Castoriadis

Castoriadis

Cornelius Castoriadis (griechisch Κορνήλιος Καστοριάδης - Kornílios Kastoriádis; * 11. März 1922 in Konstantinopel (ab 1930: Istanbul); † 26. Dezember 1997 in Paris) war ein französischer Sozialphilosoph, Wirtschaftswissenschaftler, Psychoanalytiker, Jurist, Widerstandskämpfer und revolutionärer Sozialist griechischer Herkunft.

Inhaltsverzeichnis

Biografie

Titelblätter dreier Ausgaben von Socialisme ou Barbarie aus den 1950er Jahren

Castoriadis studierte Rechtswissenschaften, Philosophie und Wirtschaftswissenschaften in Athen. Während des Zweiten Weltkrieges beteiligte er sich innerhalb der internationalistischen Fraktion der Trotzkisten am griechischen Widerstand gegen den Faschismus. Trotzdem agitierte er gleichzeitig gegen den bewaffneten Widerstand der ELAS, die während der Besatzungszeit den Großteil der griechischen Linken einte und mit Abstand der wichtigste Faktor im Kampf gegen die Besatzung war. Die ELAS verwarf er trotz ihrer Vielschichtigkeit und der Koexistenz verschiedener marxistischer Strömungen auch in der Führungsebene als "stalinistisch", womit sich für ihn eine Zusammenarbeit verbot. Nach 1945 ging er nach Frankreich, wo er mit Claude Lefort die Gruppe Socialisme ou barbarie gründete. Diese Gruppe war geprägt durch eine Kritik am Stalinismus, die über den Trotzkismus hinaus gehen wollte; sie ging aus einer Spaltung der trotzkistischen Partei Frankreichs hervor. Socialisme ou Barbarie griff Elemente des Rätekommunismus auf. Sie betonte die autonome Aktion der Arbeiterklasse. Demzufolge sah man in den Arbeiteraufständen in Ost-Berlin 1953 oder des Ungarn-Aufstandes 1956 keine konterrevolutionäre Aktionen.

Es kam zu mehreren Spaltungen; als Castoriadis zu einer Kritik des Marx' schen Denkens überging und erklärte der Marxismus sei unvereinbar mit einer revolutionären Theorie[1], trug dies zur Auflösung der Gruppe bei.

Castoriadis wandte sich zunehmend der Psychoanalyse zu und war von 1973 bis zu seinem Tod als Analytiker tätig. 1975 heiratete er die Psychiaterin und Psychoanalytikerin Piera Aulagnier (1923-1990), die Ehe wurde 1984 wieder geschieden. Seit 1980 lehrte er als "Directeur d'études" (Professor) an der "École des hautes études en sciences sociales" in Paris im Rahmen des PhD-Programms "Philosophie und Sozialwissenschaften" (neben Louis Marin und Jacques Derrida).

Zentrales Werk

Das wichtigste Werk Castoriadis' ist wohl das 1975 erschienene "Gesellschaft als imaginäre Institution. Entwurf einer politischen Philosophie" (deutsch 1984), dessen Inhalt auch mit Castoriadis' Tätigkeit in Socialisme ou Barbarie in Zusammenhang steht.

Zentral ist die Interpretation der "revolutionären Praxis" im Werk von Castoriadis, die fast als prototypisch für das Theorie-Praxis-Verhältnis sozialistischer Theorien zu Lebzeiten Castoriadis gelten kann. Zum adäquaten Verstehen seiner Konzeption einer revolutionären Praxis müssen andere Aspekte beachtet werden, z.B. seine Kritik an Marx, am Kommunismus und Sozialismus, an einer deterministischen Geschichtsphilosophie (und Philosophie allgemein), sowie an der Bürokratie. Darüber hinaus ist seine spezielle Betonung des Alltäglichen, der Autonomie, sein Verständnis von Dialektik und das Verhältnis von Theorie und Praxis zu berücksichtigen.

Die Vertiefung seiner philosophischen Arbeit im Zuge der Seminare an der EHESS stand im Zeichen der Magmalogik, die er in Anlehnung an Bourbaki als eine neue Art der Ontologie entwickelt. Dabei geht er nicht nur von der Mengen- und Identitätslogik der Bestimmbarkeit aus, sondern auch von der radikalen Unbestimmbarkeit des Seins, die er in der Philosophiegeschichte bis in den antiken Apeiron- und Chaos-Begriff zurückverfolgt, deren beständige Verschüttung unter den Zwang der Identitäts- und Mengenlogik er aber ebenso einer teils psychoanalytisch-philosophiehistorischen Analyse unterzieht. Die Magmalogik besagt genauer, dass Sein Magma ist, und dass es überall dicht ist: Ein Magma ist das, worin (und woraus) sich unbegrenzt identitätslogische Mengen bestimmen lassen; als Residuum bleibt jedoch immer ein Magma zurück...

