reitern und Führern. Der Zug führt aus der Stadtmitte zum Einstieg eines Grenzabschnitts. An den ersten beiden Tagen wird die Grenze links der Lahn begangen, am dritten Tag die Grenze rechts der Lahn. Inmitten der Grenzbegehung findet eine Rast auf einem Frühstücksplatz im Wald statt. Während eines zweistündigen Aufenthalts feiern dort die Gesellschaften und heißen ihre Gäste willkommen, in dem sie die Gäste „unter die Fahne“ nehmen – sie werden durch „Stemmkommandos“ unter Fahnenschwenken dreimalig in die Luft geworfen. Gäste, die noch unvertraut mit dem Grenzverlauf sind, wenden sich an den Mohr und die zwei Wettläufer; sie werden „gehuppcht“ – sie erleben eine sinnliche Erfahrung dadurch, dass ihr Gesäß dreimalig mit einem Grenzstein Kontakt aufnimmt, mit den Worten „Der Stein – Die Grenze – In Ewigkeit“. Nach der Rast setzt sich der Zug der Grenzgänger erneut in Bewegung, um den restlichen Grenzabschnitt zu begehen. Der Zug endet zum frühen Nachmittag am Ausgangspunkt der Grenzbegehung, der Stadtmitte. Am späteren Nachmittag findet erneut eine Aufstellung am Marktplatz statt. Daraufhin findet ein Festumzug zum Festplatz statt; im Festzelt klingt der Tag aus.

Mitwirkende

Der Grenzgang in Biedenkopf wird von einer Reihe von Mitwirkenden getragen:

  • Der Bürgeroberst vertritt die Bürgerschaft der Stadt und ist oberster Repräsentant des Grenzgangs. Er führt den Grenzgang zu Pferde an und wird von zwei Adjutanten zu Pferde begleitet.
  • Der Männerhauptmann repräsentiert die Männergesellschaften, er wird von einem Adjutanten assistiert und vertritt den Bürgeroberst auf der Grenze, wenn dieser nicht präsent sein kann, denn zu Pferde ist sind nur Teile der Grenze passierbar.
  • Der Burschenoberst repräsentiert alle Burschenschaften. Er und seine beiden Adjutanten sind zu Pferde.
  • Der Burschenhauptmann vertritt den Burschenoberst zu Fuße. Er wird assistiert von einem Adjutanten.
  • Die beiden Sappeure tragen eine Waldarbeiter-Kleidung und eine Axt; sie repräsentieren die Waldarbeiter, die dafür sorgen, dass der Weg des Grenzverlaufs frei geschnitten ist.
  • Die drei Stadtfahnenträger tragen die Stadtfahne.
  • Der Mohr ist eine Symbolfigur und eine der illustresten Figuren des Grenzgangs. Er trägt eine schwarze Uniform mit Goldknöpfen, schwingt einen (Krumm-)Säbel und bewegt sich gerne tänzelnd. Sein Gesicht ist geschwärzt, ein Vollbart ist obligatorisch. Man sagt ihm nach, dass er dazu diente, neidvolle Anrainer zu erschrecken und zu vertreiben, belegt ist das aber nicht. Heutzutage gilt es als Ehre, vom Mohr kontaktiert zu werden und schwarze Spuren dieses Kontakts im Gesicht zu tragen.
  • Die beiden Wettläufer sind zusammen mit dem Mohr weitere Symbolfiguren und werden mit diesem gerne als Trio wahrgenommen. Sie tragen weiße Hosen und Wende-Westen, deren blaue Seite morgens und rote Seite nachmittags nach außen getragen werden. Ihre Rolle besteht im Wesentlichen darin, während der Grenzbegehung für Nachrichtenübermittlung zwischen den Offizieren und zur Einhaltung der Grenzbegehung zu sorgen. Ihre Peitschen nutzen sie darüber hinaus zu eindrucksvollen Vorführungen des Peitschenknallens.
  • In den Männergesellschaften organisieren sich verheiratete Männer.
  • In den Burschenschaften organisieren sich unverheiratete und zumeist junge Männer.
  • Alle Aktivisten des Grenzgangs sind im Grenzgangsverein organisiert.
  • Der Vorstand des Grenzgangsvereins bildet das Komitee.

Mädchen unterstützen Burschenschaften, verheiratete Frauen unterstützen Männergesellschaften.

Literatur

  • Wilhelm Mauß: Der Grenzgang zu Biedenkopf – Ein altes historisches Fest. Max Stephani, Biedenkopf 1907.
  • Günther Bäumner: Das Biedenkopfer Grenzgangsfest in seiner geschichtlichen Grundlage und Entwicklung. Biedenkopf 1956.
  • Günther Bäumner: Grenzgang in Biedenkopf – Ursprung, Entwicklung und Ablauf des historischen Heimatfestes. 2. Auflage 1986.

Der Grenzgang in Biedenkopf war Vorlage für den Handlungsrahmen des Romans Grenzgang von Stephan Thome.[1]

Einzelnachweise

  1. Stephan Thome: Grenzgang. Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2009, ISBN 978-3-518-42116-1.

Weblinks

Siehe auch


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