Joachim Boldt

Joachim Boldt

Joachim Boldt (* 29. September 1954[1]) ist ein deutscher Anästhesiologe. Er galt als einer der führenden Forscher auf dem Gebiet kolloidaler Infusionslösungen, bis er des Wissenschaftsbetrugs durch Datenfälschung und Missachtung ethischer Standards verdächtigt wurde. Boldt verlor am 26. November 2010 seine Stelle als Chefarzt für Anästhesiologie und Intensivmedizin am Klinikum Ludwigshafen. Er trat aus der Deutschen Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin aus. Seine außerplanmäßige Professur wurde ihm von der Justus-Liebig-Universität Gießen aberkannt.[2]

Inhaltsverzeichnis

Leben und Wirken

Joachim Boldt studierte von 1974 bis 1975 zuerst Chemie an der Ruhr-Universität Bochum. 1975 wechselte er das Studienfach sowie die Universität und studierte bis 1980 Medizin an der Philipps-Universität Marburg. Sein Praktisches Jahr (PJ) absolvierte er 1981/1982 am Evangelischen Jung-Stilling-Krankenhaus Siegen, wo er danach seine Weiterbildung in der Abteilung für Anästhesie begann. 1982 wurde er an der Philipps-Universität Marburg promoviert. Er wechselte im gleichen Jahr als Weiterbildungsassistent an die Abteilung für Anästhesie und Operative Intensivmedizin der Universität Gießen, wo 1987 die Weiterbildung als Facharzt für Anästhesiologie und Intensivmedizin abschloss und sich an der Universität habilitierte.

Er war danach weiter als Hochschulassistent in Gießen tätig und 1990 zum Privatdozenten ernannt. 1993 verlieh ihm die Universität Gießen den Titel des außerplanmäßigen Professors. Zum 1. Januar 1996 wechselte Joachim Boldt als Chefarzt und Direktor der Klinik für Anästhesiologie und Operative Intensivmedizin an das Klinikum der Stadt Ludwigshafen.[1] 2009 stand er dem Deutschen Anästhesiecongress (DAC) in Leipzig als Kongresspräsident vor. In Ludwigshafen war er bis zum 26. November 2010 tätig. Wegen eines Wissenschaftsskandals wurde ihm die Chefarztstelle entzogen[3] und im Februar 2011 durch die Universität Gießen der Professorentitel wegen Untätigkeit in der Lehre aberkannt.[4]

Wissenschaftsskandal

Bereits 2005 hatte die Gießener Staatsanwaltschaft gegen Boldt und Kollegen wegen Datenmanipulation und illegaler Studien am Menschen mit Hydroxyethylstärke (HES) ermittelt. Der Fall machte nach einer Veröffentlichung in der Gießener Allgemeinen Zeitung bundesweit Schlagzeilen. Die Vorwürfe konnten jedoch nicht belegt werden.[5]

Rund 70 Fachartikel hatte Boldt über Hydroxyethylstärke veröffentlicht, meist mit positiver Bewertung des Medikaments.[3] Dies entspricht 0,68 % der Gesamtliteratur zu HES.[6]

Am 28. Oktober 2010 hat der Herausgeber der Zeitschrift Anesthesia & Analgesia eine Publikation Joachim Boldts zurückgezogen, die 2009 publiziert worden war.[7] Nach Zweifeln an der Korrektheit der Daten war eine wissenschaftliche Kommission zu dem Schluss gekommen, dass es keinen überzeugenden Beweis dafür gibt, dass die der Veröffentlichung zugrundeliegende Studie durchgeführt wurde.[8]