Die Magmalogik steht in einem begrifflichen Zusammenhang mit der ontologischen, das heißt mit der (kulturell und gesellschaftlich) seinskonstitutiven Relevanz des Imaginären. Castoriadis hat diesen Begriff zwar im Anschluss an Lacan, aber zugleich auch in Abgrenzung zu ihm für die Kulturtheorie revolutioniert. Er tat dies, indem er ihn als "gesellschaftliches Imaginäres" konzipierte und ausdifferenzierte. Dieser Begriff wurde rasch von den französischsprachigen SozialwissenschafterInnen verwendet und angewandt, allen voran von den "HistorikerInnen des Imaginären" wie Georges Duby, Jacques Le Goff, Nicole Loraux, Michelle Perrot oder Pierre Vidal-Naquet.

Obschon Jürgen Habermas und Bernhard Waldenfels bereits in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts auf die herausragende Bedeutung des Werks von Castoriadis verwiesen hatten, wird außerhalb des französischsprachigen Raums seine Tragweite erst allmählich erkannt. Simon Critchleys 1998 erschienenes Buch "A Companion to Continental Philosophy" enthält immerhin einen Beitrag zu Castoriadis. Bislang noch unaufgearbeitete philosophiehistorische Aspekte betreffen die Verbindungen zu Ernst Cassirer oder anderen neokantianischen Denkern wie Hans Kelsen.

Zitate

  • "Wenn soviele Menschen ein oberflächliches Interesse für falsche Propheten zeigen, wieviel besser wäre es, diesem wahren Denker wirkliche Beachtung zu schenken." Nicolas Walter, in: "FREEDOM. Anarchist Fortnightly" 15. August 1998.

Werke

  • (mit Cyril Lionel Robert James und Grace Lee Boggs): Facing Reality: The New Society: Where to Look for It & How to Bring It Closer, 1958, Neuausgabe: ak press, 2006, ISBN 978-0-88286-308-5
  • Paul Cardan (d.i. Cornelius Castoriadis): Arbeiterräte und selbstverwaltete Gesellschaft. Frankfurt/Hamburg 1974, ISBN 3-8015-0118-3
  • Sozialismus oder Barbarei. Analysen und Aufrufe zur kulturrevolutionären Veränderung. Berlin 1980, ISBN 3-8031-1086-6
  • Gesellschaft als imaginäre Institution. Entwurf einer politischen Philosophie. Frankfurt 1984, ISBN 3-518-57648-8 (TB-Ausgabe Frankfurt 1990).
  • Durchs Labyrinth. Seele, Vernunft, Gesellschaft. Frankfurt 1981 (TB-Ausgabe Frankfurt 1983, ISBN 3-518-28035-X
  • Mai 68. Die vorweggenommene Revolution. (Hg.: M. Halfbrodt, H. Wolf) Verlag Syndikat A, Moers (April) 2009.
  • Ulrich Rödel (Hg.:) Autonome Gesellschaft und libertäre Demokratie. Darin folgende Aufsätze von Castoriadis: Das Gebot der Revolution (Seite 54 ff); Die griechische Polis und die Schaffung der Demokratie (Seite 298 ff.); Sozialismus und autonome Gesellschaft (Seite 329 ff.). Frankfurt 1990, ISBN 3-518-11573-1
  • Alice Pechriggl und Karl Reitter: Die Institution des Imaginären. Zur Philosophie von Cornelius Castoriadis. Darin von Castoriadis: Der Zustand des Subjekts heute. (Seite 11 ff.) Wien/Berlin 1991, ISBN 3-85132-015-8.
  • Institut für Sozialforschung (Hg.:) Kritik und Utopie im Werk von Herbert Marcuse. Darin: Castoriadis: Die Krise des Marxismus und die Krise der Politik. (Seite 51 ff.) Frankfurt 1992, ISBN 3-518-28637-4
  • Cornelius Castoriadis: Die „Rationalität“ des Kapitalismus. In: ARCHIV des Widerstandes und der Arbeit. Nr. 16, Seite 425 ff.; (darin weitere Beiträge zu/von Mitgliedern der Socialisme ou Barbarie Gruppe, wie A. Gabler, C. Lefort, D. Mothé, H. Simon, D. Blanchard) Germinal Verlag 2001, ISBN 3-88663-416-7.
  • David Ames Curtis (Hg.): The Castoriadis Reader. Blackwell Publishers, Oxford 1997, ISBN 1-55786-704-6 (engl.)
  • Cornelius Castoriadis: World in Fragments. Writings on Politics, Society, Psychoanalysis, and the Imagination. Stanford University Press 1997 (engl.)
  • Cornelius Castoriadis: Philosophy, Politics, Autonomy.. Oxford University Press, New York/Oxford 1991 (engl.)
  • Cornelius Castoriadis: Political and Social Writings, Volume 1-3. Vol. 1 (1946-1955); Vol. 2 (1955-1960); Vol. 3 (1961-1979). University of Minnesota Press, Minneapolis/London 1988/1993 (engl.)
  • Le Contenu du Socialisme. Paris 1979 (franz.)
  • La Brèche: vingt ans après. (Réédition du livre de 1968 complété par de nouveaux textes). Paris 1988.
  • Cornelius Castoriadis: L'IMAGINAIRE COMME TEL, Hermann, 2008, ISBN 978-2-7056-6741-2

