Historische Klimatologie

Historische Klimatologie

Die Historische Klimatologie befasst sich mit der Wirkung des Klimas und seiner Veränderungen auf historische Gesellschaften. Dabei stehen neben der Rekonstruktion historischer Klimaverhältnisse, die Suche nach dem gesellschaftlichen Einfluss langsamer Klimaveränderungen und klimatisch bedingter Extremereignisse sowie eine Kulturgeschichte des Klimas im Mittelpunkt, die eine Wissenschafts- und Wahrnehmungsgeschichte einschließt. Dies geschieht vielfach unter der weiter gefassten Perspektive einer Umweltgeschichte.[1]

Lange Zeit war sie am Rande der Sozial- und Mentalitätsgeschichte angesiedelt und unterlag dem Vorwurf des Umweltdeterminismus. Seit der Debatte um den Klimawandel erfreut sich die Klimageschichte steigenden wissenschaftlichen und öffentlichen Interesses, doch es bestanden gravierende methodische Probleme. Zunächst sollten seit den 1990er Jahren Witterungsverläufe, Klimaparameter, Großwetterlagen und Naturkatastrophen für die Zeit vor der Errichtung staatlicher Messnetze erstellt werden, hinzu kommt die von diesen Veränderungen (mit-)erzeugten Gesellschaftsveränderungen. Die Historische Klimatologie fußt auf Datenerhebungen unterschiedlicher Teildisziplinen, die aus den „Archiven der Gesellschaft und der Natur“ stammen (Pfister, 16). So liefern letztere aus Eisbohrkernen, aus Mooren, Seesedimenten, Pollen oder Baumringen Zeitreihen. Erstere hingegen liefern erheblich stärker zu überprüfende Angaben, wobei serielle Quellen, wie etwa Aufzeichnungen über den jährlichen Beginn der Weinlese, bevorzugt werden.

Die Variabilität des Klimas wurde erst ab dem späten 18. Jahrhundert erstmals vermutet und durch Autoren wie Louis Agassiz zum Allgemeingut. Nur so konnte man die Spuren der Eiszeiten erklären und langfristige Klimaveränderungen aufzeigen. Kurzfristige Änderungen in historischer Zeit hingegen wurden erst durch die bahnbrechenden Arbeiten von Hubert Horace Lamb, Emmanuel Le Roy Ladurie oder Christian Pfister deutlich. Insbesondere bei der erst in den 1960er Jahren einsetzenden Forschung sind dabei beachtliche Fortschritte gemacht worden. Zunächst wurden Wellen ausgemacht, die in Begriffen wie römisches Klimaoptimum oder mittelalterliche Warmperiode fassbar wurden. Noch 1963 wurde in den Studi Medievali jedoch vermerkt, die Historische Klimatologie stecke noch in den Kinderschuhen.[2] Einen Wendepunkt stellte die Konferenz Climate in History in Norwich 1979 dar.

Die Kleine Eiszeit, eine Kälteperiode zwischen 1300 und 1850, wurde besonders intensiv beforscht[3], der schwedische Wirtschaftshistoriker Gustav Utterström hatte sie in die Wissenschaft eingeführt. Nur für diese Epoche lassen sich im gesamten Holozän Gletschervorstöße global nachweisen. In den Alpen verschwanden Dörfer, der Weinbau verschwand aus Pommern, Ostpreußen, Schottland oder Norwegen, die Olivenbäume in der Toskana erfroren. Parallel oder durch die Industrialisierung, die den „unterirdischen Wald“[4] verbrannte, um Bewegungsenergie und Wärme zu gewinnen, also fossile Brennstoffe, erwärmte sich das Klima wieder. Um 1840 entsprach das energetische Äquivalent der in Großbritannien verfeuerten Steinkohle einem so gedachten Wald von der Fläche des gesamten Landes. Der Nobelpreisträger für Chemie Paul J. Crutzen schlug daher vor, die geologische Epoche des Holozäns mit dem Beginn der Industrialisierung enden zu lassen und ab diesem Zeitpunkt von einem „Anthropozän“ zu sprechen.[5]

Seither ließen sich für die Zeit ab etwa 1500 sogar die räumlichen Verläufe einzelner Großwetterlagen nachzeichnen; hingegen sind weder Rekonstruktionsversuche noch die Rückwirkungen der Gesellschaft in Form der sogenannten Impactforschung bis ins Mittelalter vorgedrungen. Subsistenzkrisen oder Epidemien konnten zwar nicht immer mit besonders kalten Perioden in Verbindung gebracht werden, doch an einer Vielzahl von Fällen war dies möglich. Anhand von Abrechnungen von grundherrlichem Besitz ließ sich so etwa der Einfluss des Klimas im Zusammenhang mit der Großen Europäischen Hungersnot von 1314-1317 aufzeigen.