Die Herausgeber von 16 internationalen Fachzeitschriften zogen zahlreiche Veröffentlichungen Boldts zurück, nachdem eine Analyse der Landesärztekammer Rheinland-Pfalz ergeben hatte, dass bei 89 von insgesamt 102 Studien keine Genehmigung der Ethikkommissionen nachweisbar war.[9] Die Association of Surgeons of Great Britain and Ireland will daher ihre Leitlinien überprüfen[10], da sich sechs von insgesamt 142 Fußnoten in den Guidelines on Intravenous Fluid Therapy for Adult Surgical Patients (GIFTASUP) auf Arbeiten von Boldt bezogen.[11] Das Präsidium der Deutschen Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin stellte jedoch am 21. Februar 2011 in einer Stellungnahme fest, dass „der klinische Einsatz von HES gegenwärtig nicht neu bewertet werden muss“, da Boldt weder an Zulassungsstudien, noch an Untersuchungen in der Notfall- und Intensivmedizin beteiligt war.[6]

Die Bundesärztekammer hat den Abschnitt 5 der aktuellen Querschnitts-Leitlinien zur Therapie mit Blutkomponenten und Plasmaderivaten[12] zu Therapieempfehlungen mit Humanalbumin, den Boldt verfasst hatte, zur Überarbeitung zurückgezogen.[13][14]

Die Affäre um Joachim Boldt fand eine große internationale Beachtung und wurde auch als größter Wissenschaftsskandal seit dem Fall Wakefield bezeichnet.[15][16]

Schriften (Auswahl)

Einzelnachweise

  1. a b Pressemappe zum 126. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie 2009 in München
  2. Jürgen Schüttler: Freiheit und Verantwortung in der Wissenschaft – zwei Seiten einer Medaille. Anästh Intensivmed 52 (2011): 170-171, online (PDF-Dokument; 386 kB)
  3. a b Veronika Hackenbroch: Zu schön, um wahr zu sein. Spiegel Online vom 29. November 2010, online
  4. Pressemitteilung der Justus-Liebig-Universität Gießen vom 15. Februar 2011
  5. Gefälschte Studien: Joachim Boldt könnte seinen Professorentitel verlieren. Gießener Allgemeine Zeitung vom 12. Januar 2011, online
  6. a b Muss der klinische Einsatz moderner Hydroxyethylstärke-Lösungen gegenwärtig neu bewertet werden? Stellungnahme des Präsidiums der DGAI vom 21. Februar 2011. Anästh Intensivmed 52 (2011), 172-173, online (PDF-Dokument; 386 kB)
  7. J. Boldt et al.: Cardiopulmonary Bypass Priming Using a High Dose of a Balanced Hydroxyethyl Starch Versus an Albumin-Based Priming Strategy. Anesthesia & Analgesia 109 (2009), 1752-1762
  8. Informationsdienst Wissenschaft: DGAI: Wissenschaftliches Fehlverhalten in der Anästhesie inakzeptabel vom 26. November 2010
  9. Stellungnahme der Herausgeber (PDF-Dokument; 139 kB)
  10. Offener Brief der Association of Surgeons of Great Britain and Ireland
  11. Affäre Boldt: Leitlinien auf dem Prüfstand. Deutsches Ärzteblatt vom 7. März 2011, online
  12. Querschnitts-Leitlinien (BÄK) zur Therapie mit Blutkomponenten und Plasmaderivaten – 4. Auflage 2008 - herausgegeben von der Bundesärztekammer auf Empfehlung ihres Wissenschaftlichen Beirats
  13. Wissenschaftlicher Beirat: Querschnitts-Leitlinien zur Therapie mit Blutkomponenten und Plasmaderivaten - Aussetzung Kapitel 5 Humanalbumin Dtsch Arztebl 2011; 108(1-2): A-58 / B-46 / C-46
  14. Veronika Hackenbroch: Wissenschaftliches Vakuum. Spiegel Online vom 3. Januar 2011, online
  15. Heidi Blake, Holly Watt, Robert Winnett: Millions of surgery patients at risk in drug research fraud scandal. The Telegraph vom 3. März 2011
  16. ‘Unethical’ anaesthetics research is retracted. BBC News Health vom 4. März 2011

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