Ausgewählte Schriften

  • Band 1: Autonomie oder Barbarei. Ausgewählte Schriften. (Hg.: Harald Wolf/Michael Halfbrodt), Verlag Edition AV, Lich/Hessen 2006, ISBN 3-936049-67-X. Inhalt [1]
  • Band 2.1: Vom Sozialismus zur autonomen Gesellschaft. Über den Inhalt des Sozialismus. Ausgewählte Werke, Verlag Edition AV, Lich/Hessen 2007, ISBN 978-3-936049-88-6.[2]
  • Band 2.2: "Vom Sozialismus zur autonomen Gesellschaft. Gesellschaftskritik und Politik nach Marx". Ausgewählte Schriften, Verlag Edition AV, Lich (Hessen), 2008. ISBN 978-3-86841-002-0.

Sekundärliteratur

  • Ingrid Gilcher-Holtey: Die Phantasie an die Macht. Mai '68 in Frankreich. (insbes. Seite 48 ff.) Suhrkamp, Frankfurt 1995.
  • Jürgen Habermas: Der philosophische Diskurs der Moderne. Seite 380 ff.: Exkurs zu Castoriadis: 'Die Imaginäre Institution'. Frankfurt 1985.
  • Stephen Hastings-King: Über den Durchgang einiger Personen durch eine ziemlich kurze Zeiteinheit: Die Situationistische Internationale, Socialisme ou Barbarie und die Krise des marxistischen Imaginären. In: Roberto Ohrt (Hg.): Das Große Spiel. Die Situationisten zwischen Politik und Kunst. Edition Nautilus, Hamburg 2000.
  • Axel Honneth: Eine ontologische Rettung der Revolution. Zur Gesellschaftstheorie von Cornelius Castoriadis. In: Merkur. Heft 439/440, 1985
  • Hans Joas und Wolfgang Knöbl: Sozialtheorie. Zwanzig einführende Vorlesungen., darin: 16te Vorlesung 'Französische Anti-Strukturalisten (Cornelius Castoriadis, Alain Touraine, Paul Ricoeur)'. insbes. Seite 558-579. Frankfurt 2004.
  • Alice Pechriggl u. Karl Reitter (Hg.): Die Institution des Imaginären. Zur Philosophie von Cornélius Castoriadis. Turia & Kant, Wien u. Berlin 1991. ISBN 978-3-85132-015-2
  • Harald Wolf: Die Revolution neu beginnen. Über Cornelius Castoriadis und 'Socialisme ou Barbarie'. in: ARCHIV für die Geschichte des Widerstandes und der Arbeit Nr. 15 (Hg.: Wolfgang Braunschädel/Bochum) (Seite 69 ff.). Im selben Band: Castoriadis: Die Frage der Geschichte der Arbeiterbewegung. Seite 15 ff. Germinal Verlag, Fernwald 1998, ISBN 3-88663-415-9 ISSN 06936-1014.
  • Michael Sommer / Dieter Wolf: Imaginäre Bedeutungen und historische Schranken der Erkenntnis. Eine Kritik an Cornelius Castoriadis. Hamburg 2008, Argument Verlag. ISBN 978-3-88619-344-8

Einzelnachweise

  1. CARDAN, Paul: Marxisme et théorie révolutionnaire, NO. 36 (AVRIL-JUIN 1964), pp. 1-25

Weblinks


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