Mitteleuropa ist so reich an schriftlichen Zeugnissen, dass für die ab etwa 1500 in ausreichender Dichte und Qualität für nahezu jeden Monat ein differenziertes Bild der thermischen und hygrischen Bedingungen erstellt werden kann. Dies gestattet die Zuordnung der Quellenaussagen zu sieben Intensitätsklassen, die für die thermischen Angaben von -3 für extrem kalt bis hin zu +3 für extrem heiß reichen. Für den Zeitraum von 1000 bis 1500 ist immerhin eine jahreszeitliche Auflösung mit mindestens drei (-1 0 1) Intensitätsklassen möglich. Glaser (2008) stellte die Ergebnisse in einer durchgängigen Reihe zusammen. Zwar beziehen sich die Indexangaben nur auf die Temperatur, doch ließen sich auch andere Witterungsangaben ausdehnen. Wollte man hiermit Rückschlüsse auf einen Klimawandel ziehen, so hätte es sein können, dass sich die unmerkliche Wahrnehmungsanpassung der Chronisten an eben diese Klimabedingungen darin spiegeln würde. Doch wenn mittel- und langfristige Klimaänderungen als Folge von Verschiebungen der Frequenz gleichgerichteter Witterungsanomalien in längeren Zeitabschnitten wahrgenommen werden, verlieren die Unsicherheiten, z.B. durch die besagte Adaption der Wahrnehmung an Bedeutung. Unter dieser Annahme genügen drei Bewertungsklassen, um in saisonaler Auflösung langfristige Schwankungen zu beschreiben. Ermittelt man, welchem durchschnittlichen Temperaturunterschied ein Indexschritt entspricht, und filtert die extremen Abweichungen heraus, so ist die Rekonstruktion von langfristigen Temperaturentwicklungen möglich. Auch ein Modell zur Regionalisierung wurde entwickelt, so dass sich auch die Klimazonen in den Verläufen widerspiegeln. Die Ergebnisse werden durch dendrochronologische Untersuchungen bestätigt. Damit verliert die Suche nach durchgängigen Zeitreihen hin zur Bestimmung glaubhafter Aussagen zu einzelnen Jahreszeiten ihre Bedeutung, denn scharfe Abweichungen reduzieren sich zu einem unspezifischen Rauschen.

Seit den 1990er Jahren hat sich der Fokus der Historischen Klimatologie von der Ermittlung und Darbietung von Mittelwerten auf Naturkatastrophen, also Extreme erweitert. Lange Zeit als kurzfristige Ereignisse von schnell vergessener Wirkung vernachlässigt, zeigten Forschungen, dass gesellschaftliche Faktoren in großem Maße die Wahrnehmung, die Verarbeitung und den Verlauf von solchen Ereignissen prägen. Anthony Oliver-Smiths Untersuchung von 1999 über das katastrophale Erdbeben vom 31. Mai 1970 in Peru, das über 70.000 Menschen zu Tode brachte, zeigte, dass das Kolonialsystem Strukturen geschaffen hatte, die die Gesellschaft viel anfälliger, um nicht zu sagen hilfloser gegenüber einer solchen Katastrophe machten.[6] Weitere Studien zeigten, dass die Reaktionen der Gesellschaften auf Naturkatastrophen nicht nur naturwissenschaftlich gedeutet werden können, sondern vor allem auch kulturell und historisch. Besonders die städtische Fragilität gegenüber Extremereignissen trat dabei hervor. Auch sind die gesellschaftlichen Gruppen in unterschiedlichem Ausmaß von Erdbeben betroffen. Während sich vermögende Gruppen oftmals stabilere Bauwerke leisten können und an sichereren Stellen wohnen, leben die häufiger und härter Betroffenen meist in Armenvierteln. Städte wurden immer wieder von Erdbeben, Überschwemmungen, Stürmen und Feuern paralysiert oder im Extremfall völlig zerstört. Der Zusammenhang zwischen Stadtgeschichte bzw. Katastrophenresilienz - etwa der Entwicklung von Feuerschutz oder Erdbebensicherheit, von leicht wiederherstellbaren Strukturen - und Naturgefahr ist zwar in Einzelstudien untersucht worden, doch eine Gesamtschau bleibt bisher ein Desiderat.

Die Erinnerung an Naturkatastrophen zeigt sich vielfach in Opfergedenktafeln, in Hochwassermarken, in Publikationen zu bestimmten Jahrestagen eines Ereignisses oder in sozialen Praktiken. In Japan kommen zum Beispiel seit dem Kanto-Erdbeben vom 1. September 1923 jedes Jahr Millionen Menschen zusammen. Eine Mediengesellschaft geht darüber hinaus anders mit Katastrophen um, denn sie sind auch ein Geschäft. Über das Erdbeben in San Francisco 1906 wurden mehrere Hundert Bücher publiziert, aber auch Fotografien und dergleichen verkauft.

Literatur

  • Pierre Alexandre: Le climat au moyen Âge en Belgique et dans les régions voisines (Rhénanie, Nord de la France). Recherches critiques d'après les sources narratives et essai d'interprétation, Löwen 1976.
  • Karl-Heinz Ludwig: Eine kurze Geschichte des Klimas: Von der Entstehung der Erde bis heute, 2. Aufl., München: Beck 2007.
  • Alfred W. Crosby: Ecological Imperialism: The Biological Expansion of Europe, 900-1900, Cambridge 1986, 2. Auflage, Cambridge 2004 (deutsche Ausgabe unter dem Titel: Die Früchte des weißen Mannes. Ökologischer Imperialismus 900 - 1900, Frankfurt/New York 1991).
  • Reinhard Klessen: Einführung in die historische Klimatologie. Ergebnisse eines Projektseminares, Berlin: Geographisches Institut der Humboldt-Universität 2001.
  • Rudolf Brázdil; Christian Pfister, Heinz Wanner, Hans von Storich, Jürg Luterbacher, Historical Climatology in Europe - State of the Art, in: Climatic Change 70 (2005), S. 363-460.
  • Dirk Riemann: Methoden zur Klimarekonstruktion aus historischen Quellen am Beispiel Mitteleuropas, Dissertation, Freiburg 2010.
  • Christian Pfister: Wetternachhersage: 500 Jahre Klimavariationen und Naturkatastrophen (1496-1995), Bern 1999.
  • Wolfgang Behringer: Kulturgeschichte des Klimas: Von der Eiszeit bis zur globalen Erwärmung, München, 2007.
  • Rüdiger Glaser: Klimageschichte Mitteleuropas: 1000 Jahre Wetter, Klima, Katastrophen, Darmstadt 2001.
  • Tobias Krüger: Die Entdeckung der Eiszeiten: Internationale Rezeption und Konsequenzen für das Verständnis der Klimageschichte, Basel 2008.
  • Franz Mauelshagen: Klimageschichte der Neuzeit 1500-1900, Darmstadt 2010.
  • Christian Pfister: Klimageschichte der Schweiz, 1525-1860: Das Klima der Schweiz von 1525-1860 und seine Bedeutung in der Geschichte von Bevölkerung und Landwirtschaft, 3. durchgesehene Auflage, Bern 1988.
  • Ludwig Fischer (Hrsg.): Projektionsfläche Natur. Zum Zusammenhang von Naturbildern und gesellschaftlichen Verhältnissen, Hamburg 2004.
  • O. Wetter, C. Pfister, R. Weingartner, J. Luterbacher, T. Reist, J. Trösch: The largest floods in the High Rhine basin since 1268 assessed from documentary and instrumental evidence, in: Hydrological Sciences Journal 56,5 (2011) 733–758.
  • Rudolf Brázdil, Christian Pfister, Heinz Wanner, Hans Von Storch und Jürg Luterbacher: Historical Climatology In Europe – The State Of The Art, in: Climatic Change 70,3 (2005) 363-430.

Weblinks

  • Uwe Luebken: Undiszipliniert: Ein Forschungsbericht zur Umweltgeschichte, in: H-Soz-u-Kult, 14. Juli 2010 (online)

Anmerkungen

  1. Patrick Masius u.a. (Hrsg.): Umweltgeschichte und Umweltzukunft: Zur gesellschaftlichen Relevanz einer jungen Disziplin, Göttingen 2009.
  2. Studi medievali (1963), S. 25.
  3. So etwa Wolfgang Behringer u.a. (Hrsg.): Kulturelle Konsequenzen der ‚Kleinen Eiszeit‘, Göttingen 2005.
  4. Rolf Peter Sieferle: Der unterirdische Wald: Energiekrise und industrielle Revolution, München 1982.
  5. Paul J. Crutzen: Geology of Mankind: the Anthropocene, in: Nature 415 (3. Januar 2002), S. 23.
  6. Anthony Oliver-Smith: Peru’s Five-Hundred-Year Earthquake: Vulnerability in Historical Context, in: Ders. und Susanna M. Hoffman (Hrsg.): The Angry Earth: Disaster in Anthropological Perspective, New York 1999, S. 74-88.

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